Gefühle, Irrungen und Abgründiges

Von Anke Wiebersiek · 11.03.2011
Carl Djerassi ist der Vater der Antibabypille. Der Amerikaner mit den österreichisch-jüdischen Wurzeln ist außerdem leidenschaftlicher Sammler der Bilder Paul Klees und spät berufener Romancier und Dramatiker. In seinem letzten Buch hat er sich auf die Suche nach der eigenen jüdischen Identität begeben.
Carl Djerassi: "In Romanen kann man alles erfinden, in der Wissenschaft soll man überhaupt nichts erfinden."

Sein halbes Leben lang war er Wissenschaftler, Carl Djerassi, emeritierter Chemie-Professor aus Stanford. Ein überaus erfolgreicher Wissenschaftler sogar. Ihm verdankt die Menschheit die Pille. Doch dann erfand er sich selbst neu.

Er sei ein "intellektueller Polygamist", sagt er, jemand, der immer auf mehreren Hochzeiten getanzt habe, sei es nun in der Wissenschaft, Literatur, Kunst oder Industrie. Vor über 20 Jahren hat er sich dem Schreiben zugewandt – und damit auch der Wirklichkeit:

Carl Djerassi: "Ich muss sagen, wie ich dann später ein Autor wurde und fünf Romane geschrieben habe, ist es gerade das Umgekehrte. Meiner Meinung nach, die wirklichen Sachen kann man nur in Romanen beschreiben."

Die "wirklichen Sachen" haben für Carl Djerassi nicht mit Molekülen, sondern mit Menschen zu tun: Gefühle, Sexualität, Irrungen und Abgründiges. Ein starkes Gefühl war für ihn übrigens der Grund, weshalb er zum Schreiben kam: Seine große Liebe, eine Literaturprofessorin, hat ihn wegen eines anderen verlassen:

Carl Djerassi: "Für mich war das eine Beleidigung als typischer Mann. Und ich hatte ein Riesen-Gefühl von Verletzung und Rache, das sind sehr schlechte, aber sehr starke Motivationen. Und ich habe dann eine Explosion von Gedichten geschrieben. Dann habe ich mich entschlossen, einen Roman zu schreiben, einen Schlüsselroman über eine sehr elegante, schöne Frau, die die Blödheit gehabt hat, einen fantastischen Mann zu verlassen."

Später wird diese Dame doch noch Djerassis dritte Ehefrau. In einem Alter, in dem andere in die Rente gehen, wird der Herr mit dem dichten grauen Haar und dem Vollbart ein erfolgreicher Autor. Er schreibt Romane, Theaterstücke, eine Autobiografie.

In seinem letzten Buch "Vier Juden auf dem Parnass" geht es wieder sehr menschlich zu. Der mittlerweile 86-Jährige schreibt nämlich über das sehr persönliche Leben von vier jüdischen Intellektuellen: Es geht um die Philosophen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin sowie um den Religionshistoriker Gershom Sholem und den Erfinder der Zwölftonmusik Arnold Schönberg.

Carl Djerassi: "Ich wollte über diese sehr wichtigen Intellektuellen schreiben - humanisierend. Die werden immer so hagiografisch behandelt, mit großer Höflichkeit. Ich wollte über persönliche Sachen von denen schreiben, nicht über philosophische Sachen. Komischerweise, die Leute sind nicht an ihrem persönlichen Leben interessiert, insbesondere nicht an ihren Frauen."

Die vier Geistesgrößen versammeln sich auf dem Parnass – dort, wo große Denker und Dichter ihre Ewigkeit erleben. Sie plaudern in Dialogen über Freundschaften und Frauenbeziehungen, über Sexualität und Pornographie – nicht immer ganz schmeichelhaft für die Berühmtheiten.

Carl Djerassi: "Die treffen sich posthum am Parnass, um über diese Themen zu sprechen, insbesondere die Frauen, jede Frau kommt herauf für ein letztes Gespräch, und dasselbe Thema bei allen vieren ist Ehebruch. Die haben unglaublich verschiedene Ehebrüche gehabt in den Familien. Auf der einen Seite Adorno hat ununterbrochen Affären mit verschiedenen Frauen gehabt, bei Schönberg war es umgekehrt, es war nur die Frau, bei Benjamin war es sowohl die Frau wie der Mann."

