Geheimnis unter Verschluss

13.09.2010
Etwas ist faul im Staate Dänemark. Das musste ja schon Shakespeares Hamlet feststellen, und auch Jussi Adler-Olsen lässt seinen Ermittler Carl Mørck in dessen zweiten Fall über diesen Zustand gewaltig stöhnen.
Vor zwanzig Jahren war ein Geschwisterpaar in einem dänischen Sommerhaus brutal ermordet worden. Allem Anschein nach wurden die Morde von Elite-Schülern verübt, die mehrfach durch Gewaltorgien aufgefallen waren. Einer von ihnen hatte sich gestellt und saß lange Zeit für die Tat im Gefängnis.

Zwanzig Jahre später: Carl Mørck vom Sonderdezernat Q für ungelöste Kriminalfälle kommt gerade aus dem Urlaub zurück, da hält ihm sein Assistent Hafez el-Assad die Akte mit dem alten Mordfall unter die Nase. Keiner hat eine Erklärung dafür, warum neu ermittelt werden soll. Dann kommt von oberster Stelle plötzlich die Order, weitere Nachforschungen sofort einzustellen. Für Carl Mørck heißt das: Jetzt erst recht!

Seine Recherchen führen ihn zu den reichsten Männern Dänemarks und zugleich zu Kimmie, einer unergründlichen Frau mittleren Alters. Sie lebt als Obdachlose, obwohl sie finanziell gut gestellt ist, und sie hat ein Geheimnis, das drei sehr einflussreiche Bürger unbedingt unter Verschluss halten wollen.

Jussi Adler-Olsen hat in Carl Mørcks zweitem Fall einen außerordentlich spannenden gesellschaftskritischen Thriller verfasst, in dem er die Abgründe menschlichen Handelns, Skrupellosigkeit, Raffgier und Missgunst beschreibt, ohne platt oder vordergründig brutal zu werden. Handlung und Erzähltempo, Helden und Antihelden - alles im Buch ist aus einem Guss. Sonderermittler Carl Mørck ist vielen Lesern schon in dessen ersten Fall, "Erbarmen", ans Herz gewachsen - hier geht der Autor noch einen bedeutenden Schritt weiter, er lässt außerdem große Sympathien mit Kimmie zu: einer gebrochenen Heldin, die einiges auf dem Kerbholz hat und nun eine glaubwürdige Opferrolle zelebriert.

Der Autor steuert die Handlung geschickt auf ihren Höhepunkt zu, indem er hin und her springt: Szenen im Morddezernat wechseln mit den Erlebnissen Kimmies und den Schilderungen der - offensichtlich - Hauptverantwortlichen in der Strafsache ab. Die Spannung bezieht Jussi Adler-Olsen nicht in erster Linie aus der Frage, wer denn nun die Morde wirklich begangen hat, sondern aus den aktuellen Ereignissen: wie versuchen die vermeintlich Schuldigen, sich aus der Affäre zu ziehen? Welche Hindernisse stellen sich bei den Ermittlungen in den Weg? Und vor allem: Welche Rolle spielt die geheimnisvolle Kimmie? Sicherlich kommen dem Autor bei seinen atmosphärisch dichten Schilderungen eigene Erfahrungen zugute - als Sohn eines Psychiaters hat Adler-Olsen in seiner Kindheit in mehreren psychiatrischen Kliniken gelebt.

Der Roman ist ein echter Thriller - es wird den Lesern schwer fallen, ihn aus der Hand zu legen, bevor die letzte Seite gelesen ist. Übrigens, Carl Mørck ermittelt weiter: Bereits 2009 erschien in Dänemark sein neuer Thriller: "Flaskepost frå P" - Flaschenpost von P. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Verlag die Flaschenpost bald auch auf deutsch ausliefert.

Besprochen von Roland Krüger

Jussi Adler-Olsen: Schändung. Thriller
Aus dem Dänischen von Hannes Thiess
dtv premium, München, 2010
460 Seiten, 14,90 Euro
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