Gegen das Vergessen

19.08.2009
Vom Hals an aufwärts mit einem Sauerstoffhelm fixiert, im rechten Arm ein Infusionsschlauch, der radioaktive Flüssigkeit in den Körper leitet, im linken ein schmerzhafter Zugang, durch den alle paar Sekunden Blut abgenommen wird.
So sieht nur eine der vielen Prozeduren aus, denen sich die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Sue Halpern unterzog, um für ihr neues Buch "Memory" zu recherchieren. (Der Titel schöner im Englischen: "I can‘t remember what I forgot" - "Ich kann mich nicht erinnern, was ich vergaß").

Auch wenn die Themen Demenzerkrankungen und Alzheimer immer wieder aufgegriffen werden, legt die Autorin den Schwerpunkt ihres Buches doch auf die gesunden Funktionen des menschlichen Gedächtnisses. Um sie zu erkunden, lässt die Autorin ihren eigenen Kopf auf vielfältige Weise durchleuchten und besucht Gehirnforscher, Wissenschaftsinstitute und Gedächtnismeisterschaften.

Dramaturgisch geschickt stellt sie an den Anfang ihres Buches eine anrührende Begegnung mit ihrem alternden und vergesslicher werdenden Vater. Von dort aus lässt sie uns teilhaben an ihrer eigenen Erkundung des Themas.

Die Forschung kennt inzwischen eine Reihe von Gehirnstrukturen, die für Gedächtnisleistungen unentbehrlich sind: Immer wieder stößt die Autorin auf die wichtige Rolle des präfrontalen Cortex - eines Teils des Frontallappens der Großhirnrinde. Hier hat das sogenannte Arbeitsgedächtnis seinen Sitz. Der präfrontale Cortex empfängt Sinnesinformationen aus der Umwelt und verbindet sie mit Inhalten des Langzeitgedächtnisses sowie emotionalen Bewertungen aus dem limbischen System. Dieses Zusammenspiel machen wir dann zur Grundlage unseres aktuellen Handelns. Andere Formen des Gedächtnisses beruhen auf der Vernetzung einer Vielzahl von Gehirnarealen.

Sue Halpern will mit ihrem Buch übertriebenen Ängsten vor Demenzerkrankungen vorbeugen: Auch das gesunde Gehirn liefert keineswegs fotografisch exakte, allzeit verlässliche Gedächtnisinhalte. Stress beispielsweise mindert merklich die Fähigkeit, sich zu erinnern - bis zum gefürchteten Blackout bei Prüfungen. Die Schaltkreise des präfrontalen Cortex treten dann nicht mehr miteinander in Verbindung, erläutert die Autorin. Ihr eigenes visuelles Gedächtnis, das sie schon immer als recht unzuverlässig empfand, wurde in einer Untersuchung sogar als "gestört" diagnostiziert.

Die meisten Informationen - Gespräche, Beobachtungen, Geschmackserlebnisse - werden ohnehin nie in unserem Gedächtnis gespeichert. Untersuchungen an gesunden Studenten ergaben, dass die wenigsten von ihnen sich nach einer Vorlesung auch nur an drei Aspekte korrekt erinnern konnten. Auch eine zunehmende Vergesslichkeit im Alter ist normal: Schon ab Ende 20 nimmt das abstrakte Denkvermögen des Gehirns ab und schon bei Enddreißigern büßt das Gedächtnis zunehmend an Leistung ein.

"Memory" ist kein Nachschlagewerk - es will von vorne nach hinten gelesen werden. Auch wenn Sue Halpern thematisch bisweilen sehr hin und her springt: Ihr humorvoller Stil, ihre persönliche Herangehensweise und die vielen aktuellen Forschungsergebnisse machen das Buch - ausgezeichnet ins Deutsche übertragen von Sebastian Vogel - zu einer spannenden Lesereise in die Geheimnisse unserer Erinnerungsfähigkeit.

Besprochen von Susanne Billig

Sue Halpern: Memory! Neues über unser Gedächtnis
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009
260 Seiten, 14,90 Euro