Indische Lebenslehre

Die Geheimnisse des Tantra

16:26 Minuten
Illustration einer tantrischen Göttin im Hinduismus, Indien.
Kontrolle über Menschen, Götter und Geister erhalten: Auch darauf zielen die tantrischen Praktiken ab. © imago /AGB Photo
Von Antje Stiebitz, unter Mitarbeit von Tripti Nath · 20.02.2022
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Bei Tantra denkt man hierzulande an Massagen, gewagte Sexstellungen und Räucherstäbchen. Völlig abwegig ist das nicht. Doch eigentlich verbirgt sich hinter Tantra eine geheime, viele Aspekte des Lebens umfassende Lehre.
Ich bin in der nordindischen Stadt Panchkula, im Empfangszimmer des bekannten Astrologen und Autors P. Khurrana. Aus Lautsprechern ist gedämpfte Musik zu hören, die Rezeption ist besetzt mit drei Mitarbeitern, rechts daneben steht eine gewaltige Couch für die Wartenden. Nachdem eine TV-Crew das Arbeitszimmer Khurranas verlassen hat, nimmt er sich Zeit für ein Gespräch:
„Wenn ich ein Glas Wasser möchte, gibt es zwei Wege, es zu bekommen. Ich kann meine Bürohilfe bitten, mir das Glas zu bringen und es von ihr entgegennehmen", sagt er. "Die zweite Möglichkeit besteht darin, aufzustehen und das Glas Wasser selbst zu ergreifen. Gibt es eine dritte Möglichkeit? Ich gehe hinaus und hole das Wasser. Das ist Tantra!“

Der Schüler muss sich beweisen

Khurrana sitzt hinter einem großen Schreibtisch. Seine schwarze Kleidung hebt sich von der mit einem roten Tuch verkleideten Wand ab. Manchmal flüstert er beinahe, dann füllt seine Stimme wieder den ganzen Raum:
„Tantra bedeutet, dass man große Anstrengungen unternehmen muss. Es gibt kein Wasser und ich muss mit anderen um den Segen eines Glases Wasser kämpfen. Das ist Tantra!“
Ein Tantraschüler müsse beweisen, so Khurrana, dass er Willenskraft hat und bereit ist, persönliche Opfer zu bringen. Die Schwierigkeiten, mit denen er dabei konfrontiert ist, könne der Schüler nur mit Hilfe seines Gurus überwinden. Dieser zeige ihm den Weg.

Eine Nacht nackt auf dem Verbrennungsplatz

Um sich zu beweisen, werden die Schüler sehr unkonventionellen Methoden ausgesetzt: Beispielsweise müssen sie die Nacht auf einem Verbrennungsplatz verbringen, dem Ort, an dem in Indien die Toten eingeäschert werden. Warum sind solche Methoden nötig? Der energische Mann erklärt:

Eine Person, die nackt auf einen Friedhof gehen kann, kann jede Aufgabe im Leben meistern. Wozu diese Mutprobe? Wir sprechen hier nicht über Gebete. Es geht darum, zu sehen, ob ein Mann oder eine Frau mutig genug ist, nackt auf einen Verbrennungsplatz zu gehen.

P. Khurrana, Astrologe

Die meisten reagieren spöttisch oder ablehnend

Diese unorthodoxen Methoden seien auch der Grund dafür, dass tantrisches Wissen geheim gehalten werde, fährt der Guru fort. Denn die meisten Menschen reagierten entweder spöttisch oder ablehnend darauf.
Tatsächlich werden in Indien immer wieder Geschichten von Tantrikern erzählt, die im Dunkel der Verbrennungsplätze und an abgelegenen Orten Zauberei betreiben und anderen bewusst damit schaden. Sind solche unheimlichen Orte und Praktiken nicht auch der Grund dafür, dass sich in Indien viele Menschen vor Tantrikern fürchten?
Khurrana nimmt ein Messer aus dem Regal und hält es vor sich in die Luft: „Wenn ich ein Messer in der Hand halte, kann ich einen Apfel damit aufschneiden oder jemanden umbringen. Es handelt sich um das gleiche Messer.“

