Geheimnisvolle Geometrien des Alltags

Von Christian Gampert · 06.11.2013
Leuchtkästen waren in den 1970er-Jahren allenfalls in der Welt der Reklame bekannt. Sie zum Material, zum Träger einer fotografischen Darstellung mit Kunstanspruch zu machen, das war eine Entscheidung, die das gesamte Medium revolutionierte – Jeff Walls Light Boxes standen irgendwo zwischen Fotografie, Malerei und Skulptur.
"Das ist lange her, 40 Jahre jetzt. Ich war auf der Suche nach einer Methode, gute Farbfotos in großen Formaten zu machen – in den 1970er-Jahren. Ich wollte Großformate, das war wichtig für mich. Ich mochte die Fotomaterialien einfach nicht, die die Industrie zu dieser Zeit benutzte. Ich war damit nicht glücklich. Ich sprach mit dem Mann in dem Fotolabor, mit dem ich damals arbeitete, und er empfahl mir, einmal dieses durchsichtige Material zu probieren."

Der Erfolg war durchschlagend: Man sah auf einmal Details in einer Tiefenschärfe, die sonst nicht möglich war. Und: Es war FARBfotografie, ein schwierig aufzubewahrendes Medium, die nun im Großformat wie ein Gemälde daherkam, aber von hinten beleuchtet wurde.

"Ich mochte die Wirkung, sie war wirklich außergewöhnlich. Alles hatte große Intensität, Lichtstärke, Leuchtkraft und Farbintensität. Und so hab ich angefangen, damit zu arbeiten, ohne vorzuhaben, dass das meine permanente Identität werden sollte."

Die wurde es dann doch. Die konservativen Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, die erst spät mit dem Sammeln von Fotografie begannen, haben als erstes wichtiges Werk der zeitgenössischen Fotografie 1992 Walls Riesenbild "An Eviction" angekauft. Es ist eine Mischung aus Stadtlandschaft und Filmszene – in einem tristen, von Immigranten bewohnten Vorort von Vancouver, übrigens Walls Heimatstadt, findet eine Hausräumung ("Eviction") statt; man sieht einen Mann, der sich gegen die Polizisten körperlich wehrt, und eine Frau, die verzweifelt die Arme reckt – und doch sind die Figuren sehr klein und verschwinden fast in einem minutiös gezeigten grauen Stadtensemble, das von einer Hochbahn begrenzt wird, wo Autos parken und unbeteiligte Leute vom Einkaufen kommen, hinten ragen Hochhäuser.

"An Eviction" hängt jetzt im Zentrum dieser Ausstellung, die Jeff Walls Bezug zu München beleuchten soll. Gerade weil in anderen Museen schon seit den 1970er-Jahren Fotografie und Videokunst gesammelt wurde, wollten die Münchner nun mithalten – auch Privatsammler wie Ingvild Goetz und Lothar Schirmer kauften Jeff Wall.

Die Ausstellung umfasst riesige Leucht-Formate wie die "Restoration" oder den in dunkelstem Schwarz abgelichteten "Radfahrer" von 1996, der vor einer Betonwand und Müllhaufen steht, aber auch kleinere Maße wie die metaphorischen "Clipped Branches", beschnittene Zweige, die Wall an einem Straßenrand fand. Solche Stilleben sind oft Zufallsfunde, das Bild war in kurzer Zeit gemacht – im Gegensatz zu den aufwendigen cinematographischen Arrangements von Walls "gestellten" Szenen.

"Ich denke, es ist egal, ob man fünf Minuten braucht oder fünf Monate. Was zählt, ist das Ergebnis. Und ich arbeite auf alle möglichen Arten."

Die Kritik hat immer auf Walls kunsthistorische Bildung verwiesen, und in der Tat scheint die Geschichte der Malerei präsent in diesen Bildern, die Genres wie Landschaft und Portrait in eine technisierte Gegenwart fortschreiben. Auch die Skulptur wird zitiert: Rodins "Denker" erscheint bei Wall als resignativ den Kopf stützender Arbeiter vor einer grauen Stadtkulisse. Am schönsten, am selbstreflexivsten geht Wall aber bei der "Restoration" vor, jenem Bild, das in sich versunkene Restauratorinnen vor einem über 100 Meter langen Panoramagemälde im schweizerischen Luzern zeigt. Das Gemälde thematisiert die Flucht der französischen Armee 1871 über die Schweizer Grenze; Wall aber thematisiert die Arbeit der Restauratorinnen, und das heißt: die Arbeit an der Kunst.

Dies alles nun in München in den weiten weißen Räumen der Pinakothek zu sehen, heißt auch: das Cinematografische in Walls Arbeiten neu zu entdecken. Die Bilder sind sorgfältig komponiert, die Akteure sind Darsteller auf einem Film-Set, das Ganze ist geprobt. Und doch ist das in seiner lakonischen Leblosigkeit eine Diagnose der Gegenwart: Die Personen sind meist dominiert von ihrer Umgebung.

Walls Parteinahme für die Unterprivilegierten kommt in vielen der ausgestellten Bilder zum Ausdruck. Ebenso interessiert ihn aber die Konstruktion von Stilleben: die Geometrien des Alltags findet Wall in vernagelten Fenstern, schattenwerfenden Tischen oder wasserbenetzten Spülbecken. Das alles atmet eine geheimnisvolle Aura, und darauf kommt es dem Künstler an.

"Die Idee des Einzelbildes, die uns aus der Malerei geläufig ist, ist ein Reichtum. Das ist etwas Wunderbares, die Kontemplation des Augenblicks. Wenn man das richtig tut, gibt das enorme Freude."

Die Münchner Ausstellung zeigt den Fotografen Jeff Wall als eine Art Historienmaler der Gegenwart. Dem, der sich in diese Bilder versenkt, eröffnen sie einen Freiraum, der in der Bilderflut des Alltags längst verloren gegangen ist.

Informationen der Pinakothek der Moderne zur Ausstellung "Jeff Wall in München"

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