Gegen das Vergessen
In einem NS-Kriegsgefangenlager in Polen schrieb der französische Musiker Olivier Messiaen, einer der bedeutendsten französischen Komponisten der Gegenwart, sein "Quartett auf das Ende der Zeit". Am 15. Januar 1941 wurde dort das Stück von Mitgefangenen uraufgeführt. Heute finden sich die Reste des Lagers unweit der deutschen-polnischen Grenze bei Görlitz.
Unterstützt vom Volksbund für Kriegsgräberfürsorge, der Bundeskulturstiftung, den Verwaltungen der Städte Zgorzelec und Görlitz, restaurieren Jugendliche und junge Erwachsene aus ganz Europa als freiwillige Helfer das ehemalige Lagergelände, um den Ort vor dem Vergessen zu bewahren.
Der Verkehr rollt auf der Landstrasse Richtung Zgorzelec, einer polnischen Kleinstadt an der Neiße. Am Straßenrand eine weiße Informationstafel: "Stalag VIII A ", steht da.
Darüber spannen sich gut zwei Meter Stacheldraht. "Stalag" – Das stand 1939 für Stammlager. Drei Wochen nach Kriegsbeginn internierten die Nationalsozialisten hier die ersten Gefangenen.
Goetze: "Ich bin hier hergefahren, um diesen Ort zu sehen, an dem diese unglaubliche Musik entstanden ist."
Sagt Albrecht Goetze, Komponist und Kulturwissenschaftler. Der Mittsechziger steht in einem Birken- und Fichtenwald auf dem Gelände des ehemaligen Stammlagers. Neben einem knapp drei Meter hohen, schlanken Gedenkstein. Vor acht Jahren kam Goetze das erste Mal hierher auf die polnische Neiße-Seite. Auf den Spuren des französischen Komponisten Olivier Messiaen.
Goetze: "Ich bin aus München hergefahren. Und ich habe den Ort gar nicht finden können, weil er damals, das war im Jahr 2002, wie ein Naturschutzgebiet wirkte."
Neben dem Gedenkstein brennen drei Grablichter im Schnee. Eine große Stein-Platte ist mit Moos bewachsen, die Inschrift kaum lesbar.
Goetze: "Dieses Lager existierte von 1939 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, also die Befreiung war am 8.Mai 1945. Und während dieser Zeit sind durch dieses Lager etwa 120.000 Kriegsgefangene gegangen."
Einer der Gefangenen war der 32-jährige Olivier Messiaen. Der in der französischen Armee seinen Wehrdienst als Sanitäter ableistete
Goetze: "Messiaen ist mit vielen tausend Kriegsgefangenen, die durch den Überfall auf Frankreich und die rasche Kapitulation Frankreichs, Deutschland erst mal vor das scheinbare Problem stellten, das sie irgendwo hin mussten, er ist drei Tage lang quer durch Europa gefahren worden, in einem Viehwagon, nach Görlitz."
Messiaen, Sohn eines Shakespeare-Übersetzers und einer Dichterin, galt schon damals als einer der begabtesten Orgel-Musiker der Grande Nation. Das Stalag VIII a besteht bei Messiaens Ankunft aus mehreren Dutzend Baracken. In jeder sind bis zu 500 Häftlinge untergebracht.
Mehrere tausend Gefangene müssen in Zelten leben. Der Platz ist eng, das Essen reicht nie. 10.000 Gefangene sterben. Viele verhungern, andere werden ermordet. Trotz Hunger und Kälte komponiert Messiaen hier eines seiner bekanntesten Stücke.
Goetze: "Er hat eine Komposition geschrieben, die ein musikalischer Quantensprung ist. Die drei Musiker die das mit ihm uraufgeführt haben, die haben ihm bis zur Uraufführung immer wieder bedrängt und haben gesagt, das ist unspielbar, das ist unmöglich was Du verlangst."
