Gegenwart zum Sprechen bringen
09.11.2009
Gerade in diesen Tagen ist er ein häufig befragter Zeitzeuge: In Romanen und Erzählungen hat Ingo Schulze die Ereignisse rund um den Mauerfall und Erfahrungen der Wendezeit dargestellt. Nun ist auch ein Band seiner Reden und Essays erschienen: "Was wollen wir?".
"Was wollen wir?" - diese Frage stellte Ingo Schulze vor zwei Jahren in seiner Dankesrede zur Verleihung eines Literaturpreises. Der Preis kam vom Land Thüringen, das Preisgeld aber stammte von einem überregionalen Energiekonzern, für den der Preisträger unfreiwillig als Werbefläche herhalten musste. In der ihm gemäßen Weise, höflich und klug, nutzte der Ausgezeichnete die Möglichkeit, öffentlich auf die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche hinzuweisen - eine Entwicklung, die er hierzulande als eine Folge des "Beitritts der DDR zur Bundesrepublik" (Wolfgang Schäuble) ausmacht und die er fragwürdig findet.
In gut der Hälfte seiner 27 Essays, Reden und Skizzen aus den Jahren 1997 bis 2009, die nun unter dem Titel "Was wollen wir?" gesammelt erscheinen, hinterfragt er kritisch jene politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die im Herbst 1989 in Deutschland einsetzten und gibt dezidiert Auskunft über die Befindlichkeit der Deutschen in jener Zeit. Der Autor profitiert davon, zwei Systeme zu kennen. Seine Betrachtungen münden jedoch nicht in einen plumpen Vergleich, sondern werden zum Zeugnis erhöhter Aufmerksamkeit und größerer Tiefenschärfe bei der Darstellung deutscher Geschichte und Gegenwart.
Auch der Westen habe sich verändert, notiert Schulze. Die Ausbreitung eines "ungezügelten Kapitalismus", der Freiheit verspreche, aber auf Kosten sozialer Gerechtigkeit ginge, kritisiert er. Dabei ist der Schriftsteller nicht Propagandist einer Partei oder Ideologie, sondern ein äußerst genauer Beobachter unserer Lebenswelt.
Er erläutert auch ausführlich seine Poetik. In dieser Sammlung von Essays, Reden und Skizzen offenbaren sich mehr als bloß unliterarische Lebensansichten eines Literaten. Die Texte sind kunstvoll geformt, ästhetisch ausgearbeitet - schließlich handelt es sich zum Teil um akademische Vorlesungen, Antritts- und Lobreden. Schulze argumentiert, macht nachdenklich und erweist sich als Autor, der im Alltag ebenso zu Hause ist wie in Literatur, Literaturwissenschaft und -geschichte. Für ihn kein Widerspruch. Als jemand, der in der DDR groß geworden ist, hat er gelernt, die Macht der Worte zu schätzen. Später auch, als Geschäftsmann, die Macht der Zahlen abzuschätzen.
Im letzten Aufsatz des Bandes geht der studierte Altphilologe Ingo Schulze der Genese des Wortes "Verlierer" nach. Ein Paradebeispiel dafür, wie man über das Hinterfragen von Sprache zu Verständnis und Erkenntnis - eben auch des Politischen - zu gelangen vermag, wie man "Gegenwart zum Sprechen bringt".
Und auch wenn der Autor über Kollegen, Raymond Carver, Wolfgang Hilbig, Tschechow oder den Kritiker Lothar Müller schreibt, erfährt der Leser immer Erhellendes: über den Schriftsteller Schulze, den besprochenen Gegenstand und über unsere Lebensverhältnisse.
Wie einst Victor Klemperer untersucht Schulze Alltagssprache. Daraus leitet er dann eine Diagnose der Zeit ab. "Was aber geschieht mit der Sprache, wenn das alltägliche Leben bodenlos, wurzellos, absurd geworden ist?", fragt Schulze in seiner Porträtskizze zur Literatur des russischen Dichters Daniil Charms. Diese Frage treibt den Autor um. Und aus ihr geht die nächste hervor, eine indirekte Aufforderung zum Handeln: "Was wollen wir?"
Der gleichnamige Band lässt den Leser begreifen, dass er es im Fall von Ingo Schulze nicht allein mit einem hochreflektierten, kunstfertigen Autor, sondern auch mit einem politischen Zeitgenossen zu tun hat. Und dass er selbst auf dessen Frage antworten muss.
Besprochen von Carsten Hueck
Ingo Schulze: "Was wollen wir? Essays, Reden, Skizzen"
Berlin Verlag 2009.