Carl Djerassi hat sich durch Bibliotheken und Archive gearbeitet, nahezu jedes biografische Detail der vier Intellektuellen will er belegt haben. Drei dieser vier Denker, nämlich Benjamin, Adorno und Scholem waren nacheinander Besitzer eines berühmten Bildes von Paul Klee, dem Angelus Novus. An dieser Stelle ist es Carl Djerassi selbst, der als großer Kenner und Sammler von Paul Klee, Stellung bezieht: Ihn stört die berühmte Interpretation dieses Bildes, die Benjamin in seinem Essay "Über den Begriff der Geschichte" gibt. Die habe nämlich, so lässt der Autor seine Figur Schönberg statt seiner sagen – nicht das Geringste mit dem berühmten Bild zu tun.

Carl Djerassi: "Wieso wurde es weltberühmt? Weil Walter Benjamin einen Essay darüber geschrieben hat, in dem er auch den Angelus Novus beschreibt, in einer Art und Weise, die meiner Meinung nach total falsch ist. Wie er das beschrieben hat, ästhetisch, hat er meiner Meinung nach Riesen-Fehler gemacht. Und die Frage, die er überhaupt nicht gefragt hat, war: Was hat Klee dabei gemeint? Ich finde es als Klee-Sammler teilweise eine Frechheit, dass niemand fragt: Was hat Klee dabei gemeint?"

Das Bild inspirierte etliche Musiker. Auch Carl Djerassi sah sich veranlasst, über den Angelus Novus von Paul Klee und Benjamins Essay eigens einen Rap komponieren zu lassen. Doch warum ist das Bild für Djerassi so wichtig? Weil die Frage, wen Klee mit dem Angelus Novus eigentlich gemeint hat, zu der eigentlich Frage des Buches führt: Was bedeutet es für jeden einzelnen, jüdisch zu sein?

Zitat aus dem Buch, S. 145: "Das Jude-Sein basiert nicht unbedingt auf der Religionsgemeinschaft oder dem geschichtlichen Hintergrund, sondern auf der Tatsache, dass Juden unter Nichtjuden leben, die sie als Juden bezeichnen."

Der Autor lässt diesen Satz von Gershom Scholem sagen, dem Zionisten unter den vier Intellektuellen. Das unterschiedliche jüdische Selbstverständnis der Protagonisten reicht vom stolzen Bekenntnis über das stillschweigende Eingeständnis bis zur offenen Leugnung. Auch Carl Djerassis eigene Biografie spiegelt sich in dieser Diskussion über das Wort "Jude".

Carl Djerassi: "Ich komme aus einer typisch säkularen jüdische .Familie. Damals, ich bin im Alter von 14 von Wien geflohen, im Alter von einem Teenager, ich wollte mich nur assimilieren als Amerikaner. Ich bin mit meiner Mutter dorthin gegangen, war aber total allein, meine Mutter hat an der Ostküste gearbeitet, ich war im Midwesten. Religion hat in meinem Leben nie eine Rolle gespielt. Ich wollte nicht darüber sprechen, wenn Leute mich gefragt haben, 'Sind Sie jüdisch?', habe ich gesagt: 'Ja'. Das schon, aber ich hab´s nie freiwillig zugegeben."

Es ist Carl Djerassi eindrucksvoll gelungen, einen Einblick in das Leben, die Eitelkeiten und das Selbstverständnis der vier jüdischen Intellektuellen zu geben. Auch wenn der Autor alles dokumentarisch belegt haben will, so werden die Biografen der vier Protagonisten sicherlich das eine oder andere Detail in Frage stellen. Dass Benjamin, Adorno, Scholem und Schönberg sich allerdings auf dem Parnass befinden und damit endgültig kanonisiert worden sind, ist wohl unbestritten. Carl Djerassi selbst ist zumindest als Wissenschaftler bereits dort ankommen – obwohl er auf den Nobelpreis bisher vergebens warten musste. Der 86-Jährige schmunzelt, wenn er überlegt, mit wem er dort oben gerne sprechen würde.

Carl Djerassi: "Ich würd´ sehr gerne mit Klee, den habe ich nie getroffen…mit andern Wissenschaftlern, nein, kann ich ihnen gleich sagen. Ich hab' mit denen schon 50 Jahre rumgesprochen, ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was ich mit denen oben sprechen möchte…ich glaube es wären literarische Leute, ich stelle mir vor, Frauen wären auch interessant. Ich glaub', ich würde da gerne rumwandern."