Nach einer ersten Probe in der Waschküche spielen am 15. Januar 1941 die vier Musiker erstmals das Stück "Quatuor pour la fin du temps". Das Quartett auf das Ende der Zeit. 500 Gefangene und ihre Bewacher lauschen in der sogenannten Theaterbarracke. Deren Reste sind mittlerweile gefunden worden, freut sich Goetze:
"Es wurde nämlich von den Wissenschaftlern und den Jugendlichen diese Theaterbaracke, in der diese Uraufführung stattgefunden hat ... die wurde freigelegt,"
Das Ergebnis eines internationalen Arbeitseinsatzes. Seit drei Jahren kommen Jugendliche und junge Erwachsene aus ganz Europa auf das Stalag-Gelände. Gehen jeden Sommer auf Spurensuche.
Unterstützt von den Stadtverwaltungen aus Zgorzelec und Görlitz, von polnischen und deutschen Stiftungen. Jugendliche aus zehn Nationen waren im vergangenen Sommer im Einsatz. Um Spuren zu sichern und gemeinsam Geschichte zu erleben.
Wie jeden Morgen rollt ein weißer Bundeswehrbus über den Kiesweg auf das Gelände des Stalag VIII a. Der Fahrer öffnet die Türen, entriegelt die Ladeluken.
Knapp 30 Jugendliche steigen aus. Die meisten sehen müde aus. Strecken sich in der Morgenluft. Ein polnisch, russisch, englisch-deutsches Sprachgewirr schallt über den Platz. Eine 19-Jährige steht vor der offenen Ladeluke, greift zu Schaufel und Eimer.
Melanie: "Ich habe nicht damit gerechnet, dass wir hier wie Archäologen arbeiten. Und Ausgrabungen machen. Ich dachte wir pflegen Friedhöfe. Darum war das hier eine Überraschung. Und ich war erstaunt, wie viele Dinge wir gefunden haben. Haken zum Beispiel, Ketten-Teile. Das ist interessant für mich, faszinierend."
Melania streift die Arbeitshandschuhe über. Sie hat ihre Kleidung dem Einsatz angepasst: Robuste Jeans, schwere Schuhe, ein altes T-Shirt. Die schulterlangen blonden Haare hat sie zum Pferdeschwanz gebunden. Die 19jährige hat an der Universität in Poznan, früher Posen, von dem Projekt gehört. Und sich gleich angemeldet.
Neben ihr steht Asha, 16 Jahre, ebenfalls aus Poznan. Sie hat von ihrer Geschichtslehrerin vom Workcamp erfahren. Jetzt steht sie vor der Ladeluke, scherzt mit Illja aus Weißrussland auf Deutsch. Tuschelt mit Natascha aus Russland auf Englisch.
Asha: "Zehn Länder ich glaube, das ist Bulgarien, Frankreich, Weißrussland, Polen, Moldawien, Litauen, Deutschland und Ukraine ..."
Die Arbeitssprache hier im workcamp ist Englisch. Die Hilfssprachen Deutsch und Russisch. Ansonsten helfen Hände und Füße. Auch bei der Einsatzplanung
Melania stellt Schaufel und Eimer zur Seite, zeigt Kolja den Weg zu seiner Arbeitsstelle. Aufräumarbeiten in der Nähe der russischen Soldatengräber. Dann geht die polnische Studentin zurück zum Bus...
Melania: "Wir arbeiten hier in unserer Freizeit. Wir machen das, weil wir Leute kennenlernen wollen. Wir wollen etwas entdecken, wir wollen dazu beitragen, dass die Menschen sich an die Geschichte dieses Lagers erinnern, an das, was hier passiert ist."
Gestern haben sie einen Vortrag über das Lagerleben gehört. Etwas über den französischen Komponisten Messiaen erfahren. Heute steht wieder eine Ausgrabung auf dem Programm.
