Gehad Mazarweh

"Arabische Gesellschaften sind vaterlos"

Der Psychoanalytiker Gehad Mazarweh
Der Psychoanalytiker Gehad Mazarweh © Ariane von Dewitz
Von Ariane von Dewitz · 28.10.2015
Gehad Mazarweh ist einer der wenigen arabischen Psychoanalytiker weltweit. Der Palästinenser kritisiert, dass arabische Gesellschaften psychische Störungen nur bei anderen Kulturen suchen - trotz der Kriege im Nahen und Mittleren Osten.
Gehad Mazarweh lenkt sein Auto durch badische Dörfer, schaut dabei links und rechts in akkurat gejätete Gärten vor Häusern aus Klinkerstein. Seit rund 40 Jahren ist der gebürtige Palästinenser in der Gegend rund um Freiburg zu Hause. Hier hat er Psychologie studiert, eine Ausbildung zum Psychoanalytiker gemacht: Für seine konservativ-arabische Familie schwer nachvollziehbar.
"Ich habe einen Pioniergeist. Ich liebe Herausforderungen, die immer im Rahmen des Menschlichen bleiben. Und ... ich glaube, ich war der erste palästinensische Psychoanalytiker in der Geschichte."
Als solcher eröffnet Gehad Mazarweh vor 38 Jahren seine eigene psychotherapeutische Praxis – vor der er nun seinen Wagen parkt.
Er betritt die Praxisräume, wirft einen kurzen Blick auf die Wände, an denen Teppiche mit Koransuren und Bilder von Jerusalem hängen. Über seine Flucht aus der Heimat zu sprechen, fällt dem Therapeuten mit dem weißen Vollbart und den tiefbraunen Augen auch heute noch schwer.
Hilfe für gefolterte Flüchtlinge
"Und dann habe ich in einem ruhigen Augenblick einen Brief an meinen Vater geschrieben: Ich verlasse das Land, entschlossen, nie wieder zurückzukehren. Für mich ist meine Selbstständigkeit, meine Freiheit so wertvoll wie mein Leben."
Sein Leben, das hat Gehad Mazarweh der Psychoanalyse gewidmet, weil er glaubt: Wenn alle Menschen ihre Projektionen und Schattenseiten wahrnehmen, könnte ein Zusammenleben leichter sein. In den lichten, hohen Räumen seiner Praxis therapiert er nun viele gefolterte und traumatisierte Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, dem Jemen. Längst kann Mazarweh nicht mehr alle als Patienten aufnehmen. Bei manchen jedoch schafft er es einfach nicht, nein zu sagen.
"Da war eine 35-jährige Frau, die mit einem Boot aus Libyen nach Italien kommen wollte. Und ihr Boot kenterte unterwegs. Und ihr Schwiegervater, ihre Schwiegermutter, ihr Mann, ihr Sohn und ihre Tochter ertranken. Und was für die Frau sehr schwer zu ertragen ist – der Ruf ihrer Tochter: 'Mama, Hilfe!' Und dann stand die Frau hier ... und ich konnte nicht 'nein' sagen."
Trauma ist nicht zu behandeln
Längst hat Gehad Mazarweh gelernt, sich schon über kleine Heilungsschritte bei seinen traumatisierten Patienten zu freuen. Die wunderbarsten Augenblicke sind, wenn ein Gefolterter, der eigentlich nicht mehr leben wollte, beim Abschied lächelt, sagt er.
"Mir reicht das. Dass er lächelt. Weil was ich weiß: Nach so vielen Jahren Arbeit mit Trauma: Trauma ist nicht zu behandeln. Wer einmal diese Schädigung erfahren hat, wird niemals sich zurecht in diesem Leben finden. Nie. Was wir in der Analyse machen – wir konstruieren mit ihm einen Spazierstock, mit dem er durch das Leben laufen kann."
Manche Geschichten seiner Patienten lassen Gehad Mazarweh über Jahre nicht los. So auch das Schicksal einer Frau, die von zwölf Soldaten vergewaltigt wurde, schreckliche Verletzungen erlitt – und dennoch niemals den Mut verlor.
"Und eines Tages war das, was sie erzählt hat so aufwühlend, dass ich Tränen in den Augen bekommen habe. Da guckte sie mich tröstlich an und sagte: Herr Doktor. Ich brauche keinen Therapeuten. Später habe ich erfahren, dass ihr Sohn ... Leukämie ... Und das sind Augenblicke, ich weiß nicht, ob das Kind noch lebt. Aber diese Kraft, die so eine kleine Frau von 1,58 Meter groß – die trotz alldem an etwas geglaubt hat - und eines Tages wird für uns die Sonne scheinen."
Die Flüchtlingsschicksale seiner Patienten bedrücken den 70-jährigen Psychoanalytiker ebenso wie die politische Situation in vielen arabischen Ländern – dazu gehört auch die Ausbreitung des IS-Terrorregimes:
"Die arabischen Gesellschaften sind vaterlos. Die Orientierung ist dadurch verloren gegangen. Es gibt ein Restpatriarchat. Deren Ergebnis ist die IS, diese Kriminellen, die in Syrien und im Irak sind. Viele gehen hin, weil sie eine Orientierung brauchen. Und diese Leute bieten eine ganz klare, mörderische Orientierung."
Das Elend, von dem er täglich hört, all der Krieg und die Zerstörung im Nahen und Mittleren Osten, halten Gehad Mazarweh aber nicht davon ab, an eine bessere Welt für das arabische Volk zu glauben:
"Ich glaube an dieses Volk. Weil: Die menschliche Würde können sie jahrhundertlang mit den Füßen zertreten. Irgendwann kriegen sie Fußweh und kippen um. Dann stehen die Leute auf."
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