Gedenktag an NS-Opfer

    "Ich wäre auch betroffen gewesen"

    Der Berliner Schauspieler und Synchronsprecher Sebastian Urbanski
    Der Berliner Schauspieler und Synchronsprecher Sebastian Urbanski © dpa / picture alliance / Thalia Engel
    Sebastian Urbanski im Gespräch mit Mareike Knoke · 27.01.2017
    Am heutigen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erinnert eine Sonderveranstaltung an die "Euthanasie"-Opfer. Mit Sebastian Urbanski spricht erstmals auch ein Mensch mit geistiger Behinderung vor dem Bundestag: Der Schauspieler wurde mit dem Down-Syndrom geboren.
    Der 27. Januar ist der Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die sowjetische Armee - und offizieller Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. In Auschwitz-Birkenau ließ das NS-Regime über eine Million Menschen in den Gaskammern ermorden. Die meisten von ihnen waren Juden.

    Gedenken an "Euthanasie"-Opfer

    In diesem Jahr wird der Bundestag insbesondere der Opfer der "Euthanasie" im nationalsozialistischen Deutschland gedenken: Menschen mit geistigen und schweren körperlichen Behinderungen und psychisch Erkrankte, die ermordet wurden. Nicht nur Angehörige von Opfern werden Gedenkreden halten, auch der Schauspieler Sebastian Urbanski, der mit dem Down-Syndrom geboren wurde, wird einen Text vorlesen.

    Programmtipp: In unserer Sendung "Studio 9" ab 12.07 Uhr berichten wir über die Gedenkveranstaltung des Bundestages.

    Erstmals spricht somit ein Mensch mit geistiger Behinderung vor dem Bundestag. Das Ensemble-Mitglied des Berliner Theaters RambaZamba trägt aus dem Brief des "Euthanasie"-Opfers Ernst Putzki vor. Dieser schildert darin seiner Mutter in drastischen Worten, wie die Nazis ihn und seine Leidensgenossen in der hessischen Anstalt Weilmünster langsam verhungern lassen. Wir haben mit dem 38-jährigen Schauspieler vor der Veranstaltung gesprochen:
    Herr Urbanski, was bedeutet es Ihnen, vor dem Bundestag den Brief des NS-Opfers Ernst Putzki vorzulesen?
    Urbanski: Es ist eine Ehre für mich. Und es ist sehr wichtig, an das Leiden dieser Menschen zu erinnern, die so lange vergessen wurden. Und zwar in Würde – das ist mir ganz wichtig. Sie waren Menschen wie andere auch und wurden umgebracht – nur deshalb, weil sie anders waren. Hätte ich damals gelebt, wäre ich auch betroffen gewesen. Heute bringt man uns zwar nicht mehr um, aber Babys mit Down Syndrom werden abgetrieben. Das ist eigentlich das Gleiche.
    Welches Signal möchten Sie mit der Lesung setzen?
    Urbanski: Dass alle Menschen das gleiche Recht haben zu leben. Doch mit Worten wie "Inklusion" ist es leider nicht getan, um eine solche Gleichheit zu bekommen. Man muss Gleichheit leben – und das kostet Geld und Kraft. Das erfahre ich selbst im Alltag.
    Der Brief von Ernst Putzki ist schonungslos ehrlich, schrecklich und traurig. Könnten Sie sich vorstellen, eine Figur wie Putzki auf der Bühne darzustellen?
    Urbanski: Ja, auf jeden Fall. Es wird sicherlich schwer – aber mit Hilfe unserer Regisseurin würde ich es mir zutrauen.

    Ernst Putzki schrieb am 3. September 1943 einen Brief an seine Mutter - den diese allerdings nie erhalten hat, weil er abgefangen und zur Patientenakte gelegt wurde. Er schildert darin die unmenschlichen Bedingungen in der abgelegenen Anstalt Weilmünster. Im Januar 1945 wurde Putzki ermordet.

    Er schrieb unter anderem:
    "Wir wurden nicht wegen der Flieger verlegt, sondern weil man uns hier unauffällig verhungern lassen kann. Von den Warsteinern, die mit mir auf diese Siechenstation kamen, leben nur noch wenige. Die Menschen magern hier zum Skelett ab und sterben wie die Fliegen.
    Wöchentlich sterben rund 30 Personen. Man beerdigt die hautüberzogenen Knochen ohne Sarg."

    Zwei Scheiben Brot pro Tag erhalte jeder von ihnen. Und manchmal eine ekelerregende Brühe mit Gemüseabfällen. "Der Hungertod sitzt uns allen im Nacken. Keiner weiß, wer der nächste ist."

    (Entnommen dem Buch "Die Belasteten" von Götz Aly, S.Fischer-Verlag)

    Zwischen 70.000 und 100.000 Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen wurden nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 1939 und 1945 im Rahmen des NS-"Euthanasie"-Programms ermordet. Bis zu 400.000 Männer und Frauen wurden seit 1933 zwangssterilisiert, über 6.000 von ihnen überlebten den Eingriff nicht.
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