Srinagar: eine Stadt des Tantra

Die aus tantrischen Übungen gewonnene Kraft dürfe eben nicht missbraucht werden, betont der Astrologe. Dann nimmt er seinen Telefonhörer in die Hand und bittet seine Schülerin herbei.
Shilpa Dhar Khurrana kommt herein und setzt sich neben ihren Guru auf einen Stuhl. Vor acht Jahren sei sie in die Welt des Okkulten und Mystischen eingeweiht worden, sagt die 28-Jährige.
Die junge Frau stammt aus dem indischen Bundesstaat Kaschmir. Wie viele tausend andere Hindus auch wurde sie von radikalen Muslimen aus dem Kaschmir-Tal vertrieben.
Von dort mitgebracht hat die Hindu-Gemeinschaft den kaschmirischen Shivaismus. Eine spezielle tantrische Tradition, die vor allem den Gott Shiva verehrt. Die kaschmirische Hauptstadt Srinagar, so Shilpa Dhar Khurrana, sei eine Stadt des Tantra:
„Ich komme aus Srinagar und die Essenz dessen, was wir zu Hause im Alltag an Aktivitäten durchführen, ist Tantra.“

Alkohol, Fleisch, Blut, Fisch, Sex

Das niedergebrannte Elternhaus, der Hass, den sie erlebt hat, und die Tränen der Erwachsenen über die verlorene Heimat – all das habe sie bereits als Kind dazu bewogen, sich der Spiritualität zuzuwenden, erinnert sich Shilpa Dhar Khurrana.
Tantra sei im Wesentlichen die Vereinigung von Shiva und Shakti, dem männlichen und dem weiblichen Prinzip, des Gottes und der Göttin. Die tantrischen Rituale sehen fünf Elemente vor, die in der vedisch-brahmanischen Tradition Indiens nicht verwendet werden:
„Alkohol, Fleisch, Blut, Fisch und das fünfte Element ist die Vereinigung eines Mannes und einer Frau durch Geschlechtsverkehr.“
Diese Zutaten dienten dazu, den Gott Shiva und alle mit ihm assoziierten Gottheiten zu beeindrucken und dadurch zu erwecken.
Die redegewandte Astrologin betont die regionale Verankerung des Brauchs. Der Fleischverzehr etwa hinge mit den geografischen Bedingungen Kaschmirs zusammen. Wegen der kalten und langen Winter stehe auch Fleisch auf dem Speiseplan. Denn insbesondere die Brahmanen Indiens essen traditionell meist vegetarisch. Ähnliches gelte für das Element des Fischverzehrs. Diese Tradition stamme aus dem am Meer gelegenen Bundesstaat West-Bengalen.
Tantra sei geheim, so die junge Frau, damit sich niemand darüber mokiere:

Es handelt sich um religiöses Wissen, das weitergegeben wird vom Vater zu seinem Kind, vom Guru zu seinem Schüler. Es wird innerhalb der Familie weitergegeben, etwa von den Großeltern. Aber es darf nicht ohne Weiteres offengelegt werden. Man darf sich beispielsweise nicht auf Social Media darüber lustig machen oder dafür werben. Wir dürfen es nicht für die Unterhaltung kommerzialisieren. Es ist heilig.