312 Seiten, 22 Euro
Autoreninfo
Ingo Schulze, 1962 in Dresden geboren, arbeitete nach dem Studium der klassischen Philologie als Theaterdramaturg im thüringischen Altenburg. Im Herbst 1989 engagierte er sich in der Bürgerrechtsbewegung (Neues Forum), gründete eine Zeitung und ging zum Aufbau eines Anzeigenblatts 1993 nach St. Petersburg. 1995 erschien sein erstes Buch, ein Band mit Erzählungen, das mit dem "Aspekte-Literaturpreis" ausgezeichnet wurde. Schulze wurde schnell zu einem der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller der jüngeren Generation. Immer wieder stellt er die Folgen der deutschen Einheit literarisch dar. Ingo Schulze ist auch ein gefragter Redner und Artikelschreiber. Seine Romane und Erzählungen sind mittlerweile in 30 Sprachen übersetzt.
In gut der Hälfte seiner 27 Essays, Reden und Skizzen aus den Jahren 1997 bis 2009, die nun unter dem Titel "Was wollen wir?" gesammelt erscheinen, hinterfragt er kritisch jene politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die im Herbst 1989 in Deutschland einsetzten und gibt dezidiert Auskunft über die Befindlichkeit der Deutschen in jener Zeit. Der Autor profitiert davon, zwei Systeme zu kennen. Seine Betrachtungen münden jedoch nicht in einen plumpen Vergleich, sondern werden zum Zeugnis erhöhter Aufmerksamkeit und größerer Tiefenschärfe bei der Darstellung deutscher Geschichte und Gegenwart.
Auch der Westen habe sich verändert, notiert Schulze. Die Ausbreitung eines "ungezügelten Kapitalismus", der Freiheit verspreche, aber auf Kosten sozialer Gerechtigkeit ginge, kritisiert er. Dabei ist der Schriftsteller nicht Propagandist einer Partei oder Ideologie, sondern ein äußerst genauer Beobachter unserer Lebenswelt.
Er erläutert auch ausführlich seine Poetik. In dieser Sammlung von Essays, Reden und Skizzen offenbaren sich mehr als bloß unliterarische Lebensansichten eines Literaten. Die Texte sind kunstvoll geformt, ästhetisch ausgearbeitet - schließlich handelt es sich zum Teil um akademische Vorlesungen, Antritts- und Lobreden. Schulze argumentiert, macht nachdenklich und erweist sich als Autor, der im Alltag ebenso zu Hause ist wie in Literatur, Literaturwissenschaft und -geschichte. Für ihn kein Widerspruch. Als jemand, der in der DDR groß geworden ist, hat er gelernt, die Macht der Worte zu schätzen. Später auch, als Geschäftsmann, die Macht der Zahlen abzuschätzen.
Im letzten Aufsatz des Bandes geht der studierte Altphilologe Ingo Schulze der Genese des Wortes "Verlierer" nach. Ein Paradebeispiel dafür, wie man über das Hinterfragen von Sprache zu Verständnis und Erkenntnis - eben auch des Politischen - zu gelangen vermag, wie man "Gegenwart zum Sprechen bringt".
Und auch wenn der Autor über Kollegen, Raymond Carver, Wolfgang Hilbig, Tschechow oder den Kritiker Lothar Müller schreibt, erfährt der Leser immer Erhellendes: über den Schriftsteller Schulze, den besprochenen Gegenstand und über unsere Lebensverhältnisse.
Wie einst Victor Klemperer untersucht Schulze Alltagssprache. Daraus leitet er dann eine Diagnose der Zeit ab. "Was aber geschieht mit der Sprache, wenn das alltägliche Leben bodenlos, wurzellos, absurd geworden ist?", fragt Schulze in seiner Porträtskizze zur Literatur des russischen Dichters Daniil Charms. Diese Frage treibt den Autor um. Und aus ihr geht die nächste hervor, eine indirekte Aufforderung zum Handeln: "Was wollen wir?"
Der gleichnamige Band lässt den Leser begreifen, dass er es im Fall von Ingo Schulze nicht allein mit einem hochreflektierten, kunstfertigen Autor, sondern auch mit einem politischen Zeitgenossen zu tun hat. Und dass er selbst auf dessen Frage antworten muss.
Besprochen von Carsten Hueck
Ingo Schulze: "Was wollen wir? Essays, Reden, Skizzen"
Berlin Verlag 2009.
312 Seiten, 22 Euro
Autoreninfo
Ingo Schulze, 1962 in Dresden geboren, arbeitete nach dem Studium der klassischen Philologie als Theaterdramaturg im thüringischen Altenburg. Im Herbst 1989 engagierte er sich in der Bürgerrechtsbewegung (Neues Forum), gründete eine Zeitung und ging zum Aufbau eines Anzeigenblatts 1993 nach St. Petersburg. 1995 erschien sein erstes Buch, ein Band mit Erzählungen, das mit dem "Aspekte-Literaturpreis" ausgezeichnet wurde. Schulze wurde schnell zu einem der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller der jüngeren Generation. Immer wieder stellt er die Folgen der deutschen Einheit literarisch dar. Ingo Schulze ist auch ein gefragter Redner und Artikelschreiber. Seine Romane und Erzählungen sind mittlerweile in 30 Sprachen übersetzt.