Gedichte

Große Worte sind nicht große Lyrik

Ben Okri, Schriftsteller
Ben Okri, Schriftsteller © picture alliance / dpa / Foto: Lehtikuva Oy 9608110
Von André Hatting · 12.06.2014
Als Ben Okri 1991 mit nur 32 Jahren den renommierten britischen Booker Prize erhielt, weckte er große Hoffnung. Sein Gedichtband "Meine Mutter schläft" über Liebe, Tod und Freiheit zeigt aber, in jedem Erzähler steckt nicht auch ein Lyriker.
"Meine Mutter schläft
In einem abgewetzten Sessel.
Es ist Nacht, und ich
Bin wieder ein Kind."
So beginnt das Gedicht "Meine Mutter schläft" und auch der neue Gedichtband von Ben Okri. Das lyrische Ich beobachtet seine schlummernde Mutter, erinnert sich dabei an die Kindheit in den "erbarmungslosen / Straßen". Immer war die Mutter da und hat über seinen Schlaf gewacht. "Endlich bin ich an der Reihe", so schließt das Gedicht. In einem anderen erzählt Okri, wie ein blauer Schal eine Großfamilie vor Überschwemmungen in Mosambik rettet. Das Kleidungsstück wird zum "Sicherheitsnetz", "mächtiger / als die mächtigsten Nationen" – ein einfaches Bild in einfachen Worten mit großer Wirkung.
Leider sind Texte dieser Art die Ausnahme in dem Band "Wild“. Die allermeisten der 50 Gedichte erwecken den Eindruck, Ben Okri glaube, große Lyrik bestehe aus großen Worten: Unendlichkeit, Freiheit, Welt, Liebe, Schicksal, Tod – darunter macht es der Autor selten in seinen "Gesängen" (sic!). Gern schlägt er den hohen Ton an, versetzt mit Gemeinplätzen: "Was in der Seele schlummert, / entzieht sich oft den Augen" oder "Du hast die Anmut einer afrikanischen Gazelle" oder "Wir pflanzen in der Zeit die Taten / Wie ein Gärtner Rosen pflanzt und Saaten".
Unsere eurozentrisch verengte Perspektive erweitern
Dabei ist Okris Thema eigentlich vielversprechend: der Blick des Londoners auf seine afrikanischen Wurzeln und die postkoloniale Welt. Das hat Potenzial und könnte unsere eurozentrisch verengte Perspektive erweitern, so wie Okri das mit seiner Prosa gelingt. Doch seine Lyrik verblasst dagegen. Liegt es daran, dass er viele der Gedichte zunächst twitterte, sie also möglicherweise spontan entstanden sind und nicht weiter bearbeitet worden?
Liegt es an seinem Poesieverständnis, das um das "Geheimnis" und um "Wahrheit […] in geheimer Nacht" kreist? Oder liegt es auch an der Übersetzung von Brigitte Oleschinski? Nachgestellte Genitive ("unter der Schafe Bauch") oder eigenwillige Ellipsen ("Was immer ich geschaffen / War voller Angst" für “"ll the things I made / Were full of fear") lassen die Texte im Deutschen manchmal noch älter aussehen als im Englischen. Auch Oleschinksis Umgang mit den Reimen des Originals irritiert ein wenig. Manchmal verzichtet sie in ihrer Übertragung ganz darauf, dann werden lediglich einige der Reime nachgedichtet.
Nicht jeder gute Erzähler ist auch ein bedeutender Lyriker
Vielleicht liegt es ganz einfach daran, dass nicht jeder gute Erzähler auch ein bedeutender Lyriker ist. 1991 erhielt Ben Okri für seinen Debütroman "The Famished Road" (deutsch: "Die hungrige Straße“) den Booker Prize, Großbritanniens wichtigste Auszeichnung für Literatur. Eine kleine Sensation, denn Okri war mit 32 Jahren der jüngste Schriftsteller, dem diese Ehre zuteil wurde. Das hat enorme Hoffnungen geweckt. Ben Okri muss nicht alle erfüllen.

Ben Okri: "Wild"
Wunderhorn, Heidelberg 2014
184 Seiten, 18,90 Euro

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