Gegen das Vergessen

Die Protagonistin in Anna Enquists Roman "Kontrapunkt" hat ihre Tochter durch einen Unfall verloren. Die Erinnerung an ihr Kind droht zu verblassen. Durch Johann Sebastian Bachs "Goldberg-Variationen" findet die Frau einen erneuten Zugang zur Vergangenheit.
Die 1945 geborene Niederländerin Anna Enquist, Konzertpianistin und Psychoanalytikerin, widmet sich seit Anfang der 1990er-Jahre dem Schreiben von (preisgekrönten) Gedichten, Erzählungen und Romanen ("Das Meisterstück", 1995; "Letzte Reise", 2005). Soeben erschien "Kontrapunkt", ein Roman über Erinnerung und über Musik. "Die Frau" oder "die Mutter", wie die Protagonistin genannt wird, sucht in ihm verzweifelt Wege gegen das Vergessen, seit ihre erwachsene Tochter bei einem Unfall ums Leben gekommen ist: "Die Erinnerungen waren zu blassen Gemeinplätzen geschrumpft, die niemandes Interesse würden wecken können. Sie konnte nichts über die Tochter erzählen, sie kannte die Tochter nicht."

Und doch: Die Mutter, eine ausgebildete Konzertpianistin, kann etwas über die Tochter erzählen. Sie findet den Zugang zu ihren wirklichen Erinnerungen in Johann Sebastian Bachs "Goldberg-Variationen" (1741), die sie sich zum ersten Mal seit ihrer Ausbildung wieder vornimmt und monatelang erarbeitet: 30 Variationen über eine Aria, die den Zyklus beginnt und beendet und am Ende aufgrund der dazwischen liegenden Hörerfahrung nicht mehr dieselbe ist wie zu Beginn. Solche Verwandlungen geschehen auch in der Erinnerung und durch sie. Die brillante, widersprüchliche, sich unterschiedlichen Interpretationen darbietende Musik schafft der Frau einen zeitlosen Raum, in dem sie dennoch unablässig Zeit erfährt. Die Komposition Bachs beschäftigt sie und fordert ihre technischen und interpretativen Fähigkeiten. Viel wichtiger aber ist: Während die rationale Komposition ihren Verstand beschäftigt, rührt die Expressivität der Musik ihre Gefühle auf und macht ihr so den Weg frei in die Vergangenheit. Die verschiedenen "Stimmen", die in der Musik nebeneinander verlaufen, sich kreuzen, streiten, zueinander oder auseinander bewegen, rufen Szenen aus dem Leben der Tochter herauf – und dem der Mutter, die das Kind geboren hat, groß zog, ins Erwachsenenleben hat entlassen müssen, seinen Tod erlebte und immer mit allen Fasern mit ihm verbunden bleibt. Am Ende ihres Spiels und des Romans erfährt sie einen absoluten Moment von Zeitlosigkeit: "Jetzt spielt sie, jetzt und allzeit spielt die Frau die Aria für ihre Tochter."

Die 32 Kapitel des Romans entsprechen der Folge der Goldberg-Variationen, die Kapitelüberschriften sind die Bezeichnungen der Variationen, jedem Kapitel ist eine Notation vorangestellt.

Der Unterschied zwischen den blassen, abgenutzten, jederzeit abrufbaren äußerlichen Erinnerungen, die hier als "Gemeinplätze" bezeichnet werden und eher Zeichen des Vergessens sind, und jenen "echten" Erinnerungen, die die Vergangenheit lebendig halten, ist Gegenstand bedeutender philosophischer und literarischer Werke (etwa Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"). Anna Enquist gewinnt dem Thema durch die Verbindung mit der Musik Bachs, die die Protagonistin nicht etwa passiv-sentimental genießt, sondern sich hart erarbeitet, eine aufregende neue Dimension ab.

Rezensiert von Gertrud Lehnert

Anna Enquist: Kontrapunkt
Roman
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Luchterhand Literaturverlag, München 2008
220 Seiten, 17,95 Euro