Melania schultert die Schaufel. Ihre Freundin Asha nimmt den Eimer. Die beiden arbeiten zum ersten Mal hier.
Für die Geschichte des zweiten Weltkrieges hat sie sich immer schon interessiert, sagt Melania. Warum? Da zuckt die Medizin-Studentin mit den Schultern. Alle Polen interessieren sich dafür, sagt sie.
Melania: "In der Oberstufe habe ich an einem Projekt über den Zweiten Weltkrieg teilgenommen. Es ging darum, wie ihn die Kinder erlebt haben. Ich habe meine Oma interviewt und meinen Vater. Sie haben mir viele Geschichten über den Krieg erzählt."
Und sie hat sie aufgesogen. Ihr Vater berichtete, dass ihm deutsche Offiziere einmal Bonbons geschenkt haben. Und eigentlich ganz nett waren. Plötzlich aber verschwanden seine jüdischen Freunde. Und wurden umgebracht.
Melania: "Meine Großmutter hat während des Krieges in einer deutschen Fabrik gearbeitet. Sie hat das nicht mal so schlimm in Erinnerung. Sie sagte mir, sie hat die Kriegsatmosphäre erst kaum gespürt. Bis zu dem Tag, als alle vor der Fabrik antreten mussten. Und die Vorgesetzten Leute aussuchten: Du, Du, Du und Du. Und die wurden nach Frankreich deportiert."
Illja aus Weißrussland hört aufmerksam zu, während Melania erzählt. Vor zwei Jahren hat er in der Nähe von Minsk an einem internationalen Camp der Volksgräberfürsorge teilgenommen. Und einen Soldatenfriedhof gepflegt. Da hörte er von dem Workcamp an der Neiße.
25 Euro plus Anreise kostete ihn die Teilnahme. Ausflüge nach Dresden und Prag inklusive. Illja studiert in Minsk Journalistik, schreibt nebenbei für eine kleine Kulturzeitschrift. Für die will er auch über seine Arbeit hier im Stalag berichten. Und über die Geschichte des Musikers Messiaen.
Birken wachsen heute überall auf dem ehemaligen Lagergelände.
Dazwischen liegen vereinzelt Müllhaufen. Die Jugendlichen tragen den Abfall am Straßenrand zusammen. Die polnische Stadtreinigung wird ihn abholen.
Unweit der Straße spannt sich eine dünne rote Schnur zwischen den Bäumen, gut 20 Meter lang. Für die nächsten Stunden der Arbeitsort für Melania, Asha und Illja.
Melania: "Hier war eines der deutschen Verwaltungsgebäude. Wir versuchen, den Eingang zu finden. Der muss hier irgendwo in diesem Korridor liegen."
Zehn Meter weiter kniet Barbara Schulz, eine Maurerkelle in der Hand. Alle hier nennen sie Bärbel. Die Architektin und Denkmalpflegerin leitet die Grabungen. Sie ist auf die Sicherung von Kriegsgräber und Gefangenlager spezialisiert.
Schulz: "Wir haben hier sehr befremdliche Befunde (greift in Plastiktüte) eine Kuh ... ich denke, das ist Porzellan, wahrscheinlich war hier noch eine zweite Kuh dran ... , wir haben hier etwas, was mehr an Ausstattung erinnert."
Ein großer Teil des Stils fehlt, die Kelle aber ist gut erhalten. Barbara Schulz verstaut sie in einer Plastiktüte. Seit zwei Jahren koordiniert Schulz die Sicherungsarbeiten, protokolliert zusammen mit polnischen Wissenschaftlern jedes Fundstück auf dem Stalag-Gelände.
Schulz: "Das ist das besondere von vielen Lagern, die auf polnischem Gebiet sind, da ist hinterher nicht viel passiert. Die sind zwar alle abgetragen worden, wie eigentlich auch in der Bundesrepublik, hier ist das Gelände dann quasi brach liegen geblieben, so das man hier noch den Zustand hat des Lagers nach Rückbau, das heißt, der ist einfach nur überwaldet, während eben andernorts in Deutschland Gewerbegebiete entstanden sind. Und gar nicht mehr das gesamte Lager vorhanden ist."
