"Gefühlte Inflation"

Moderation: Dieter Kassel |
Der Psychologe Helmut Jungermann erwartet, dass viele Menschen nach der Mehrwertsteuererhöhung im Januar der Ansicht sind, "dass das Leben" teurer geworden ist. Gleichzeitig bezweifelt er, dass eine Stimmung eintritt wie bei der Umstellung von der D-Mark auf den Euro vor fünf Jahren. Damals empfanden viele Deutsche die neue Währung als "Teuro".
Dieter Kassel: Wenn am 1. Januar die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent steigt, dann ist es zufällig genau fünf Jahre her, dass der Euro die D-Mark ersetzt hat. Die Einführung des Euro hat nicht damals bis heute zu einer höheren Inflation geführt, das sagen übereinstimmend alle statistischen Untersuchungen zu diesem Thema. Aber das nützt nichts. Für die meisten Deutschen wurde der Euro trotzdem zum Teuro, denn neben der realen gibt es noch die gefühlte Inflation, und über die sprechen wir jetzt mit Helmut Jungermann vom Institut für Psychologie und Arbeitswissenschaft der Technischen Universität Berlin. Schönen guten Tag, Herr Jungermann.

Helmut Jungermann: Guten Tag, Herr Kassel.

Kassel: Rein theoretisch, wenn man mal eine ganz komplizierte Rechnung anstellt, dann bedeutet die Erhöhung der Mehrwertsteuer für den Endverbraucher für die Produkte und Dienstleistungen, die überhaupt betroffen sind, eine Preiserhöhung von 2,59 Prozent. Was glauben Sie denn, wie hoch wird ab Anfang Januar die gefühlte Preissteigerung sein?

Helmut Jungermann: Das ist eine interessante offene Frage. Ganz global würde ich vorhersagen, dass Mitte Januar doch sehr viele Menschen meinen, dass das Leben, dass die Preise um drei Prozent gestiegen seien. Ob das wirklich so ist, da bin ich nicht mehr so sicher, wie ich vor einigen Monaten war, das heißt, manche Produkte werden teurer, manche werden nicht teurer. Man muss auch an die Schwellenpreise denken, und ein Produkt, das bisher 9,99 Euro kostete, wird vermutlich nicht verteuert, denn kostete es 10,03 Euro oder 10,04 Euro, das macht keiner, das berühmte Schwellenpreisproblem. Dagegen wird vielleicht dann ein Produkt, das normalerweise 15,89 kostet, künftig 15,97 kosten, und das merkt keiner so richtig.

Kassel: Dass viele glauben, es wird um drei Prozent teurer, das ist ja eher ein mathematisches fast schon Bildungsproblem, dass wir hier diesen Unterschied zwischen drei Prozent und drei Prozentpunkten nicht kennen. Was anderes sind aber die gefühlten Preise. Glauben Sie nicht doch, dass, wenn man Ende Januar jemanden, der aus dem Supermarkt kommt, fragt, na und, ist es teurer geworden, dass der wieder sagen wird, ja, ist alles teurer geworden durch die Mehrwertsteuererhöhung?

Jungermann: Ja, das glaube ich, das wird vermutlich so sein, und das hat eben etwas zu tun mit den Faktoren, die die gefühlte Inflation steuern. Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Kein Mensch wirklich denkt daran oder die wenigsten denken daran, dass die Miete vielleicht konstant geblieben ist oder dass die elektronischen Geräte billiger geworden sind oder die Möbel. So etwas geht aber in den Verbraucherpreisindex ein. Daran denkt aber keiner, wenn er an die tägliche Inflation denkt, sondern dann denkt er eben an den Joghurt, an die Zeitung oder die einzelnen Lebensmittel, die er kauft, und wenn er von Inflation redet oder wenn er an Inflation denkt, und das geht uns wahrscheinlich allen so, dann denken wir an das, was uns täglich im Supermarkt begegnet, eben die berühmte Pizza oder das Bier, und da muss man sehen, dass diese Dinge zum Teil wirklich überproportional teurer geworden sind nach der Euroumstellung. Nur: Im durchschnittlichen Gesamtbudget eines Haushaltes ist das ein vergleichsweise kleiner Teil, jedenfalls wenn man sich die Bundesbürger anschaut. Wenn man sich dagegen die zum Beispiel einkommensschwächeren Schichten anschaut, dann sind dort die Lebensmittel natürlich der größte Anteil, und da ist tatsächlich nach der Euro-Teuro-Umstellung vieles teurer geworden, das muss man sehen, und insofern haben die Bürger Recht gehabt wenn sie sagten, Euro gleich Teuro, wenn es um die Produkte des täglichen Bedarfs geht. Das kann jetzt eben so ähnlich werden.