Shilpa Dhar Khurrana, Astrologin

Die Göttin Baglamukhi bevorzugt die Farbe gelb

Ich fahre gemeinsam mit einer indischen Kollegin und Übersetzerin im Auto in den nordindischen Bundesstaat Himachal Pradesh, um einen Tempel zu besuchen, der einer tantrischen Gottheit geweiht ist, der Göttin Baglamukhi.
Baghlamukhi Tempel in Himachal Pradesh, Indien, Januar 2022.
Ein heiliger Ort, der nicht leicht zu erreichen ist: Tempel der Göttin Baghlamukhi in Himachal Pradesh.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Die tantrische Göttin macht es ihren Pilgern nicht leicht. Von der Millionenstadt Chandigarh aus sind es dreieinhalb Stunden Zugfahrt bis in die Kleinstadt Amb Andaura. Von dort 90 bergige Autokilometer bis in den Ort Jwalamukhi. Und schließlich noch eine halbe Stunde Autofahrt bis zum Ziel.
Die gelben Dächer des Tempel-Komplexes fallen sofort ins Auge. Die Göttin Baglamukhi bevorzugt die Farbe Gelb. Ihre Kleidung ist gelb und die Gläubigen bringen ihr sogar gelbe Opfergaben. Shanky Pundit ist einer von rund 70 Priestern des Tempels:
„Mutter Baglamukhi ist die Göttin der tantrischen Mantren", erklärt er. "Sie ist die achte Form der zehn Mahavidhyas, der zehn großen Weisheiten. Das ist eine Gruppe von tantrischen Göttinnen. Die Göttin wird insbesondere verehrt, um Feinde zu zerstören.“
Fünf Jahre lang hat der 23-Jährige die heiligen Schriften studiert:
„Wenn Dir jemand Schaden zugefügt hat, etwa durch den bösen Blick, dann beten wir zur Göttin, damit sie die Wirkung lindert. Wir befinden uns im Kali Yuga, dem Zeitalter der Zerstörung. Das ist ein Zeitalter, in dem die Menschen eifersüchtig aufeinander sind. Mit dem Fortschreiten des Kali-Zeitalters wird Baglamukhi zunehmend Beachtung finden. Denn sie beschützt ihre Gläubigen und zerstört ihre Feinde.“

Wasser, Reis und Blumen als Opfer für die Göttin

Auf die Frage, was mit den Feinden geschieht, möchte der junge Mann keine Antwort geben. Er rät uns, mit dem Lehrer und Priester Raj Kumar Sharma zu sprechen, und weist uns den Weg zu dessen Büro. Auf dem Weg dorthin durchqueren wir den wegen der anhaltenden Corona-Pandemie nur mäßig besuchten Tempel.

Devotionalien am Bhaglamukhi Tempel in Indien
Alles in gelb, zu Ehren der Göttin: Devotionalien am Bhaglamukhi- Tempel.© Deutschlandradio / Antje Stibietz
Rechts vom Heiligtum mit dem Bildnis der Göttin Baglamukhi sind mehrere Opferplätze in den Boden eingelassen. Sie sind alle gleich aufgebaut. In ihrer Mitte befindet sich jeweils eine quadratisch geformte Feuerstelle, um die herum sich die Opfernden niederlassen können.
In drei der Feuerstellen knistern Flammen, von Holz genährt. Ein Priester führt Rituale durch und singt die zugehörigen Mantren. Wasser, Reis und Blumen werden dargebracht. Am Ende werfen die Opfernden “Saamagri”, eine Mischung aus Pfefferkörnern, roten Chili-Schoten und Gelbwurz, ins Feuer.
Bei diesem Abschlussritual wird die Stimme des Priesters laut, er gestikuliert mit den Händen und sein Gesichtsausdruck ist theatralisch. Auch die Opfernden werfen ihre Opfergaben mit dramatischen Gesten ins Feuer.

Wie zerstört die Göttin die Feinde ihrer Anhänger?

Der Lehrer und Priester Raj Kumar Sharma sitzt in einem Besprechungszimmer auf einer großen Couch. Der hochgewachsene Mann trägt eine Kurta, das herkömmliche weite Hemd, darüber ein Sweat-Shirt und eine wollene Weste. Neben ihm glüht ein Heizer gegen die winterliche Kälte.
"Um unsere Feinde zu zerstören, übermitteln wir unsere Wünsche an die Göttin", sagt er. "Das tun wir mit Hilfe des Feuers. Wir machen das auf eine aggressive Art und Weise, weil das auch die Göttin aggressiv macht. Diesen Kniff nennen wir im Tantra 'Kriya'.“
Was ist gemeint, wenn von der Zerstörung der Feinde gesprochen wird?

