Geflüchtete in Rumänien

Irgendwo im Nirgendwo

30:23 Minuten
Hassein (links) in seinem Versteck.
Hassein (l.) hofft, dass es bald klappt und er es unter einer Lkw-Plane nach Deutschland schafft. © Srdjan Govedarica / Deutschlandradio
Von Srdjan Govedarica · 08.06.2021
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Meterhohe Grenzanlagen versperren auf dem Balkan bereits vielerorts die Wege für Flüchtlinge und Migranten. Zurzeit wollen viele Menschen über Rumänien weiter in die EU. Die Stadt Temeswar an der Grenze zu Ungarn ist eine Art Drehscheibe geworden.
Ein Acker im Westen Rumäniens irgendwo im Nirgendwo etwa 40 Kilometer von Temeswar entfernt. Zusammen mit vier weiteren Männern versteckt sich Hassein aus Afghanistan hier im Gebüsch vor der rumänischen Polizei. Die Männer hausen in Zelten. Sie werden von Freiwilligen einer Hilfsorganisation aus Temeswar mit Essen versorgt.
Und sie haben einen Plan: Jede Nacht gehen die Männer zu einem Lkw-Rastplatz an der nahe gelegenen Autobahn. Von hier aus versuchen sie sich, auf einen Lastwagen zu schmuggeln, der sie weiter nach Westen bringt. Bislang ohne Erfolg – sie wurden entweder von den Lkw-Fahrern erwischt oder vertrieben oder von der Polizei kontrolliert, erzählt Hassein.
Wenn die Polizei die Männer aufgreift, werden sie in ein Asylzentrum gebracht. Nach Temeswar oder woanders im Land. Damit entfernen sich die Männer aber von der Grenze und dem Lkw-Rastplatz. Deshalb verstecken sie tagsüber im Gebüsch – obwohl sie in den Asylzentren ein Dach über den Kopf und eine sichere Unterkunft hätten.

Das Ziel ist nicht Rumänien

"Die Leute wollen ja nicht wirklich hierbleiben. Sie stellen ja den Antrag nicht, damit sie hier Asyl bekommen, sondern weil sie dann ein Jahr lang einen Aufenthaltstitel bekommen. Und innerhalb dieses Jahres versuchen sie weiterzuziehen", erzählt Dominic Fritz.
Er ist der Bürgermeister von Temeswar. Ein 38-jähriger Deutscher, der seit Oktober 2020 im Amt ist. Seit der großen Fluchtbewegung über den Balkan 2015 versperren in Südosteuropa meterhohe Zäune und Grenzanlagen die Wege für Flüchtlinge und Migranten. Deren Routen ändern sich immer wieder und zurzeit versuchen es immer mehr Menschen über Rumänien ins angrenzende Ungarn.
Nach Angaben des Generalinspektorats der Grenzpolizei in Bukarest habe man im ersten Quartal 2021 rund 6500 – wie es heißt "illegale Grenzübertritte ausländischer Staatsbürger" festgestellt. Im gesamten Jahr 2020 seien es rund 10.000 gewesen. Und die 350.000-Einwohnerstadt Temeswar mit ihrer Lage im Dreiländereck Rumänien, Serbien, Ungarn, ist inzwischen zu einer Art Drehscheibe geworden.
"Klar merken wir, wie wir als Stadt dann auch abhängig sind von bestimmten europapolitischen oder internationalen Entscheidungen verschiedener Staaten in ihrer Flüchtlingspolitik. Und das ist also kein abstraktes Thema für uns, sondern ganz konkret erlebbar", sagt der Bürgermeister.
Die Zahl von Flüchtlingen und Migranten in Temeswar habe sich seit November 2020 verdreifacht, so Dominic Fritz. Das war auch im Stadtbild zu sehen.

Die Stimmung ist angespannt

"Das ist natürlich eine schwierige oder fragile Situation, in der sich die Stadt befindet. Auf der einen Seite gibt es durchaus eine Offenheit, es ist keine Stadt, die eine Geschichte hat von Ausländerhass oder sonst was. Ganz im Gegenteil. Wir sind stolz hier auf die Geschichte des friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen", erklärt Dominic Fritz.
"Und es war in den letzten Jahren, als das immer mehr zugenommen hat, eine gewisse Akzeptanz da, dass auch im Stadtbild Flüchtlinge aufgetaucht sind. Leider hat sich das sehr zugespitzt in den letzten Monaten."
Nachdem Mitte April bei einer Schlägerei zwischen zwei Gruppen von Flüchtlingen und Migranten ein Mann getötet wurde, änderten die Behörden ihre Strategie. In Rumänien werden Migranten und Flüchtlinge nach ihrer Ankunft im Land in Flüchtlingsunterkünften registriert. Wenn sie aufgegriffen werden, bringt man sie nun sofort dorthin zurück. Auch wenn die Flüchtlingsunterkünfte, die ihnen ursprünglich zugeteilt wurden, weit entfernt sind.
Das Problem ist: Viele zieht es trotzdem wieder nach Temeswar und ins Grenzgebiet zurück. Seine Stadt könne das nicht dauerhaft alleine stemmen und sei auch formal nicht für Migration zuständig – sagt Dominic Fritz.
Er erwartet von der nationalliberal geführten Regierung in Bukarest dauerhafte Lösungen: "Die Regierung ist sich dessen auch bewusst, es hat bislang aber immer am letzten Schritt und Willen gefehlt, tatsächlich dann auch ganz konkret etwas zu tun."

