Geheimnisse, die man wahren muss

In "Das dritte Licht" erzählt die vielfach ausgezeichnete irische Schriftstellerin Claire Keegan von dem Ferienaufenthalt eines kleines Mädchens bei Verwandten. Dort erfährt das Kind Zuwendung, die es von seinen Eltern nicht kennt. Doch hinter dieser Güte verbirgt sich ein Geheimnis.
An einem heißen Sommertag bringt ein Vater seine kleine Tochter zu Verwandten seiner Frau. Die erwartet schon wieder ein nicht gewolltes Kind, das Geld ist knapp, Gefühle trägt niemand auf der Zunge, ein Esser weniger am Tisch, das macht die Tage leichter. Das Leben ist hart, die Kinder bekommen das zu spüren. Die irische Autorin braucht nur wenige Worte, um den Schrecken einer unglücklichen Familie zu umreißen. Der Vater lügt, ist offenbar kein begabter Landwirt.

Das Mädchen kommt zu einem freundlichen kinderlosen Paar, kann es gar nicht fassen, dass es nicht auf dem Feld arbeiten soll, dass man freundlich und zärtlich mit ihm umgeht. Die Kleine bekommt neue Kleider und niemand schimpft mit ihr, als sie ins Bett macht. Ein unverdientes Glück: So könnte das Leben also auch aussehen, so viel Zuwendung ist möglich.

Claire Keegan beschreibt mit Genauigkeit und Einfühlungsvermögen, was das Kind erlebt und denkt, wie es fühlt und sich wundert angesichts eines heiteren Familienlebens, das sie nie kennengelernt hatte. Jedoch steckt hinter all der Schönheit und stillen Güte ein Geheimnis, das die Kleine schließlich von Nachbarn erfährt. Das alte Ehepaar hatte einen Sohn, auf den es nicht gut aufgepasst hatte, der im Brunnen verunglückt ist.

Die Nachbarn sind neugierig und bösartig, die eigenen Eltern misstrauisch, als sie schließlich wieder nach Hause gebracht wird, weil die Sommerferien vorbei sind. Trotz ihrer Freundlichkeit und uneigennützigen Güte denken die Erwachsenen schlecht von dem Paar, das nach dem Verlust des Sohnes über Nacht weißhaarig geworden war. Die Frage nach der Schuld werden die Beiden nicht mehr los. Man muss seine Kinder nicht lieben, hat aber auf sie ordentlich aufzupassen. Nur das kleine Mädchen, das auf die Liebe ganz unmittelbar und froh reagiert, weiß, dass jeder, auch ein Kind Schuld auf sich laden kann. Beinahe wäre nämlich ein zweiter Unfall passiert.

Dass es Geheimnisse gibt, die man wahren, dass man mit Menschen, die man liebt, durch diese Geheimnisse für immer verbunden wird, das lernt das Mädchen.
Claire Keegan erzählt eine stille und genaue Initiationsgeschichte, in der es kein überflüssiges Wort gibt, in der es zwischen den Zeilen und Geschehnissen um große Gefühle und Sehnsüchte geht. Das Ende ist herzzerreißend.

Besprochen von Manuela Reichart

Claire Keegan: Das dritte Licht. Erzählung
aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Steidl Verlag, Göttingen 2013
104 Seiten, 16 Euro