Hier aber hat sich kaum etwas verändert. Die hölzernen Gebäudeteile über der Erde sind zwar verschwunden. Die Fundamente und Grundrisse aber noch vorhanden. Die alte Lagerstrasse verläuft heute noch über das Gelände, wird von Forstarbeitern genutzt. Selbst die Splitterschutzgräben sind noch erkennbar.
Melania, Asha und Illia stoßen mit den Schaufeln auf Metall. Unterbrechen kurz die Arbeiten. Zeit für eine Pause. Melania hockt sich ins Gras. Blickt nachdenklich. 120.000 Gefangene waren hier während des Zweiten Weltkrieges interniert, mehr als 10.000 starben. Manche verhungerten, viele wurden bestialisch ermordet
Melania: "Ich versuche, nicht daran zu denken. Sonst könnte ich hier nicht arbeiten. Wenn ich die ganze Zeit daran denken würde, dann wäre ich die ganze Zeit betroffen. Das wäre zu heftig."
Melania wischt sich den Schweiß von der Stirn. Streift die Handschuhe ab, holt eine Mineralwasserflasche aus dem Rucksack.
Melania: "Ich finde, wir sollten uns über die Geschichte informieren. Aber wir müssen nichts gegen die Deutschen haben. Einige in Polen sagen immer noch: Deutsche – nein, danke. Aber ich sehe das anders. Ich habe dort eine Menge Freunde gefunden. Ich denke, es ist ein wundervolles Land, mit richtig netten Leuten."
Die 16-jährige Asha steht daneben. Und nickt. Das Grauen der Geschichte ist immer noch gegenwärtig. Aber Freundschaften bestimmen die Gegenwart. Vielleicht, sagen die beiden Polinnen, werden sie auch beim nächsten Arbeitseinsatz im Stalag VIII a dabei sein.
Goetze: "Man hat 30 Hektar auf dem sich wie bei eine Spurensuche ein Kriegsgefangenlager geradezu abbildet, und alles freizulegen und zu sichern, werden wir ungefähr 10 Jahre brauchen, um eine Erinnerungslandschaft zu schaffen."
Sagt Albrecht Goetze. Auch im kommenden Sommer wird daher wieder ein Workcamp stattfinden. Auf dem Gelände soll in Zukunft ein Begegnungszentrum entstehen. Für Jugendliche und Künstler aus ganze Europa. Arbeitstitel: Meetingpoint Music Messiaen.
Der Musiker Messiaen konnte das Lager im Frühjahr 1941 verlassen. Das Vichy-Regime hatte mit den Nationalsozialisten eine Vereinbarung geschlossen, dass Väter kinderreicher Familien nach Frankreich zurückkehren konnten.
Goetze: "Und das heißt, dass viele Franzosen aus dem Stalag VII A schon im späten Frühjahr 1941 nach Frankreich zurückgebracht wurden. Und dank dem Mut eines deutschen Offiziers, wurden die vier Musiker, die dieses Stück hier aufgeführt haben unter diese Gruppe gemogelt, obwohl M. alles andere als ein Familienvater mit vielen, vielen Kindern war ..."
Mittlerweile unterstützen Musiker aus ganz Europa das Projekt. Die Berliner Philharmoniker ebenso wie ihre Warschauer Kollegen. Immer wieder geben sie auf dem Gelände des ehemaligen Stammlagers Konzerte. Um Olivier Messiaen zu ehren.
Goetze: "Aus diesem Grund sind dann Künstler wie Myung Whung Chung, Antoni Wit, aus Warschau, aus Paris und aus London genau an diesen Ort gekommen, weil der für die musikalische Entwicklung Europas eine entscheidende Bedeutung hat ..."