Es ist wichtig zu verstehen, dass kein Ritual und keine Opfergabe, die wir ins Feuer werfen, irgendjemandem schaden. Wir führen dieses Ritual durch, wenn uns eine Person auf boshafte Weise schaden möchte. Das Ritual dient dazu, diese Person davon abzuhalten, uns weiter zu schaden. Die tantrischen Methoden werden genutzt, um Laster wie Lust, Wut, Gier, Ego und das Fixiertsein auf die diesseitige Welt zu beseitigen. Deshalb kommen die Menschen zu uns.

Raj Kumar Sharma, Priester

Mit Tempeldienst die Balance wiederherstellen

Die indische Philosophie gehe davon aus, dass die Elemente aus drei Qualitäten, den Gunas, bestehen, erklärt der 30-Jährige: Zum einen aus der dunklen und schweren Qualität Tamas, zweitens aus der mit der Farbe Rot und mit Aktivität assoziierten Qualität Rajas. Und die helle, leichte Qualität Sattvas.
Gerieten diese Gunas oder Qualitäten aus dem Gleichgewicht, führe das zu Störungen und Krankheiten im Menschen. Die Mantren im Opferritual kreierten bestimmte Energien. Und unser Körper absorbiere genau die Qualität der Mantren, an der es ihm mangele.
„Auf diese Weise korrigieren wir ein Ungleichgewicht", betont Raj Kumar Sharma. "Wir gehen in Tempel und lassen Gottesdienste und Rituale durchführen, um die mangelnde Balance wiederherzustellen.“

Tantra soll für Erfolg im Leben sorgen

Die vedische und tantrische Strömung wurzeln beide in der heiligen Schriftensammlung des Veda. Allerdings hätten sich die beiden Systeme später in verschiedene Richtungen entwickelt, erklärt der praktizierende Astrologe Ashok Hangal aus der Stadt Lucknow.
Das vedische System wolle vor allem erheben, erbitte die Hilfe Gottes und ziele auf die Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten ab. Während die tantrischen Rituale durchgeführt würden, um für Erfolg im Leben zu sorgen:

Angenommen, ich möchte, dass sich eine bestimmte Frau zu mir hingezogen fühlt, dann werde ich mich für tantrische Praktiken entscheiden, damit ich diese Person dahingehend beeinflussen kann. Wenn ich Geld gewinnen oder jemandem schaden möchte, gehe ich zu einem Tantriker. Denn in den tantrischen Schriften gibt es verschiedene Traditionen, verschiedene Methoden und Prozeduren, um vielfältige materielle Dinge zu erreichen.

Ashok Hangal, Astrologe

Jeder darf Tantra ausüben

Das tantrische System habe sich entwickelt, weil das exklusive vedische System ausschließlich männliche Brahmanen zugelassen habe, erklärt der 70-Jährige. Frauen und die unterprivilegierten Dalit schließe das vedische System aus.
Tantra hingegen sei inklusiv – jeder darf es ausüben. Beide Strömungen stünden nicht direkt gegeneinander, sondern ergänzten sich.  Problematisch sei allerdings, dass Tantra oft von Menschen genutzt werde, die für weltlichen Erfolg zu allem bereit seien:
„Sie wollen jemanden besiegen oder Schaden zufügen. Deshalb hat das tantrische Wissen einen schlechten Ruf. Denn in den heiligen Schriften steht nirgends: Nutze die spirituellen Übungen dazu, jemandem zu schaden.“

Rituale, die den Tod auslösen sollen

Tantrische Praktiken zielten jedoch darauf ab, Kontrolle über Menschen, Götter und Geister zu erhalten und diese für die eigenen Ziele zu instrumentalisieren.
Es gebe sogar Rituale, die den Tod eines Menschen auslösen sollen. Solche Rituale würden allerdings nie in Tempeln durchgeführt, sondern an abgelegenen Orten oder Verbrennungsplätzen. Das Problem bestehe darin, dass man nicht ohne Weiteres ausmachen könne, wie weit ein Tantriker gehe, sagt Ashok Hangal:
„Es ist beängstigend, weil nie klar ist, welche Art von Tantra jemand praktiziert. Die Mehrheit der Menschen vermeidet es deshalb, das tantrische System zu nutzen.“
unter Mitarbeit von Tripti Nath

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