Gegensatz
Manchmal greift man zu einem Lesestoff ohne aktuellen Lektüreanlass. So erging es mir unlängst mit Gerhart Hauptmanns Kriegstagebüchern von 1914 bis 1918. Ein eher philologisches Vergnügen. Zahlreiche Siglen des Herausgebers hemmen den Lesefluss, und gleich dem späteren Thomas Mann notierte der noch frisch Nobelpreis bekränzte Dichter Hauptmann in seinem Diarium vorrangig Banalitäten.
Die freilich stufte er, von der eigenen Bedeutung berauscht, als historisches Zeugnis ein. Inmitten all dieser Befindlichkeits- und Tagwerkorganisationsprosa, durchbrochen von schwülstigen nationalen Ergüssen, wie sie fürs erste Kriegsjahr von vielen Intellektuellen überliefert sind, stolperte ich über einen unscheinbaren Satz. Am 7. Februar 1915 bewirtete der Dichter eine illustre Abendgesellschaft, zu der auch Geistesgrößen wie Werner Sombart, Lou Andreas-Salomé, Walter Rathenau und Oskar Loerke zählten. Am nächsten Morgen schrieb Hauptmann in sein Tagebuch: "Hier kam das Thema 'Deutschtum' in der Form zur Diskussion, in der es noch oft traktiert werden wird. Gegensatz Sombart – Rathenau."
Warum stolperte ich darüber? Weil ich vor meinem geistigen Auge die Szene ins Jahr 2007 transportierte und mich fragte, ob in einer vergleichbaren Versammlung hochkarätiger Intellektueller heute dieselbe Lakonie möglich wäre, wie sie der "Gegensatz Sombart – Rathenau" widerspiegelt? Sie ist an sich erstaunlich, denn fantasiebegabte Menschen können sich vorstellen, dass die Differenz zwischen dem jüdischen Liberalen Rathenau und dem Nationalkonservativen Sombart bereits 1915 beträchtlich gewesen sein dürfte. Dennoch steht da nichts von unerbittlicher Auseinandersetzung, gar Streit, sondern nur der schlichte "Gegensatz" notiert. Ein Gegensatz herrscht, wenn zwei gleich starke Positionen aufeinandertreffen, sich aber dennoch gegenseitig das Existenzrecht nicht absprechen. Das erscheint heute undenkbar. Nicht hauptsächlich, weil das Thema obsolet geworden ist – zu Recht verschwand das verstaubte Wort "Deutschtum" aus dem Sprachgebrauch und taucht bestenfalls zur "Leitkultur" verbrämt hie und da wieder auf –, sondern weil politische Gesprächsfelder weiträumig vermint sind.
Wir debattieren nämlich stets auf dem Scheitelpunkt einer intellektuellen Wasserscheide. Keine Ansicht darf in sich als das ruhen, was sie nominell vertritt, sie wird immer auf ihr unsichtbares Fließgefälle bergabwärts taxiert. Also auf mögliche, ihr innewohnende Optionen der radikalen Entartung. Entweder verbirgt sich hinter einer Haltung der Strom rechts hinunter zur reaktionären Weltsicht, ja nazistischen Anfälligkeit; oder ein Bergbach links herunter ins Sammelbecken kollektivistischer Seligkeiten inklusive geheimer Umsturzpläne. Wer sich weder da noch dort eingeordnet sehen und eigentlich nur das wörtlich Gesagte ausdrücken will, muss auf der intellektuellen Wasserscheide virtuos balancieren können. Falls es ihm nicht gelingt, sich stets nur wenige Millimeter vom Scheitelpunkt entfernt zu halten, sollte er wenigstens den Debattengegner in eine Richtung schieben, in der es auch für ihn bergabwärts geht; eine Taktik, die sich seit Jahrzehnten im politischen Geschäft bewährt hat. Nun aber liegt es in der Natur des Vorgangs, dass Akrobatik mit minimalem Bewegungsspielraum fade Vorstellungen hervorbringt, weswegen diejenigen, die Fadheit verachten, gern mal mutwillig über die Stränge schlagen und Dinge postulieren, die bereits deutlich auf der schiefen Bahn liegen. Angesichts des steilen Gefälles kommt jede Einsicht und Reue dann zu spät: Bremsen aussichtslos! Den neutralen Scheitelpunkt wieder zu erklimmen, kostet Zeit und Mühen und gelingt vielen nicht mehr, weil diese Art von Mutwilligkeit von der öffentlichen Meinung brüsk abgestraft wird.
Keine Frage, Gerhart Hauptmanns Tischgäste hatten eine solche Bürde im Februar 1915 noch nicht zu schultern. Dass geistige Positionen schon wenige Jahre später unrevidierbar mit verhängnisvollen Taten rechts wie links verknüpft sein würden, konnten sie zu ihrem Glück nicht ahnen. Wir aber sitzen in dieser Zwangsjacke fest, weil wir uns kollektiv ein seltsam monokausales Geschichtsverständnis zurechtgelegt haben, in dem aus ähnlichen Reizen stets wieder gleiche Reaktionen entstehen. Ein falsches Wort, ein ideologisch anrüchiger, weil einst von böser Seite gekaperter Gedanke, schon kippt die Situation ins Barbarische. Man kann diese Angst aus historischen Gründen nachvollziehen; aber sie verkörpert keine zukunftsfähige Haltung. Irgendwann – hoffentlich nicht zu spät – muss ein Tagebuchschreiber nach einer Abendgesellschaft wieder Sätze notieren können wie: Gegensatz Sombart – Rathenau.