Und so werden am kommenden Freitag wieder vier Musiker - diesmal aus Deutschland, Polen, der Tschechischen Republik und der Ukraine - in einem Zelt auf dem Gelände des Stalag VIII a zu ihren Instrumenten greifen. Und das Quartett auf das Ende der Zeit spielen. 69 Jahre nach seiner Uraufführung.
Der Verkehr rollt auf der Landstrasse Richtung Zgorzelec, einer polnischen Kleinstadt an der Neiße. Am Straßenrand eine weiße Informationstafel: "Stalag VIII A ", steht da.
Darüber spannen sich gut zwei Meter Stacheldraht. "Stalag" – Das stand 1939 für Stammlager. Drei Wochen nach Kriegsbeginn internierten die Nationalsozialisten hier die ersten Gefangenen.
Goetze: "Ich bin hier hergefahren, um diesen Ort zu sehen, an dem diese unglaubliche Musik entstanden ist."
Sagt Albrecht Goetze, Komponist und Kulturwissenschaftler. Der Mittsechziger steht in einem Birken- und Fichtenwald auf dem Gelände des ehemaligen Stammlagers. Neben einem knapp drei Meter hohen, schlanken Gedenkstein. Vor acht Jahren kam Goetze das erste Mal hierher auf die polnische Neiße-Seite. Auf den Spuren des französischen Komponisten Olivier Messiaen.
Goetze: "Ich bin aus München hergefahren. Und ich habe den Ort gar nicht finden können, weil er damals, das war im Jahr 2002, wie ein Naturschutzgebiet wirkte."
Neben dem Gedenkstein brennen drei Grablichter im Schnee. Eine große Stein-Platte ist mit Moos bewachsen, die Inschrift kaum lesbar.
Goetze: "Dieses Lager existierte von 1939 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, also die Befreiung war am 8.Mai 1945. Und während dieser Zeit sind durch dieses Lager etwa 120.000 Kriegsgefangene gegangen."
Einer der Gefangenen war der 32-jährige Olivier Messiaen. Der in der französischen Armee seinen Wehrdienst als Sanitäter ableistete
Goetze: "Messiaen ist mit vielen tausend Kriegsgefangenen, die durch den Überfall auf Frankreich und die rasche Kapitulation Frankreichs, Deutschland erst mal vor das scheinbare Problem stellten, das sie irgendwo hin mussten, er ist drei Tage lang quer durch Europa gefahren worden, in einem Viehwagon, nach Görlitz."
Messiaen, Sohn eines Shakespeare-Übersetzers und einer Dichterin, galt schon damals als einer der begabtesten Orgel-Musiker der Grande Nation. Das Stalag VIII a besteht bei Messiaens Ankunft aus mehreren Dutzend Baracken. In jeder sind bis zu 500 Häftlinge untergebracht.
Mehrere tausend Gefangene müssen in Zelten leben. Der Platz ist eng, das Essen reicht nie. 10.000 Gefangene sterben. Viele verhungern, andere werden ermordet. Trotz Hunger und Kälte komponiert Messiaen hier eines seiner bekanntesten Stücke.
Goetze: "Er hat eine Komposition geschrieben, die ein musikalischer Quantensprung ist. Die drei Musiker die das mit ihm uraufgeführt haben, die haben ihm bis zur Uraufführung immer wieder bedrängt und haben gesagt, das ist unspielbar, das ist unmöglich was Du verlangst."
Nach einer ersten Probe in der Waschküche spielen am 15. Januar 1941 die vier Musiker erstmals das Stück "Quatuor pour la fin du temps". Das Quartett auf das Ende der Zeit. 500 Gefangene und ihre Bewacher lauschen in der sogenannten Theaterbarracke. Deren Reste sind mittlerweile gefunden worden, freut sich Goetze:
"Es wurde nämlich von den Wissenschaftlern und den Jugendlichen diese Theaterbaracke, in der diese Uraufführung stattgefunden hat ... die wurde freigelegt,"
Das Ergebnis eines internationalen Arbeitseinsatzes. Seit drei Jahren kommen Jugendliche und junge Erwachsene aus ganz Europa auf das Stalag-Gelände. Gehen jeden Sommer auf Spurensuche.