"Wir kontrollieren jeden Lkw"

Wer es mithilfe von Schleppern oder auf eigene Faust in einen Lkw geschafft hat, der muss an der rumänisch-ungarischen Grenze die nächste Hürde überwinden. Wir kontrollieren jeden LKW – sagt Chefkommissar Dorin Popa, Leiter des Grenzübergangs Bors bei der Stadt Oradea im Nordwesten Rumäniens.
Rumänische Grenzbeamte bei der LKW-Kontrolle am Grenzübergang Bors
Jeder Lkw wird kontrolliert. Rumänische Grenzbeamte am Grenzübergang Bors und ihre ungarischen Kollegen arbeiten in Teams.© Srdjan Govedarica / Deutschlandradio
Er zeigt auf die Lkw-Schlange, sie sich etwa 500 Meter vor dem Grenzübergang staut. "Mit meinem ungarischen Kollegen habe ich auf Leitungsebene verabredet, dass wir 70 bis 80 Lkw pro Stunde abfertigen – in beide Richtungen"
Die rumänischen und ungarischen Grenzbeamten arbeiten in Teams. Sie checken zuerst die Frachtpapiere und die Ladung der Lastwagen. Sie suchen nach Anzeichen, dass Migranten und Flüchtlinge auf den Ladeflächen sein könnten, achten auf beschädigte Planen oder Einbruchspuren bei Containern, die auf den Lastwagen geladen sind.
Bei Verdacht werden die Lkw dann noch mal genauer untersucht. Auf diese Weise entdecken die Grenzpolizisten immer wieder Menschen ohne gültige Papiere – mit einer Trefferquote von 50 bis 60 Prozent schätzt Chefkommissar Popa.
"Wir können aktuell sogar von einem signifikanten Anstieg von Fällen sprechen, bei denen wir Migranten entdecken, die versuchen, die Grenze von Rumänien nach Ungarn illegal zu übertreten", sagt er.

Man kennt sich schon an der Grenze

So seien an diesem Grenzabschnitt in den ersten drei Monaten 2021 insgesamt rund 4600 Menschen aufgegriffen worden. Im gesamten Jahr 2020 waren es 4470. Die Menschen werden zunächst befragt. Sie dürfen maximal 24 Stunden festgehalten werden, danach bringe man sie zurück in die Flüchtlingsunterkünfte.
Mit dem versuchten illegalen Grenzübertritt begehen Flüchtlinge und Migranten zwar eine Straftat, diese werde aber in einem laufenden Asylverfahren nicht weiterverfolgt. Und weil viele Menschen es mehrfach versuchen, trifft Chefkommissar Popa auch mal auf bekannte Gesichter.
"Ich habe hier im Sektor Situationen erlebt, in denen ich Migranten entdeckt habe, mit denen ich bereits bekannt war. Und wir erkannten und grüßten uns gegenseitig", erzählt er.
An dem Gebüsch, in dem sich die afghanischen Männer vor der Polizei verstecken donnern wenige Meter entfernt immer wieder Züge vorbei. Obwohl die Situation vor Ort mehr als prekär ist, schafft es Hassein irgendwie, ordentlich aussehen. Er trägt ein sauberes kariertes Hemd, dazu Schnürschuhe aus Leder.
Er habe in Afghanistan Sozialwissenschaften studiert und sein Ziel sei Deutschland, erzählt der 26-Jährige. Nach Rumänien ist er aus Serbien gekommen – über die grüne Grenze zur EU. Hassein sagt, er habe es elfmal versucht, jedes Mal sei er zurückgeschickt worden.
Die Polizisten seien mal nett, mal weniger nett gewesen, berichtet Hassein. Die weniger Netten hätten Sturmhauben getragen und ihm Gepäck, Proviant und sogar die Schuhe abgenommen. Einen aus seiner Gruppe hätten diese maskierten Männer übel zusammengeschlagen.