Gegensatz. Nicht eiferndes Geschiebe auf dem Scheitelpunkt der intellektuellen Wasserscheide, um den anderen möglichst effektiv zu diskreditieren. Es ist Platz für viele Haltungen in der pluralistischen Gesellschaft.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Sein neues Buch "Die letzte Wahl – Therapien für die leidende Demokratie" erschien im August 2007 in der Anderen Bibliothek. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.
Warum stolperte ich darüber? Weil ich vor meinem geistigen Auge die Szene ins Jahr 2007 transportierte und mich fragte, ob in einer vergleichbaren Versammlung hochkarätiger Intellektueller heute dieselbe Lakonie möglich wäre, wie sie der "Gegensatz Sombart – Rathenau" widerspiegelt? Sie ist an sich erstaunlich, denn fantasiebegabte Menschen können sich vorstellen, dass die Differenz zwischen dem jüdischen Liberalen Rathenau und dem Nationalkonservativen Sombart bereits 1915 beträchtlich gewesen sein dürfte. Dennoch steht da nichts von unerbittlicher Auseinandersetzung, gar Streit, sondern nur der schlichte "Gegensatz" notiert. Ein Gegensatz herrscht, wenn zwei gleich starke Positionen aufeinandertreffen, sich aber dennoch gegenseitig das Existenzrecht nicht absprechen. Das erscheint heute undenkbar. Nicht hauptsächlich, weil das Thema obsolet geworden ist – zu Recht verschwand das verstaubte Wort "Deutschtum" aus dem Sprachgebrauch und taucht bestenfalls zur "Leitkultur" verbrämt hie und da wieder auf –, sondern weil politische Gesprächsfelder weiträumig vermint sind.
Wir debattieren nämlich stets auf dem Scheitelpunkt einer intellektuellen Wasserscheide. Keine Ansicht darf in sich als das ruhen, was sie nominell vertritt, sie wird immer auf ihr unsichtbares Fließgefälle bergabwärts taxiert. Also auf mögliche, ihr innewohnende Optionen der radikalen Entartung. Entweder verbirgt sich hinter einer Haltung der Strom rechts hinunter zur reaktionären Weltsicht, ja nazistischen Anfälligkeit; oder ein Bergbach links herunter ins Sammelbecken kollektivistischer Seligkeiten inklusive geheimer Umsturzpläne. Wer sich weder da noch dort eingeordnet sehen und eigentlich nur das wörtlich Gesagte ausdrücken will, muss auf der intellektuellen Wasserscheide virtuos balancieren können. Falls es ihm nicht gelingt, sich stets nur wenige Millimeter vom Scheitelpunkt entfernt zu halten, sollte er wenigstens den Debattengegner in eine Richtung schieben, in der es auch für ihn bergabwärts geht; eine Taktik, die sich seit Jahrzehnten im politischen Geschäft bewährt hat. Nun aber liegt es in der Natur des Vorgangs, dass Akrobatik mit minimalem Bewegungsspielraum fade Vorstellungen hervorbringt, weswegen diejenigen, die Fadheit verachten, gern mal mutwillig über die Stränge schlagen und Dinge postulieren, die bereits deutlich auf der schiefen Bahn liegen. Angesichts des steilen Gefälles kommt jede Einsicht und Reue dann zu spät: Bremsen aussichtslos! Den neutralen Scheitelpunkt wieder zu erklimmen, kostet Zeit und Mühen und gelingt vielen nicht mehr, weil diese Art von Mutwilligkeit von der öffentlichen Meinung brüsk abgestraft wird.
Keine Frage, Gerhart Hauptmanns Tischgäste hatten eine solche Bürde im Februar 1915 noch nicht zu schultern. Dass geistige Positionen schon wenige Jahre später unrevidierbar mit verhängnisvollen Taten rechts wie links verknüpft sein würden, konnten sie zu ihrem Glück nicht ahnen. Wir aber sitzen in dieser Zwangsjacke fest, weil wir uns kollektiv ein seltsam monokausales Geschichtsverständnis zurechtgelegt haben, in dem aus ähnlichen Reizen stets wieder gleiche Reaktionen entstehen. Ein falsches Wort, ein ideologisch anrüchiger, weil einst von böser Seite gekaperter Gedanke, schon kippt die Situation ins Barbarische. Man kann diese Angst aus historischen Gründen nachvollziehen; aber sie verkörpert keine zukunftsfähige Haltung. Irgendwann – hoffentlich nicht zu spät – muss ein Tagebuchschreiber nach einer Abendgesellschaft wieder Sätze notieren können wie: Gegensatz Sombart – Rathenau.
Gegensatz. Nicht eiferndes Geschiebe auf dem Scheitelpunkt der intellektuellen Wasserscheide, um den anderen möglichst effektiv zu diskreditieren. Es ist Platz für viele Haltungen in der pluralistischen Gesellschaft.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Sein neues Buch "Die letzte Wahl – Therapien für die leidende Demokratie" erschien im August 2007 in der Anderen Bibliothek. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.

Florian Felix Weyh© Katharina Meinel