Gefühlvoller Beobachter und glänzender Schreiber

Rezensiert von Ulfried Geuter · 05.05.2006
Dieses Buch ist ein Klassiker. Und es ist unter all den vielen Büchern, die es über Sigmund Freud gibt, etwas ganz Besonderes: Wunderbar gestaltet stellt der Band "Sigmund Freud. Sein Leben in Bildern und Texten" in 357 Fotografien und faksimilierten Dokumenten Freud vor, jedes Bild ergänzt um einen kurzen Text, Passagen aus Briefen und Werken Freuds oder aus Briefen an ihn und Darstellungen anderer.
Eine Bild-Biografie, zu der Ilse Grubrich-Simitis in ihrer Vorbemerkung zur Neuauflage stolz schreibt, sie habe die Vorlage für andere Bildbiografien abgegeben.

Vorangestellt ist eine 30-seitige "biografische Skizze” aus der Feder des langjährigen Leiters des Sigmund-Freud-Archivs, Kurt R. Eissler (dessen Vorname unverständlicherweise nicht mitgeteilt wird). Eissler zeichnet Freuds Leben von der Geburt im mährischen Städtchen Freiberg 1856 bis zu seinem Tod 1939 in London. Dazwischen liegen 78 Jahre, in denen Freud in Wien lebte, studierte, mit Forschungen im Bereich der Neuroanatomie und Physiologie begann, dann sich der Psychiatrie zuwandte, Hypnose lernte, eine ärztliche Praxis für Nervenleiden eröffnete und schließlich die Psychoanalyse schuf, als Heilmethode und als eine allgemeine Theorie des Seelischen.

Was der Leser in dieser Einleitung erfährt, kann er in dem folgenden Teil erschauen. Entweder, indem man blättert und bei diesem und jenem Dokument hängen bleibt oder auch indem man Bild für Bild mit Text für Text von Anfang bis Ende schaut und liest. Dabei entsteht aus den vielen Bildern und Texten ein Gesamtbild. Das Bild eines Mannes, der nicht nur einer der größten Denker des 20. Jahrhunderts war, sondern auch ein ungemein gefühlvoller Beobachter und glänzender Schreiber.

"Ich bin sehr trotzig und sehr waghalsig und brauche große Anreizungen, habe eine Menge von Dingen getan, die alle besonnenen Menschen für sehr unvernünftig halten müssen. Zum Beispiel als ein ganz armer Mann Wissenschaft zu treiben, dann als ein ganz armer Mann ein armes Mädchen einzufangen, ich muss in dem Stil weiterleben, viel zu wagen, viel zu wagen, viel zu hoffen, viel zu arbeiten. Für die gewöhnliche bürgerliche Besonnenheit bin ich lange verloren."

Das schrieb Freud mit 28 Jahren an seine spätere Frau Martha. Die Dokumente zeigen, dass Freud wie ein Bürger seiner Zeit lebte, aber immer einen opponierenden Geist bewahrte. Mitfühlend äußert er sich über die wenig menschenwürdige Behandlung von Menschen in den Krankenhäusern, beißend geißelt er den Krieg.

Aus dem Buch spricht ein Sigmund Freud, der sich selbst gut kennt und der sich in seinen Briefen zeigt, zum Beispiel wenn er zu Beginn seiner analytischen Tätigkeit an einen Freund schreibt, er sei nur "wider Willen" Therapeut geworden, zur Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz. Er wollte das Leben mit Erkenntnis durchdringen, und dazu gehörte auch sein eigenes.

Für das, was er erkannte, schätzten ihn mehr die Dichter und Künstler als die zeitgenössischen Wissenschaftler. So finden wir in dem Band Zitate aus Briefwechseln mit Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke, Thomas Mann oder Stefan Zweig, die nur einige seiner vielen Bewunderer sind, zu denen als Gratulanten zu seinem 80. Geburtstag auch Dali und Picasso gehörten. So wie Freud in dieser schönen Bild-Biografie seinen Tod überdauert, so gilt bis heute die Feststellung der 191 Künstler und Schriftsteller aus der in dem Buch abgedruckten Gratulation von 1936: "Mögen künftige Zeiten dieses oder jenes Ergebnis seiner Forschung modeln und einschränken, nie mehr sind die Fragen, die Freud der Menschheit gestellt hat, zum Schweigen zu bringen.”


Sigmund Freud. Sein Leben in Bildern und Texten
Herausgegeben von Ernst Freud, Lucie Freud und Ilse Grubrich-Simitis. Revidierte Neuausgabe
Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2006