Überwachung mit Wärmebildkameras

Die rumänisch-serbische Grenze in der Nähe der Stadt Jimbolia. Kommissar Cristian Negoescu von der rumänischen Grenzpolizei zeigt uns den Grenzabschnitt, für den er verantwortlich ist.
Mit einem Geländewagen fahren wir bis zur Grenzlinie nach Serbien. Die Landschaft hier bietet keinerlei Deckung. Man kann mit bloßem Auge Hunderte Meter weit über die gemähten Äcker blicken. Es ist schwer vorstellbar, dass hier jemand unbemerkt über die Grenze kommen kann. Und dennoch schaffen es Menschen immer wieder, berichtet Grenzpolizist Cristian Negoescu, ein großgewachsener Mann mit Bürstenhaarschnit und strahlend blauen Augen.
Eine Patrouille der rumänischen Grenzpolizei an der Grenze zu Serbien mit Fernglas.
Unterstützt von Wärmebildkameras: Eine Patrouille der rumänischen Grenzpolizei an der Grenze zu Serbien.© Srdjan Govedarica / Deutschlandradio
"Genauso gut wie wir in diesem flachen Gelände jede Bewegung wahrnehmen, werden auch wir von ihnen wahrgenommen. Aber wir haben den Vorteil der Kameras, die weiter im Landesinneren aufgestellt sind und verschiedene Entfernungen abdecken", erklärt er.
"Die fixen Kameras sehen bis zehn Kilometer weit. Wir haben auch mobile Kameras, die das Terrain abdecken, das von der festen Kamera nicht eingesehen wird. Und auf diese Weise, bemühen wir uns, dass der gesamte Grenzabschnitt in unserer Verantwortlichkeit von Wärmebildkameras überwacht wird."
In einem Kleintransporter mit Tarnanstrich wenige Hundert Meter entfernt, wachen zwei Grenzbeamte über die Bilder der Wärmebildkamera, die wie ein Periskop am Dach des Wagens montiert ist. Die Bildschirme dürfen wir uns zwar anschauen, aber nicht direkt filmen oder fotografieren, weil darauf Koordinaten abgebildet sind, die zu viel verraten würden.
Kommissar Cristian Negoescu ist der Stolz auf sein Überwachungsgerät anzumerken: "Diese Kamera ermöglicht uns eine wirksame Überwachung des Geländes aus großer Distanz, sowohl bei Tag als auch bei Nacht und mit einem Überwachungsradius von etwa drei bis vier Kilometern. Wir können damit alles beobachten was sich innerhalb dieses Radius bewegt. Jedes erkannte ‚Ziel‘, so nennen wir das, wird dann sofort von den mobilen Einsatzteams verfiziert."

Von illegalen Push-Backs will niemand etwas wissen

Kommissar Negoescu will in erster Linie illegale Grenzübertritte verhindern, sagt er. Dafür arbeiten die rumänischen Grenzpolizisten eng mit ihren Kollegen in Serbien zusammen:
"Gleichzeitig können wir Gruppen von Migranten erkennen, die sich von der anderen Seite unserem Territorium nähern. In diesem Fall leiten wir Patrouillen in die entsprechende Richtung, um dem illegalen Grenzübertritt vorzubeugen. Wenn sie einmal bei uns sind, muss der legale Ablauf eingehalten werden, mit der Feststellung des illegalen Grenzübertritts, der Prüfung, ob ein Asylantrag gestellt wird oder nicht", sagt er. "Dann werden sie an die Einwanderungsbehörde weitergeleitet, um die entsprechenden Verfahren zu durchlaufen: also Rückübernahme oder Asyl."
Seit Jahren gibt es an den europäischen Außengrenzen immer wieder Meldungen von illegalen Abschiebungen, so genannten Push-Bbacks, oft verbunden mit teilweise exzessiver Gewalt gegen Flüchtlinge und Migranten – in Griechenland, Serbien, Bosnien und Herzegowina und Kroatien. Auch der rumänischen Grenzpolizei werden inzwischen solche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. An seinem Grenzabschnitt sei so etwas nicht vorstellbar – sagt Grenzpolizist Cristian Negoescu.
"Was mich anbetrifft, habe ich hier in diesem Sektor, für den ich verantwortlich bin, keine Fälle dieser Art gehabt. Auch ich habe Berichte gelesen und daraus verstanden, dass die Vorfälle jedes Mal überprüft worden sind. Denn so verlangt es das Gesetz", sagt er.
"Jede Beanstandung dieser Art – ich weiß nicht, wie das in anderen Ländern läuft – muss bei uns in Rumänien untersucht werden. Und es sind Ermittlungen gemacht worden und es ist, soweit ich weiß, nichts bestätigt worden."