Unterstützt von den Stadtverwaltungen aus Zgorzelec und Görlitz, von polnischen und deutschen Stiftungen. Jugendliche aus zehn Nationen waren im vergangenen Sommer im Einsatz. Um Spuren zu sichern und gemeinsam Geschichte zu erleben.
Wie jeden Morgen rollt ein weißer Bundeswehrbus über den Kiesweg auf das Gelände des Stalag VIII a. Der Fahrer öffnet die Türen, entriegelt die Ladeluken.
Knapp 30 Jugendliche steigen aus. Die meisten sehen müde aus. Strecken sich in der Morgenluft. Ein polnisch, russisch, englisch-deutsches Sprachgewirr schallt über den Platz. Eine 19-Jährige steht vor der offenen Ladeluke, greift zu Schaufel und Eimer.
Melanie: "Ich habe nicht damit gerechnet, dass wir hier wie Archäologen arbeiten. Und Ausgrabungen machen. Ich dachte wir pflegen Friedhöfe. Darum war das hier eine Überraschung. Und ich war erstaunt, wie viele Dinge wir gefunden haben. Haken zum Beispiel, Ketten-Teile. Das ist interessant für mich, faszinierend."
Melania streift die Arbeitshandschuhe über. Sie hat ihre Kleidung dem Einsatz angepasst: Robuste Jeans, schwere Schuhe, ein altes T-Shirt. Die schulterlangen blonden Haare hat sie zum Pferdeschwanz gebunden. Die 19jährige hat an der Universität in Poznan, früher Posen, von dem Projekt gehört. Und sich gleich angemeldet.
Neben ihr steht Asha, 16 Jahre, ebenfalls aus Poznan. Sie hat von ihrer Geschichtslehrerin vom Workcamp erfahren. Jetzt steht sie vor der Ladeluke, scherzt mit Illja aus Weißrussland auf Deutsch. Tuschelt mit Natascha aus Russland auf Englisch.
Asha: "Zehn Länder ich glaube, das ist Bulgarien, Frankreich, Weißrussland, Polen, Moldawien, Litauen, Deutschland und Ukraine ..."
Die Arbeitssprache hier im workcamp ist Englisch. Die Hilfssprachen Deutsch und Russisch. Ansonsten helfen Hände und Füße. Auch bei der Einsatzplanung
Melania stellt Schaufel und Eimer zur Seite, zeigt Kolja den Weg zu seiner Arbeitsstelle. Aufräumarbeiten in der Nähe der russischen Soldatengräber. Dann geht die polnische Studentin zurück zum Bus...
Melania: "Wir arbeiten hier in unserer Freizeit. Wir machen das, weil wir Leute kennenlernen wollen. Wir wollen etwas entdecken, wir wollen dazu beitragen, dass die Menschen sich an die Geschichte dieses Lagers erinnern, an das, was hier passiert ist."
Gestern haben sie einen Vortrag über das Lagerleben gehört. Etwas über den französischen Komponisten Messiaen erfahren. Heute steht wieder eine Ausgrabung auf dem Programm.
Melania schultert die Schaufel. Ihre Freundin Asha nimmt den Eimer. Die beiden arbeiten zum ersten Mal hier.
Für die Geschichte des zweiten Weltkrieges hat sie sich immer schon interessiert, sagt Melania. Warum? Da zuckt die Medizin-Studentin mit den Schultern. Alle Polen interessieren sich dafür, sagt sie.
