Geflügelmast und Fleischeslust
Matthias Göritz präsentiert mit "Der kurze Traum des Jakob Voss" nicht nur einen Roman über einen Unternehmer mit Visionen, sondern auch eine Geschichte über Pubertät in den 80er Jahren. Aufstieg und Fall des Geflügel-Unternehmers Jakob Voss wird dabei aus der Perspektive seines pubertierenden Sohnes erzählt, der wie der Vater permanent mit fleischlichen Angelegenheiten beschäftigt ist, wenn auch auf anderer Ebene.
Der Tag in der Voss Geflügel GmbH beginnt mit Schockbeleuchtung. Das "Lichtregime" ist unerbittlich, damit die Tiere nicht in Apathie verfallen und etwa das Fressen vergessen. Ist die "Befleischung" zufriedenstellend, wird der Vogel an den Haken gehängt. Köpfchen in die Tiefe, geht es in den Schlachtraum, wo das Tier mit Gas betäubt wird, bevor man ihm den Hals durchschneidet. Zum Ausbluten hat es zwei Minuten Zeit. Dann ab in den Rupfraum und ins heiße Wachsbad. So entsteht sauber entkielte A-Ware.
Geflügelmast ist ein hartes Geschäft. Pro Kilo Fleisch sind nur ein paar Pfennige zu verdienen. Aber das hindert Jakob Voss im bemerkenswerten Debütroman des 1969 geborenen Matthias Göritz nicht daran, seinen Unternehmertraum zu träumen. Ein Mann, der feierliche Worte und große Gesten liebt, ein Mann mit Tatendrang und Visionen.
Kürzlich war er noch ein junger Kleinstadtbürgermeister mit der Aussicht auf eine glänzende politische Karriere. Dann ist er Opfer einer parteipolitischen Intrige geworden. Nach einer Phase des Versumpfens hat er sich kurzentschlossen aus der Politik verabschiedet und sein Enten-Imperium errichtet, irgendwo in der norddeutschen Tiefebene, am Waldrand, ein Stück vom nächsten Dorf entfernt.
Die Bauern dort haben mit allem verfügbaren Misstrauen zugesehen, wie der Mann aus der Stadt Land aufkaufte und Wellblechhallen errichtete, die ein wenig an Flugzeughangars erinnern, in denen aber nur sechzigtausend Enten flügellahm in Richtung Schlachtreife vegetieren. Für Sohn Nicholas Voss, aus dessen Perspektive wir das Geschehen erleben, bedeutet der Umzug aufs Land eine Außenseiterstellung in schwieriger Zeit - er ist gerade mitten in der Pubertät und gilt nun überall als der Sohn "von dem Neuen auf der Farm".
Der Anfang der achtziger Jahre spielende Unternehmerroman ist zugleich ein Roman über die Pubertät. Auch der Junge ist ununterbrochen mit fleischlichen Angelegenheiten beschäftigt. Mindestens ebensoviel wie von Enten ist in diesem Buch von Geschlechtsteilen die Rede. Was man damit so anstellen kann - diese Frage beschäftigt Nicholas eigentlich ununterbrochen, und seine Verunsicherung rührt nicht zuletzt aus der tiefen Ungewissheit, was man von all den verschiedenen Berichten und Prahlereien über Sexualität denn nun glauben soll. Er wirft neidvolle Blicke auf die nur ein wenig älteren Jungmänner:
"Deren Oberkörper glichen ausladenden, behaarten Trapezen."
Da gibt es die Mofa-Gang, die sich nachmittags auf dem Edeka-Parkplatz trifft (wo sonst?) und zum Schrecken der übrigen Welt ihre Motörhead-Aufkleber präsentiert. Nicholas dagegen ist für die Erwachsenen noch ein Kind, dem man über den Scheitel streicht - unendlich der Abstand zu der nur wenig älteren Cousine Ruth, die bereits mit den Mofafahrern unterwegs ist. Sie wird ihn ordentlich unglücklich machen mit ihrem Puppengesicht und ihrem Schmollmund.
Noch unglücklicher aber läuft es für den Vater. Sein nicht enten-, aber menschenfreundlicher Betrieb soll auch ein Stück gerechte, soziale Welt verwirklichen. Es gibt Anteilsscheine für die Mitarbeiter; ein Kindergarten soll neben den Ställen entstehen. Sehr merkwürdig, wie Jakob Voss das Missionarische, Bürgermeisterliche auf einen Betrieb überträgt, der von manchem Kleinbauern der Umgebung als "Scheiß-Vogel-Treblinka" bezeichnet wird. "Blutgeruch", süß und faulig, liegt über dem Gelände.