Es bleibt meist bei den Vorwürfen

Zu Besuch bei Flavius Illoni Loga in Temeswar. Es ist früh am Morgen und der 35-Jährige ist gerade in den Räumen der Nichtregierungsorganisation Casa Logs angekommen. Flavius Illoni Loga kümmert sich seit Jahren um Flüchtlinge und Migranten in Temeswar. Vorwürfe, dass es an den Grenzen zu Gewalt und Menschenrechtverletzungen kommt, habe er schon öfter gehört.
"Ja das haben wir. Wir hören dieselben Dinge. Die Vorwürfe richten sich gegen Polizisten, die ihre Gesichter bedecken. Wissen Sie, in Rumänien haben wir eine Grenzpolizei, eine lokale Polizei, die normale Polizei, Immigrationspolizei und die Gendarmerie. Wir haben fünf verschiedene Arten von Polizei", erklärt er.
"Es ist also sehr schwer, herauszufinden, gegen wen sich die Anschuldigungen richten. Eine weitere Herausforderung: Wir sprechen von Vorwürfen, weil die meisten Migranten nicht bereit sind, Anzeige zu erstatten, zur Polizei zu gehen und zu sagen: Das und das ist geschehen, zu dieser und dieser Stunde und dann kam ein Wagen und sie waren so gekleidet. Deshalb bleibt es bei Vorwürfen."
Mit seiner NGO und einigen freiwilligen Helfern kümmert sich Flavius Illoni Loga um die humanitäre Lage der Flüchtlinge und Migranten, die in Temeswar und Umgebung gestrandet sind. Auf einer großen Tafel in seinem Büro hat er eingetragen, wann, wo und wer von seinen Kollegen Essenspakete ausliefern wird. Täglich kommen auch Spenden rein – von Bürgern der Stadt: Essen, Kleidung, Hygieneartikel, Medikamente.

Rumänien ist selbst ein Land der Migranten

"Die Menschen in Temeswar sind eher empathisch, denn Rumänien ist selbst ein Land der Migranten. Wir sind in ganz Europa verteilt. Und das war schon vor dem EU-Beitritt nach dem EU-Beitritt und vor dem Fall des Kommunismus so", erzählt Flavius Illoni Loga.
"Ich sage das immer zu den Flüchtlingen aus Afghanistan: Wir Rumänen waren auch mal Flüchtlinge und wollten in sichere Länder wie Frankreich, Deutschland, Kanada, Amerika oder England. Und die meisten haben es über Serbien versucht. Also genau die Gegenrichtung, aus der die meisten Jungs jetzt kommen."
Flavius Illoni Loga ist sich bewusst, dass die meisten Migranten und Flüchtlinge, denen er in Temeswar hilft, eigentlich wo anders hinwollen, selbst wenn ihre Aslyanträge in Rumänien bewilligt werden sollten.
"Wir können die Leute nicht überzeugen, hier zu bleiben. Und ich denke, das sollten wir auch nicht, also sie unter Druck setzen oder in etwas hineinreden. Aber wir können einiges dafür tun, um die Menschen zu motivieren. Rumänien ist ein sicheres Land und hat auch die Mittel, die Menschen zu integrieren. Das beginnt am ersten Punkt – mit einer Willkommenshaltung bei der Grenzpolizei, die die Leute zuerst trifft oder in den Camps", sagt er.
"Es beginnt damit, dass genug Platz für alle da ist, dass sich um alle gekümmert wird. Das geschieht zwar, aber nicht immer der Zahl der Menschen entsprechend, die kommen. Ich denke, die Leute kommen schon mit der Motivation, nicht hier bleiben zu wollen, und werden hier dann noch mehr motiviert, nicht zu bleiben."

"Ich glaube nicht, dass sie es schaffen werden"

Während ein weiterer Zug an ihrem Unterschlupf vorbeirast, verabschieden wir uns von Hassein aus Afghanistan und seinen Begleitern. Sie sind gerade dabei, eine Essensspende in ihren Zelten zu verstauen, die ihnen ein Mitarbeiter der NGO Casa Logs mitgebracht hat. Danach wollen sie sich etwas ausruhen und am Abend geht es dann wieder zum Lkw-Parkplatz an der Autobahn, irgendwo im Nirgendwo in der Nähe von Temeswar.
Hassein hofft, dass es bald klappt und er es unter einer Lkw-Plane nach Deutschland schafft. Doch seine Chancen stehen schlecht, sagt uns Mujeeb, ein junger Afghane, der als Freiwilliger bei der NGO Logs aushilft, und den Männern Essen gebracht hat: "Die Polizei ist überall hier, auch die Grenzpolizei. Ich glaube nicht, dass sie es schaffen werden. Es ist zu schwer."
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