Melania: "In der Oberstufe habe ich an einem Projekt über den Zweiten Weltkrieg teilgenommen. Es ging darum, wie ihn die Kinder erlebt haben. Ich habe meine Oma interviewt und meinen Vater. Sie haben mir viele Geschichten über den Krieg erzählt."
Und sie hat sie aufgesogen. Ihr Vater berichtete, dass ihm deutsche Offiziere einmal Bonbons geschenkt haben. Und eigentlich ganz nett waren. Plötzlich aber verschwanden seine jüdischen Freunde. Und wurden umgebracht.
Melania: "Meine Großmutter hat während des Krieges in einer deutschen Fabrik gearbeitet. Sie hat das nicht mal so schlimm in Erinnerung. Sie sagte mir, sie hat die Kriegsatmosphäre erst kaum gespürt. Bis zu dem Tag, als alle vor der Fabrik antreten mussten. Und die Vorgesetzten Leute aussuchten: Du, Du, Du und Du. Und die wurden nach Frankreich deportiert."
Illja aus Weißrussland hört aufmerksam zu, während Melania erzählt. Vor zwei Jahren hat er in der Nähe von Minsk an einem internationalen Camp der Volksgräberfürsorge teilgenommen. Und einen Soldatenfriedhof gepflegt. Da hörte er von dem Workcamp an der Neiße.
25 Euro plus Anreise kostete ihn die Teilnahme. Ausflüge nach Dresden und Prag inklusive. Illja studiert in Minsk Journalistik, schreibt nebenbei für eine kleine Kulturzeitschrift. Für die will er auch über seine Arbeit hier im Stalag berichten. Und über die Geschichte des Musikers Messiaen.
Birken wachsen heute überall auf dem ehemaligen Lagergelände.
Dazwischen liegen vereinzelt Müllhaufen. Die Jugendlichen tragen den Abfall am Straßenrand zusammen. Die polnische Stadtreinigung wird ihn abholen.
Unweit der Straße spannt sich eine dünne rote Schnur zwischen den Bäumen, gut 20 Meter lang. Für die nächsten Stunden der Arbeitsort für Melania, Asha und Illja.
Melania: "Hier war eines der deutschen Verwaltungsgebäude. Wir versuchen, den Eingang zu finden. Der muss hier irgendwo in diesem Korridor liegen."
Zehn Meter weiter kniet Barbara Schulz, eine Maurerkelle in der Hand. Alle hier nennen sie Bärbel. Die Architektin und Denkmalpflegerin leitet die Grabungen. Sie ist auf die Sicherung von Kriegsgräber und Gefangenlager spezialisiert.
Schulz: "Wir haben hier sehr befremdliche Befunde (greift in Plastiktüte) eine Kuh ... ich denke, das ist Porzellan, wahrscheinlich war hier noch eine zweite Kuh dran ... , wir haben hier etwas, was mehr an Ausstattung erinnert."
Ein großer Teil des Stils fehlt, die Kelle aber ist gut erhalten. Barbara Schulz verstaut sie in einer Plastiktüte. Seit zwei Jahren koordiniert Schulz die Sicherungsarbeiten, protokolliert zusammen mit polnischen Wissenschaftlern jedes Fundstück auf dem Stalag-Gelände.
Schulz: "Das ist das besondere von vielen Lagern, die auf polnischem Gebiet sind, da ist hinterher nicht viel passiert. Die sind zwar alle abgetragen worden, wie eigentlich auch in der Bundesrepublik, hier ist das Gelände dann quasi brach liegen geblieben, so das man hier noch den Zustand hat des Lagers nach Rückbau, das heißt, der ist einfach nur überwaldet, während eben andernorts in Deutschland Gewerbegebiete entstanden sind. Und gar nicht mehr das gesamte Lager vorhanden ist."