Das Geschäft läuft gut, versichert der Vater, während bereits die Kredite an ihm zerren. Dann scheint sich alles gegen ihn zu verschwören: Die Mitarbeiter proben den Aufstand, und die Enten werden in kürzester Zeit von einer Seuche dahingerafft.
Wer in diesem Herbst einen Roman vorlegt, in dem massenweise Vögel sterben, beschwört unwillkürlich Gedanken an die Vogelgrippe herauf. Zwar sperrt das Gesundheitsamt den Betrieb, zwar laufen Männer in Schutzanzügen über das Gelände - aber noch geht es dem Menschen nicht wie dem Vieh, von Ansteckungsgefahr ist nicht die Rede. Der Vogeltod ist vor allem ein finanzieller und persönlicher Ruin für den Vater.
"Der kurze Traum des Jakob Voss" ist ein sehr ehrliches Buch; trotzdem nicht kunstlos geschrieben. Zwar stößt man gelegentlich auf ein paar Stilblüten; öfter noch aber auf witzige, relevante, auch schräge Beobachtungen (etwa über unglückliche Tanten). Manchmal unterlaufen dem Autor Brüche in der Perspektive. Er bemüht sich, uns alles aus der Perspektive des Jungen sehen und erleben zu lassen. Dann aber ist von Boris Becker die Rede. Da Beckers erster Ruhm spendender Wimbledonsieg 1985 stattfand, müsste der Junge, geboren in den Tagen der ersten bemannten Mondlandung, demnach schon sechzehn sein - also selbst im besten Mofa-Alter.
Von den Rückblicken abgesehen, werden die Ereignisse zusammengedrängt auf einen Tag. Das verleiht dem Buch einerseits Geschlossenheit, wirkt andererseits aber auch ein wenig gezwungen. Es beginnt am Vormittag mit einem Fahrradunfall - ein böses Omen. Im Verlauf der Lektüre sind die weiteren Desaster dann ein wenig zu absehbar: die Ruthkatastrophe, die Entenkatastrophe, die Vaterkatastrophe.
Solcher Einwände ungeachtet ist vor allem die Konkretion des Buches loben. Die Details über die fatale Geflügelfarm geben ihm jene Welthaltigkeit, die den zahlreichen literarischen Aufarbeitungen bundesrepublikanischer Jugend, die sich an den Jahresringen der Popkultur entlang hangeln, oft fehlen. Dies ist kein Roman aus den Literaturmastbetrieben, sondern ein eigenständiges, weitgehend gelungenes Debüt.
Matthias Göritz: Der kurze Traum des Jakob Voss
Roman. Berlin-Verlag 2005
214 Seiten, 16 Euro
Geflügelmast ist ein hartes Geschäft. Pro Kilo Fleisch sind nur ein paar Pfennige zu verdienen. Aber das hindert Jakob Voss im bemerkenswerten Debütroman des 1969 geborenen Matthias Göritz nicht daran, seinen Unternehmertraum zu träumen. Ein Mann, der feierliche Worte und große Gesten liebt, ein Mann mit Tatendrang und Visionen.
Kürzlich war er noch ein junger Kleinstadtbürgermeister mit der Aussicht auf eine glänzende politische Karriere. Dann ist er Opfer einer parteipolitischen Intrige geworden. Nach einer Phase des Versumpfens hat er sich kurzentschlossen aus der Politik verabschiedet und sein Enten-Imperium errichtet, irgendwo in der norddeutschen Tiefebene, am Waldrand, ein Stück vom nächsten Dorf entfernt.
Die Bauern dort haben mit allem verfügbaren Misstrauen zugesehen, wie der Mann aus der Stadt Land aufkaufte und Wellblechhallen errichtete, die ein wenig an Flugzeughangars erinnern, in denen aber nur sechzigtausend Enten flügellahm in Richtung Schlachtreife vegetieren. Für Sohn Nicholas Voss, aus dessen Perspektive wir das Geschehen erleben, bedeutet der Umzug aufs Land eine Außenseiterstellung in schwieriger Zeit - er ist gerade mitten in der Pubertät und gilt nun überall als der Sohn "von dem Neuen auf der Farm".