Kassel: Woran liegt es denn, dass offenbar kaum jemand in der Lage ist, sich zu freuen oder vielleicht auch nur zur Kenntnis zu nehmen, wenn Dinge billiger werden? Selbst im Lebensmittelbereich ist ja so was auch passiert, wenn wir wirklich die längere Entwicklung nehmen, ist da durch die Discounter ja vieles billiger geworden, Sie haben die Elektronik angesprochen, ein DVD-Player für 89 Euro, das hätte noch vor ein paar Jahren, 200, 300 Euro gekostet, und es gibt ja auch Leute, die kaufen das ja. Warum kann sich darüber offenbar niemand so sehr freuen, wenn man sich auf der anderen Seite darüber ärgert, wenn etwas teurer wird?

Jungermann: Also leider haben wir dazu keine Antwort. Es ist einer der Aspekte, die der Ökonomienobelpreisträger Kahneman, der ja ein Psychologe war, zusammen mit seinem Kollegen (…) identifiziert hat, und dafür haben sie den Nobelpreis bekommen, dass sie unter anderem das festgestellt haben, was man mit dem englischen Begriff als lost aversion, im Deutschen Verlustaversion bezeichnet. Verluste wiegen für uns schwerer als Gewinne. Fragen Sie mich nicht, warum das so ist. Es ist eine menschliche Grundkonstante.

Kassel: Was nun diese Fehleinschätzung von Preiserhöhungen, egal ob sie vermeintlich durch die Euroeinführung, bald durch die Mehrwertsteuererhöhung oder durch andere Phänomene verursacht werden, angeht, wie weit hat das auch was mit Aufklärung und Medien zu tun? Ich habe inzwischen mehrere Informationen von Supermärkten im Briefkasten gehabt, wo auch drinstand, preisstabil seit 2003, und wo dann beschrieben wurde, bei uns hat die Tütensuppe immer schon 1,89 Euro gekostet. Wenn das jetzt verstärkt gemacht wird, das ist vielleicht auch Angst vor einer missverstandenen Mehrwertsteuer, könnte das irgendwas ändern in der Wahrnehmung?

Jungermann: Also ich glaube schon insofern, als deutlich wird für die Verbraucher durch die verschiedenen Ankündigungen, dass nicht wirklich alles teurer wird. Da muss man mal sehen, ob das ankommt, dass im Grunde nicht drei Prozent auf den Verbraucher zukommen, sondern dass sich dies aufdrittelt, das heißt, dass die Hersteller ein Prozent davon quasi übernehmen, also ein Prozent weniger Gewinn machen, dass der Handel ein Prozent übernimmt, und dass nur ein Prozent beim Verbraucher hängen bleibt. Natürlich werden alle glauben, es sei teurer geworden, weil immer alles teurer wird und weil man immer gern Überteuerung sagt, aber ob wirklich, wie bei der Umstellung von der D-Mark auf den Euro, eine so massive allgemeine Stimmung eintritt, da bin ich skeptisch.

Kassel: Lassen Sie uns aber am Ende eines solchen Jahres mal zugeben, dass wir jetzt auch fast zehn Minuten über den Preis und über nichts sonst geredet haben. Die Frage, ob zum Beispiel fünf Euro für Produkt X preiswert sind oder teuer, hängt ja nicht nur von der Zahl, die auf dem Zettel steht, sondern auch davon ab, was sich dahinter verbirgt. Die Gesellschaft für Konsumforschung hat in einer Untersuchung auch in diesem Jahr rausgefunden, dass inzwischen für die Deutschen es viel wichtiger ist, was ein Produkt kostet, als was es eigentlich bringt. Qualität zählt gar nicht mehr, nur noch der Preis, billiges Schlechtes ist besser als teures Gutes. Das ist eine Entwicklung, die auch in den letzten Jahren immer stärker geworden ist. Glauben Sie, dass man da noch irgendwas zurückdrehen kann.

Jungermann: Also ich höre das zum ersten Mal. Ich bin da nicht so sicher. Natürlich, Geiz ist geil, das wissen wir schon seit einigen Jahren, und da gucken Leute hin, sie versuchen Schnäppchen zu machen. Ich denke, da muss man differenzieren. Gerade zum Beispiel im Bereich der Lebensmittel schauen Leute durchaus, denn sie kaufen nicht einfach das Allerbilligste bei den Lebensmittel, und umgekehrt bei Elektronik, einem Markt, in dem es ja billiger geworden ist eher, schauen Leute sehr genau hin, was sie kaufen. Schauen Sie sich den Erfolg der Zeitschrift "Test" an, wo eben sehr differenziert berichtet wird über die Qualität und natürlich die Preise von Produkten. Es ist ein großer Erfolg, ist sehr glaubwürdig, nicht alle schauen herein, aber das ist für doch sehr viele eine wichtige Informationsquelle, sie wägen schon ab Preis gegen Qualität, also dass der Preis ganz dominiert, das betrifft so Produkte, wie Sie sie gerade im Lebensmittelbereich zum Teil bei den Discountern finden, aber dass die Qualität gar keine Rolle spielt, das glaube ich nicht, zumal dann, wenn kleine Skandale auftreten wie beim Fleisch oder ähnlichen Geschichten.