Gefangener seiner leeren Innenwelt

Von Christoph Leibold · 11.11.2012
Prince Leonce ist in dieser Bühnenfassung von Jan-Philipp Gloger gleich doppelt vorhanden: Als männliche und weibliche Figur, beide mit demselben Kostüm. Sämtliche weiteren Figuren sind Abspaltungen von Leonce - was Büchners Grundidee nahe kommt.
Sich selbst auf den Kopf sehen, davon fantasiert Prinz Leonce bei Büchner. In Augsburg kann er es, denn er ist gleich doppelt vorhanden. Sein Name steht in übermannsgroßen, plastischen Lettern auf der Bühne. Die Großbuchstaben sind innen hohl wie riesige Sandförmchen, man kann hinein- oder hinaufsteigen wie auf Klettergerüste am Spielplatz.

Zu Beginn sitzt der doppelte Leonce in Gestalt der Schauspieler Tjark Bernau und Judith Bohle auf dem "E". Sie kauert auf dem unteren Querbalken, er hockt am mittleren über ihr, von wo aus er ihr tatsächlich auf den Kopf sehen kann. Aber er sieht dabei nur: sein eigenes Double. Beide Darsteller tragen denselben Georg-Büchner-Schnauzbart und identische Kleidung: schwarzer Frack überm Rüschenhemd, Kniebundhosen, weiße Strümpfe, Stiefel.

Leonce - allein mit sich selbst. Regisseur Jan-Philipp Gloger, der in der vergangenen Spielzeit in Mainz erfolgreich Elfriede Jelineks "Winterreise" inszeniert hat, behandelt Büchners Lustspiel fast so wie ein Textflächendrama der Österreichischen Nobelpreisträgerin. Er hat - so darf man sich das wohl vorstellen - sämtliche Figurenbezeichnungen aus dem Stück getilgt und es als einen einzigen durchgängigen Fließtext gelesen, etliche Szenen gestrichen, dafür Passagen aus anderen Büchner-Schriften (aus Briefen zum Beispiel, anderen Dramen oder der Prosa) eingefügt, um diese Textmasse schließlich wieder neu auf zwei Darsteller, eben auf den doppelten Leonce, aufzuteilen.

Manchmal werden dabei aus Monologen, die Leonce im Original spricht, in Glogers Augsburger Inszenierung Zwiegespräche der Hauptfigur mit sich selbst; manchmal stellt der Regisseur auch die vertrauten Büchner-Dialoge wieder her, und einer der beiden Leonce-Spieler verwandelt sich für eine Szene oder auch nur Szenen-Bruchteile in Leonces Freund Valerio, seine Gespielin Rosetta oder in Prinzessin Lena. So werden sämtliche Figuren zu Abspaltungen von Leonce‘ eigenem Ich, Leonce aber nicht zur schizophrenen Persönlichkeit, sondern zum Gefangenen seiner leeren Innenwelt.

Das kommt der Figurenzeichnung des Autors ziemlich nahe: Büchners Leonce leidet an existentieller Langeweile und Lebensüberdruss, und kreist dabei ständig um sich selbst; ein Prinz, dem alle Welt offen steht, den aber gerade die Vielfalt der Möglichkeiten lähmt.

Dass Glogers kluger Einblick in Büchners Gedankenwelt keine Kopfgeburt bleibt, daran hat das Bühnenbild von Judith Oswald großen Anteil, das aus nichts als den erwähnten sechs Buchstaben besteht, die es braucht, um den Namen LEONCE zu schreiben. Es spiegelt das Dilemma des in Freiheit unfreien Prinzen sinnfällig wider: ein Spiel- und Tummelplatz, der den Schauspielern enorme Möglichkeiten eröffnet, sie zugleich aber auch in eine strenge Form zwingt - und das manchmal ganz buchstäblich, wenn Tjark Bernau und Judith Bohle, nicht nur oben auf den Buchstaben herumturnen, sondern sich in die Querbalken eines "E"s zwängen wie in enge Stockbetten oder nebeneinander am Fuße des "L"s hocken, als wären sie zwei Marionetten, denen man die Fäden gekappt hat.

Als Leonce schließlich auf Lena trifft und kurzzeitig Hoffnung aufkeimt, die Liebe könnte den Ausweg weisen aus dem Gefängnis des Ichs, streift sich Judith Bohle Brautkleid und Schleier über. Sie verwandelt sich, so scheint es, tatsächlich in Lena, nicht nur vorübergehend, während Tjark Bernau Leonce bleibt. Gemeinsam verrücken sie die großen Buchstaben, als wollten sie nun "LENA" damit schreiben. Doch leider, das "A" am Ende von "LENA" gibt die Buchstabenfolge "LEONCE" nicht her. Und so steht da plötzlich auf der Bühne "LE" - und dann eben nicht "NA", sondern "NO". Also "nein". Und Judith Bohle lüpft ihren Schleier und darunter kommt der Büchner-Schnauzbart zum Vorschein, den sie schon zuvor als eine Hälfte des doppelten Leonce trug. Auch in Lena begegnet Leonce nur sich selbst.

Jan-Philipp Gloger hat Büchners Drama verschlankt und verdichtet, und dabei dem Stück gerade in der Reduktion einen Reichtum zurückgegeben, der verblüfft angesichts der Abnutzungserscheinungen, die ein viel gespielter Klassiker wie "Leonce und Lena" in den Mühlen des Stadttheaterbetriebes beinah unweigerlich aufweist. Hoch verdienter Jubel in der Augsburger Brechtbühne.
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