Geheimarchive und Geheimpolizei als Theater-Material

Von Hartmut Krug · 02.10.2013
Für das Theaterfestival im slowakischen Nitra haben sich die aufführenden Gruppen in staatliche Archive begeben. Gesucht haben sie Fälle staatlicher Überwachung durch die Geheimdienste während der sozialistischen Diktaturen. Daraus sind sechs ganz verschiedene Theaterstücke entstanden.
Es brauchte drei Jahre Vorbereitung, zahlreiche Diskussionen zwischen und konzeptionelle Zusammenarbeit von Theatern aus sechs mittel- und osteuropäischen Ländern, - und es brauchte Theaterkünstler, die zu Rechercheuren in staatlichen Archiven wurden, um das ehrgeizige Dokumentartheater-Projekt "Parallel Lives" beim Theaterfestival im slowakischen Nitra zu mehr als einem der üblichen bunten Angebote im Festivalzirkus zu machen. Die Fragen an eine gesellschaftliche Vergangenheit, in der das eigene Leben auf ganz unterschiedliche Weise bestimmt, geleitet oder begleitet war von der Überwachung durch die Staatssicherheit, förderten in den sechs Uraufführungen aus Rumänien und Ungarn, aus Tschechien, der Slowakei und aus Slowenien, Polen, Tschechien und Dresden eine Fülle von Informationen und offenen Fragen. Wobei die Fragen an die Vergangenheit sich zugleich immer auch als Fragen an die Gegenwart erwiesen. Kurator Jan Simko:

"Wir fühlen, dass das Thema sehr theatralisch ist, für Theater sehr wichtig und interessant. Weil dieses Paradox zwischen Erinnerung und Präsenz im Grund der Schauspielkunst liegt. Also wie Erinnerung und Präsenz zusammen im Leben funktionieren, dieses Thema ist so komplex, dass wir es wichtig fanden, nicht nur eine Inszenierung zu diesem Thema zu machen, sondern eine Collage. Das Bild ist sehr komplex und leitet den Zuschauer nicht zu einer generellen Metapher oder Aussage."

So erlebte man in Nitra, trotz deutlicher Textlastigkeit und Informationsfülle der Inszenierungen, keinesfalls Theater als reines didaktisches Erklär-Medium. Sondern alle Bühnen waren, mit durchaus unterschiedlichem Erfolg, sowohl auf der Suche nach Erkenntnis wie nach ganz eigenen Darstellungsformen. Das Nationaltheater Prag näherte sich dem Schicksal des von der Geheimpolizei 1950 ermordeten Priesters Josef Toufar sowohl mit vielen historischen Filmaufnahmen wie mit den Mitteln einer modernen Oper.

Mit kirchlichen Zeremonien, mit einem Countertenor und einem Schauspieler, mit einer 87-jährigen Schauspielerin und Sängerin, die aus der Akte Fourfars vorsingt und vorträgt, sowie mit einem Chor von Messdienerinnen, der sich auch in eine Gruppe von Geheimpolizisten verwandeln kann, wird die Geschichte eines Priesters erzählt, der beim Kampf der Kommunisten um die Macht gefoltert wird und zu Tode kommt, - dies eine Geschichte, die bis heute nicht richtig aufgeklärt wurde. Wie in dieser kleinen, schlichten Oper die formale Strenge der Komposition von Ales Brezina und die präzise Regie des Regisseurs Petr Zelenka das ausufernde Material und die unterschiedlichen Spielweisen zusammenhält, überzeugte durchaus.

Fast ein Kontrastprogramm dazu der Versuch des neuen Theaters Krakau, zwei sehr unterschiedliche Lebensläufe im Setting einer Sexbar zusammenprallen zu lassen. Ein ehemaliger Offizier der Geheimpolizei sitzt im Rollstuhl und fantasiert sich durch seine Vergangenheit, die erst vom Kampf gegen die katholische Intelligenz und nach dem Untergang des Kommunismus vom Verlust gesellschaftlichen Sinns und von eigener Bedeutungslosigkeit bestimmt war. Und nun erfindet er sich eine vergangene Realität und neue Wahrheiten, während eine junge Französin, Tochter einer emigrierten jüdischen Dissidentin aus Polen, ihm emotions- und reaktionslos halb nackt an der Stange vortanzt, obwohl er sie sexuell heftig beschimpft. Was zu einem Bild widersprüchlicher Erinnerungen und Haltungen werden sollte, blieb aber zu sehr in den Effekten der Grundsituation stecken.

