Geheimnisvolles Schweigen

Eine Frau verstummt und holt mit Vorliebe ungeöffnete Schachteln aus dem Keller. In Andrea Winklers Roman "Hanna und ich" vibriert Unerklärbares und Unausgesprochenes zwischen den Menschen. Dem Inhalt entspricht die Form: Die Erzählung ist ein löchriges Textgewebe, in dem die Bewegungen von Körpern das Sagen haben.
Wie bei einem Theaterstück stellt die 1972 geborene Andrea Winkler ihrem Text "Hanna und ich" die Orte und Figuren voran, für die es einen Begriff beziehungsweise Namen gibt: eine Wohnung, ein Laden, ein Platz, eine Wiese, eine Brücke sowie Herr Emm, Rio, Lea, Hanna. Sie stellen kleine Wegweiser durch ein Erzähllabyrinth dar, das die Orientierungslosigkeit zum ästhetischen Prinzip erhebt.

Im ersten der achtundzwanzig Textabschnitte heißt es:

"Wir brauchen Orte, wo die Worte wandern, die der anderen, ob im Halbschlaf gesprochen oder hellwach hinausgesagt: bitte, hör sie oder hör sie nicht."

Doch gerade die Worte sind das Problem in Winklers Text. Sie gleiten im Sprechen vorbei an der Bedeutung, die ihnen zugedacht ist. Anstatt zu benennen und im Dialog für Verständigung zu sorgen, stehen sie den Sprechenden nicht zur Verfügung und sorgen für Verwirrung.

Die Figur Hanna sitzt in ihrem kleinen Laden und weigert sich entschieden, etwas zu erzählen. In ihrem Schweigen vermutet das erzählende Ich ein Geheimnis. Denn Hanna hatte einst einen "untrüglichen Sinn für den richtigen Zeitpunkt, die richtige Handlung, das richtige Ding" und ihre Stimme konnte ein kräftiges "Hallo!" rufen.

Nun aber ist Hanna verstummt. Für das Ich ein unakzeptabler Zustand. Manchmal erhebt sich Hanna, nimmt ein verstaubtes Buch aus dem Regal und streicht sanft über den Buchrücken. Dann wieder holt Hanna Schachteln aus dem Keller, die aber nicht geöffnet werden.

Herr Emm, Rio und Lea, die von Zeit zu Zeit die Tür des Ladens öffnen, flankieren Hannas Schweigen. Auch sie steigen ins Kellergewölbe, nach C. G. Jung der symbolische Ort für das Verdrängte und Unbewusste, aber auch Undurchschaubare. Zwischen allen Figuren vibriert das Unausgesprochene und wird schließlich in kantigen Körperbewegungen aufgefangen: im Krümmen eines Fingers, im über die Stirn streichen, im abrupten Wenden des Kopfes. Nur die lautlosen Berührungen künden von vertrauter Fremdheit.

"Hanna und ich" ist ein löchriges Textgewebe, in dem die Bewegungen von Körpern das Sagen haben. Die Leerstelle ist jener Erzählraum, in dem die Autorin suchend agiert. Ein polyfones Raunen durchzieht den Text, das keiner Figur eindeutig zugeordnet werden kann. Darin ist mehrfach das Wort "Komm" zu hören.

Es erinnert an Ingeborg Bachmanns Lockruf in "Undine geht", wo die Wasserfrau ihren Grenzübertritt vom Wasser zum Land mit dem Verstummen quittiert. Bei Winkler sind es die schweigsamen Figuren, die "auf der Schwelle ausharren" und sich verzweifelt fragen, "wo die Welt beginnt".
Die Radikalität, mit der über das Erzählen von Geschichten und den Nicht-Ort des Sprechenden reflektiert wird, erinnert an die sprachkritische Tradition des Fin de siècle. Doch Andrea Winkler, die neben Germanistik auch Theaterwissenschaft studiert hat, entwirft eine Choreografie, die ihre eigenen Gesetze hat.

Rezensiert von Carola Wiemers

Andrea Winkler: Hanna und ich
Literaturverlag Droschl, Gratz 2008
136 Seiten, 16 Euro