Gefangen sind eigentlich die anderen

Von Dina Netz |
Bei der "Promethiade" waren drei Stücke, die sich mit Prometheus auseinandersetzen, auf dem Athens Festival, in der Kulturhauptstadt Istanbul und nun auch im Essener Zollverein zu sehen. Auch bei der Ruhr.2010 ging es darum, den Prometheus-Mythos auf seine Aktualität zu befragen.
Eigentlich waren die drei Produktionen der "Promethiade" in Essen in der falschen Reihenfolge zu sehen: Das Festival endet in diesen Tagen mit der Inszenierung eines Klassikers - der griechische Regisseur Theodoros Terzopoulos zeigt Aischylos' "Der gefesselte Prometheus". In der Mitte collagierte das Performer-Kollektiv Rimini Protokoll Stimmen von heutigen Athenern zum Prometheus-Mythos. Und begonnen hat das Festival Ende Juli mit der Dekonstruktion, nämlich mit einem "Anti-Prometheus" der türkischen Regisseurin Şahika Tekand.

Die Aufgabenstellung an die Regisseure bzw. Regieteams aus den drei Ländern war, den Prometheus-Mythos auf seine Aktualität zu befragen. Die Ergebnisse waren zuerst beim Athens Festival, dann in der Kulturhauptstadt Istanbul und jetzt eben in Essen zu sehen.

Zwölf Männer liegen am Boden, ihre Hände auf dem Rücken verkrampft, als wären sie gefesselt. Sie keuchen, Schüsse fallen, sie zucken. So eindrücklich und eindringlich beginnt Theodoros Terzopoulos' Inszenierung von Aischylos' "Der gefesselte Prometheus". Prometheus ist als Einziger nicht gefesselt: Er steht im Bühnenhintergrund und reflektiert seine Lage. Gefangen sind eigentlich die anderen, die Masse, die sich wie Würmer am Boden winden. Prometheus ragt über sie hinaus, weil er Mut bewiesen hat, indem er sich Zeus widersetzte, den Menschen formte und ihm das Feuer brachte. Das scheint Terzopoulos' Botschaft zu sein, für die er leider wenige szenische Einfälle hatte. Eigentlich nur noch einen weiteren: Immer mal wieder treten alle 13 inklusive Prometheus in eine Reihe und rufen "Der Tag wird kommen" - der Tag, an dem Prometheus befreit wird, ist gemeint. Doch bald darauf legen sie sich wieder hin und verkrampfen sich.

Der griechische Künstler Jannis Kounellis hat den Raum und die Bühne geschaffen, spektakulär eingebettet in das Gelände der Zeche Zollverein: Im Hintergrund die Umrisse der ehemaligen Waschkaue, vorn stehen leere, von Kounellis beschaffte Züge. Das Publikum sitzt auf einer Tribüne einer flachen Holzbühne gegenüber. Die erloschene Zeche im Hintergrund, während vorn der Feuerbringer Prometheus räsoniert – das ist imposant. Die Bühne selbst allerdings, die ja eigentlich nur aus Brettern und Zügen besteht, wirkt rätselhaft.

Wie auch die Aufführung für manchen rätselhaft bleiben wird, der Aischylos nicht internalisiert hat und nicht mindestens dreisprachig ist. Denn die Schauspieler sprechen in ihrer jeweiligen Muttersprache: Griechisch, Deutsch oder Türkisch. Und sie tun das, allen weit voran Götz Argus als Prometheus, auf eine ziemlich altmodische Weise laut deklamierend. Diese Inszenierung des "Gefesselten Prometheus" jedenfalls hat das Feuer nicht zur Zeche Zollverein zurückgebracht.

Das kann man eher von einer anderen Produktion sagen, die ebenfalls auf dem Aischylos-Stück basiert: Das Performer-Kollektiv Rimini Protokoll bat 103 Athener, die dem statistischen Durchschnitt der Einwohner Athens entsprechen, eine Figur aus dem "Gefesselten Prometheus" auszuwählen und zu erklären, warum sie sich mit ihr identifizieren. Anschließend wurden diese Athener Bürger mit moralischen Fragen konfrontiert und mussten sich in Felder stellen, die mit "ich" oder "ich nicht" markiert waren, also: Wer hat schon mal das Finanzamt betrogen? Wer würde töten, um seine Familie zu verteidigen? Wer verlangt Opfer von anderen?

Die Aufführung wurde mit mehreren Kameras gefilmt und in Essen auf eine Leinwand projiziert, was als Theaterabend aber wohl etwas statisch gewesen wäre. Deshalb brachten Helgard Haug und Daniel Wetzel den Regieassistenten und vier Akteure der Athener Aufführung nach Essen mit, die ihre Geschichten noch einmal selbst erzählten bzw. ihre Äußerungen auf der Leinwand kommentierten - eine Art Theaterabend über den Theaterabend in Athen also. Ein sehr berührender Abend obendrein, weil alle Beteiligten so entwaffnend ehrlich Auskunft gaben. Und weil man sich natürlich permanent selbst befragte, wie man die Gewissensfragen beantworten würde.

Insgesamt kann man sehr wohl sagen, dass die "Promethiade" das Feuer nach Essen zurückgebracht hat, denn alle drei Produktionen setzen sich intensiv mit dem Prometheus-Mythos auseinander: Sie haben die Vorlage sehr ernst genommen und nach ihrem Kern gesucht.

Links zum Thema
Prometheus mal sechs Kulturhauptstadt Ruhr 2010: "Promethiade" in Essen (DKultur)
Mehr zum Thema