Geduld statt Stress

28.10.2011
Mit "Krieg im Gehirn" geht der Psychotherapeut dem Phänomen Stress und seinen Nebenwirkungen auf den Grund. Dabei zeigt er, dass der Zwang zu Konfrontation und Disziplin fast alle Bereiche unseres Daseins erfasst hat – und wie wir ihm entkommen könnten.
Eine Million Jahre ist es her, dass der Mensch aufhörte, vor dem Feuer davon zu laufen. Beherrscht er es seitdem? Keineswegs, erklärt der Psychotherapeut Frank Henning: "Wir haben gelernt, das Feuer zu nutzen. Aber die Regeln dieser Nutzung bestimmt immer noch das Feuer, nicht der Mensch."

"Krieg im Gehirn" heißt sein neues Buch über den Stress, und wie wir ihm entgehen können - und der Titel ist ganz wörtlich gemeint. Sämtliche Lebensbereiche des modernen Menschen seien von der Auffassung durchtränkt, nur durch Konfrontation lasse sich etwas erreichen, beobachtet der Autor zunächst und erhärtet seine Analyse Kapitel um Kapitel. Die Aufnahme von Nahrungsmitteln ist zur erbitterten Auseinandersetzung mit Kilos und gefährlichen Zutaten mutiert. Das tägliche Leben wird im Kampf um jede Minute mit Zeitmanagementtricks und To-do-Listen organisiert, als ginge es wie im Sturmangriff um Leben und Tod.

Körperlichkeit - Erotik, Wohlergehen, Bewegung - thematisieren wir wie ein soldatisches Pflichtprogramm zur Stärkung von Gesundheit und funktionierenden Beziehungen. Und wer begehrt noch auf, wenn das Berufsleben ganz unter dem Zeichen der Konkurrenzfähigkeit steht? Selbst das allerorts empfohlene "Networking" mit Berufskollegen soll, sagt der Autor, nur die optimale Nutzung sozialer Ressourcen bringen.

Frank Henning arbeitet als NLP-Trainer, doch der reduktionistisch-patente Unterton, den man in der psychotherapeutischen Richtung des "Neurolinguistischen Programmierens" nicht selten antrifft, liegt ihm glücklicherweise fern. Und so dient ihm auch der Exkurs in die Gehirnforschung nicht als modische Kurzschluss-Erklärung, sondern wird psychologisch zurückgebunden. Die Idee des allzeit bereiten Menschen sei als mentales Konzept eine Hervorbringung des Großhirns, so Henning.

Stress entsteht, weil Zwischen- und Stammhirn ganz andere Bedürfnisse verwalten, auf deren Unterdrückung die Psyche mit massiver Gegenwehr reagiert: nach Geborgenheit, Muße, Eigenzeit, einem Reifen innerer Möglichkeiten, ohne zu zweckgerichteten Zielen angetrieben zu werden. Wie das Feuer, das die Regeln seiner Nutzung bestimmt, gebe es auch Anteile des Menschen, die sich der Zweckbestimmung entziehen. Keine noch so geschickte Zeitmanagement-Strategie, kein noch so guter Vorsatz zum neuen Jahr könne sie aushebeln. Im Gegenteil: Je mehr wir uns zu nötigen versuchen, und sei es zu Wellness-Aktivitäten, umso stärker werden Stress und Fluchtbewegungen zu öden Oberflächlichkeiten.

"Krieg im Gehirn" - dem Buch wäre ein klügerer Titel zu wünschen, der die kritische Auseinandersetzung mit der Metapher reflektiert. Auch braucht man Geduld, bis die verschiedenen theoretischen Ausflüge des Autors am Ende zusammenfinden. Aber warum nicht Geduld? Denn das ist die schwierige Lösung wider den Stress, zu der Frank Henning am Ende des Buches findet: Hören wir auf, uns zu optimieren. Werden wir, in Ehrfurcht vor uns selbst und vor dem Leben, sinnvoll tätig und sinnvoll still.

Besprochen von Susanne Billig

Frank Henning: Krieg im Gehirn - Wie uns der Stress beherrscht
Primus Verlag, Darmstadt 2011
144 Seiten, 16,90 Euro
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