Insgesamt wählten die Theater vor allem Themen mit bekannten, aber bis heute nicht offiziell aufgeklärten Taten, darunter Morde durch die Staatssicherheit, die bis heute nicht offiziell aufgeklärt wurden. Nicht selten wurde auch davon berichtet, dass noch heute Behörden die Aufklärung verhindern. Jan Simko:

"Wie sich die Gesellschaft mit diesen Archiven, Erinnerungen und dramatischen Geschichten auseinandersetzt, beeinflusst auch die künstlerische Reflexion. Zum Beispiel in der Slowakei war für die Künstler interessant, wie die Justiz funktioniert oder nicht funktioniert. Weil in der Justiz in der Slowakei fühlt man am stärksten die Kontinuität. Und die Leute, die in der Justiz vor ‘89 waren, sind immer noch da und blockieren viele Fälle. Und diese Situation ist auch in Inszenierungen reflektiert."

In den meisten Inszenierungen reden nicht die Beteiligten, sondern die Archive. Sehr direkt im rumänischen Beitrag der Regisseurin Gianina Carbunariu. Ihre "Typografia Majuskula" verspricht schon im Untertitel "Gespielte Archive". Überblendet auf der Bühne von einer Vielzahl grafologischer Zeichen und Archivmateralien, wird die Geschichte eines 16-jährigen Schülers erzählt, der Losungen in der Stadt sprayt und von einer Übermacht von Geheimpolizisten gejagt und bearbeitet wird.

Wie unterschiedlich die Herangehensweisen des Dokumentartheaters an eine szenische Aufarbeitung der Geheimpolizeiaktivitäten sein kann, zeigt ein Vergleich des Dresdner und des Budapester Beitrag. Die Dresdner Bürgerbühne mit ihren Laien, die in "Meine Akte und ich" ihr von der Staatssicherheit direkt beeinflusstes Leben erzählten, punktete bei aller darstellerischen Ungelenktheit mit fühlbarer Authentizität. Während "Reflex" von der Sputnik Shipping Company aus Budapest ein schauspielerisch virtuoses und komödiantisch-artistisches Spiel zeigte, bei dem die Frage danach, ob der Staat über den geistigen Zustand seiner Bürger entscheiden kann, in einer Nervenklinik verhandelt wurde.

Diese Inszenierung aus Ungarn war neben dem slowakischen Beitrag "The inside oft he inside" der gelungenste Versuch, dokumentarischem Theater eine spielerische Form zu geben. Die slowakische Inszenierung zeigte zunächst eine verfremdet realistische Szenerie aus Tüchern, auf der Collagen aus historischem und aktuellem Material überblendet und kommentiert wurden.

Drei Geheimdienstoffiziere sprechen ihre Berichte über ein Opfer, wiederum einen Priester, ab, und begeben sich dabei in Formulierungskämpfe. Die Darsteller steigen sogar aus ihren Rollen und diskutieren, wie alte Geheimdienstvorgänge heute richtig darzustellen sind. Im zweiten Teil wird die Welt geheimnisvoll irreal und beängstigend undurchschaubar: Die Überwacher tragen schleimige Tiermasken, und auf der Suche nach Wahrheit und den Möglichkeiten, einen Schuldigen zum Nachdenken über sein Handeln zu bringen, wird in Filmprojektionen Hamlets Spiel "Die Mausefalle" auf den Tüchern gezeigt. Was dem erzählten authentischen Geschehen auch eine antikische Größe zuweisen möchte.

Insgesamt hat das Projekt "Parallel Lives" eine Fülle von Informationen und Anregungen gegeben: Erschreckend, wie viele offene Fragen es in vielen osteuropäischen Ländern noch gibt. Und erstaunlich, welch breites Spektrum von Darstellungsformen für ein Dokumentartheater dieses Festival vorzeigen konnte.
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