Hier aber hat sich kaum etwas verändert. Die hölzernen Gebäudeteile über der Erde sind zwar verschwunden. Die Fundamente und Grundrisse aber noch vorhanden. Die alte Lagerstrasse verläuft heute noch über das Gelände, wird von Forstarbeitern genutzt. Selbst die Splitterschutzgräben sind noch erkennbar.
Melania, Asha und Illia stoßen mit den Schaufeln auf Metall. Unterbrechen kurz die Arbeiten. Zeit für eine Pause. Melania hockt sich ins Gras. Blickt nachdenklich. 120.000 Gefangene waren hier während des Zweiten Weltkrieges interniert, mehr als 10.000 starben. Manche verhungerten, viele wurden bestialisch ermordet
Melania: "Ich versuche, nicht daran zu denken. Sonst könnte ich hier nicht arbeiten. Wenn ich die ganze Zeit daran denken würde, dann wäre ich die ganze Zeit betroffen. Das wäre zu heftig."
Melania wischt sich den Schweiß von der Stirn. Streift die Handschuhe ab, holt eine Mineralwasserflasche aus dem Rucksack.
Melania: "Ich finde, wir sollten uns über die Geschichte informieren. Aber wir müssen nichts gegen die Deutschen haben. Einige in Polen sagen immer noch: Deutsche – nein, danke. Aber ich sehe das anders. Ich habe dort eine Menge Freunde gefunden. Ich denke, es ist ein wundervolles Land, mit richtig netten Leuten."
Die 16-jährige Asha steht daneben. Und nickt. Das Grauen der Geschichte ist immer noch gegenwärtig. Aber Freundschaften bestimmen die Gegenwart. Vielleicht, sagen die beiden Polinnen, werden sie auch beim nächsten Arbeitseinsatz im Stalag VIII a dabei sein.
Goetze: "Man hat 30 Hektar auf dem sich wie bei eine Spurensuche ein Kriegsgefangenlager geradezu abbildet, und alles freizulegen und zu sichern, werden wir ungefähr 10 Jahre brauchen, um eine Erinnerungslandschaft zu schaffen."
Sagt Albrecht Goetze. Auch im kommenden Sommer wird daher wieder ein Workcamp stattfinden. Auf dem Gelände soll in Zukunft ein Begegnungszentrum entstehen. Für Jugendliche und Künstler aus ganze Europa. Arbeitstitel: Meetingpoint Music Messiaen.
Der Musiker Messiaen konnte das Lager im Frühjahr 1941 verlassen. Das Vichy-Regime hatte mit den Nationalsozialisten eine Vereinbarung geschlossen, dass Väter kinderreicher Familien nach Frankreich zurückkehren konnten.
Goetze: "Und das heißt, dass viele Franzosen aus dem Stalag VII A schon im späten Frühjahr 1941 nach Frankreich zurückgebracht wurden. Und dank dem Mut eines deutschen Offiziers, wurden die vier Musiker, die dieses Stück hier aufgeführt haben unter diese Gruppe gemogelt, obwohl M. alles andere als ein Familienvater mit vielen, vielen Kindern war ..."
Mittlerweile unterstützen Musiker aus ganz Europa das Projekt. Die Berliner Philharmoniker ebenso wie ihre Warschauer Kollegen. Immer wieder geben sie auf dem Gelände des ehemaligen Stammlagers Konzerte. Um Olivier Messiaen zu ehren.
Goetze: "Aus diesem Grund sind dann Künstler wie Myung Whung Chung, Antoni Wit, aus Warschau, aus Paris und aus London genau an diesen Ort gekommen, weil der für die musikalische Entwicklung Europas eine entscheidende Bedeutung hat ..."
Und so werden am kommenden Freitag wieder vier Musiker - diesmal aus Deutschland, Polen, der Tschechischen Republik und der Ukraine - in einem Zelt auf dem Gelände des Stalag VIII a zu ihren Instrumenten greifen. Und das Quartett auf das Ende der Zeit spielen. 69 Jahre nach seiner Uraufführung.