Der Anfang der achtziger Jahre spielende Unternehmerroman ist zugleich ein Roman über die Pubertät. Auch der Junge ist ununterbrochen mit fleischlichen Angelegenheiten beschäftigt. Mindestens ebensoviel wie von Enten ist in diesem Buch von Geschlechtsteilen die Rede. Was man damit so anstellen kann - diese Frage beschäftigt Nicholas eigentlich ununterbrochen, und seine Verunsicherung rührt nicht zuletzt aus der tiefen Ungewissheit, was man von all den verschiedenen Berichten und Prahlereien über Sexualität denn nun glauben soll. Er wirft neidvolle Blicke auf die nur ein wenig älteren Jungmänner:
"Deren Oberkörper glichen ausladenden, behaarten Trapezen."
Da gibt es die Mofa-Gang, die sich nachmittags auf dem Edeka-Parkplatz trifft (wo sonst?) und zum Schrecken der übrigen Welt ihre Motörhead-Aufkleber präsentiert. Nicholas dagegen ist für die Erwachsenen noch ein Kind, dem man über den Scheitel streicht - unendlich der Abstand zu der nur wenig älteren Cousine Ruth, die bereits mit den Mofafahrern unterwegs ist. Sie wird ihn ordentlich unglücklich machen mit ihrem Puppengesicht und ihrem Schmollmund.
Noch unglücklicher aber läuft es für den Vater. Sein nicht enten-, aber menschenfreundlicher Betrieb soll auch ein Stück gerechte, soziale Welt verwirklichen. Es gibt Anteilsscheine für die Mitarbeiter; ein Kindergarten soll neben den Ställen entstehen. Sehr merkwürdig, wie Jakob Voss das Missionarische, Bürgermeisterliche auf einen Betrieb überträgt, der von manchem Kleinbauern der Umgebung als "Scheiß-Vogel-Treblinka" bezeichnet wird. "Blutgeruch", süß und faulig, liegt über dem Gelände.
Das Geschäft läuft gut, versichert der Vater, während bereits die Kredite an ihm zerren. Dann scheint sich alles gegen ihn zu verschwören: Die Mitarbeiter proben den Aufstand, und die Enten werden in kürzester Zeit von einer Seuche dahingerafft.
Wer in diesem Herbst einen Roman vorlegt, in dem massenweise Vögel sterben, beschwört unwillkürlich Gedanken an die Vogelgrippe herauf. Zwar sperrt das Gesundheitsamt den Betrieb, zwar laufen Männer in Schutzanzügen über das Gelände - aber noch geht es dem Menschen nicht wie dem Vieh, von Ansteckungsgefahr ist nicht die Rede. Der Vogeltod ist vor allem ein finanzieller und persönlicher Ruin für den Vater.
"Der kurze Traum des Jakob Voss" ist ein sehr ehrliches Buch; trotzdem nicht kunstlos geschrieben. Zwar stößt man gelegentlich auf ein paar Stilblüten; öfter noch aber auf witzige, relevante, auch schräge Beobachtungen (etwa über unglückliche Tanten). Manchmal unterlaufen dem Autor Brüche in der Perspektive. Er bemüht sich, uns alles aus der Perspektive des Jungen sehen und erleben zu lassen. Dann aber ist von Boris Becker die Rede. Da Beckers erster Ruhm spendender Wimbledonsieg 1985 stattfand, müsste der Junge, geboren in den Tagen der ersten bemannten Mondlandung, demnach schon sechzehn sein - also selbst im besten Mofa-Alter.
Von den Rückblicken abgesehen, werden die Ereignisse zusammengedrängt auf einen Tag. Das verleiht dem Buch einerseits Geschlossenheit, wirkt andererseits aber auch ein wenig gezwungen. Es beginnt am Vormittag mit einem Fahrradunfall - ein böses Omen. Im Verlauf der Lektüre sind die weiteren Desaster dann ein wenig zu absehbar: die Ruthkatastrophe, die Entenkatastrophe, die Vaterkatastrophe.
Solcher Einwände ungeachtet ist vor allem die Konkretion des Buches loben. Die Details über die fatale Geflügelfarm geben ihm jene Welthaltigkeit, die den zahlreichen literarischen Aufarbeitungen bundesrepublikanischer Jugend, die sich an den Jahresringen der Popkultur entlang hangeln, oft fehlen. Dies ist kein Roman aus den Literaturmastbetrieben, sondern ein eigenständiges, weitgehend gelungenes Debüt.
Matthias Göritz: Der kurze Traum des Jakob Voss
Roman. Berlin-Verlag 2005
214 Seiten, 16 Euro