Museum Seelower Höhen

Schwieriges Gedenken

10:43 Minuten
Jugendliche Besucherinnen und Besucher steigen eine Treppe in der Gedenkstätte und Museum Seelower Höhen hoch. Im Hintegrund ist das Hauptdenkmal zu sehen: Die monumentale Statue eines Sowjetsoldaten, der in die Ferne blickt. Seelow befindet sich im Bundesland Brandenburg am Rand es Oderbruchs:
Regelmäßig besuchen Schülergruppen die Gedenkstätte Seelower Höhen. Viele Fragen zu Russland liegen ihnen auf der Seele - gerade jetzt, vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges. © Imago / Jürgen Ritter
Von Nana Brink · 05.05.2022
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Auch Wladimir Putin war zum 50-jährigen Bestehen der Gedenkstätte Seelower Höhen eingeladen. Dann griff Russlands Armee die Ukraine an. Die Gedenkstätte erinnert an eine der blutigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs, bei der viele Russen starben.
Landrat Gernot Schmidt ist gut vorbereitet. "Ich habe nichts zu verbergen", sagt er sofort und schaut sehr ernst. Der Brief, um den es geht, liegt auf dem Tisch in seinem Büro in Seelow.
Dieser Brief, räumt Schmidt ein, sei durch die Ereignisse überrollt worden. "Er hat natürlich zu einer massiven Heftigkeit geführt, im Endeffekt war das einfach ein Versuch, der gescheitert ist."

Brief an den russischen Präsidenten

Es sollte eine große Gedenkveranstaltung geben in diesem Jahr. Ehrengast: Wladimir Putin. Im Februar dieses Jahres schreibt der SPD-Landrat zusammen mit anderen Honoratioren der Region einen Brief an den russischen Präsidenten.

Tief beunruhigt vom verbalen Aufrüsten in großen Teilen der westlichen Welt und nach einer nach dem 2. Weltkrieg kaum dagewesenen Zuspitzung der Interessengegensätze zwischen der Nato und Russland wenden wir uns heute an Sie. In diesem Jahr begehen wir das 50-jährige Jubiläum der Gedenkstätte Seelower Höhen. Hierzu laden wir Sie, sehr geehrter Herr Präsident Putin, herzlich nach Seelow ein.

Auszug aus einem Brief des Landrats Gernot Schmidt an Wladimir Putin

"Das war eine Fehleinschätzung", sagt Schmidt. "Natürlich bewerte ich diesen Krieg, für mich ist das ein verbrecherischer Angriffskrieg, und das hat Putin zu verantworten. Das haben wir auch immer klar gesagt." 
Das „klar sagen“ allerdings hat ein wenig gedauert. Der Brief, abgeschickt, als die russische Armee schon vor den Grenzen der Ukraine aufmarschiert ist, führte zu massivem Protest  – nicht nur des ukrainischen Botschafters. Überregionale Medien sprechen von einem „Kotau des Landrats“.

"Es ist für mich eine Zäsur"

Erst nach dem Beginn des Kriegs zieht er seine Einladung zurück und sagt heute dazu: "Was heißt zerknirscht? Ich bin nicht zerknirscht, da wehre ich mich, es ist für mich eine Zäsur. Dass Krieg brutal ist, auch für die Zivilbevölkerung, das wissen die Menschen im Oderbruch sehr gut. Ich bin zerknirscht, weil wir in Europa in einer neuen Phase sind: Krieg ist wieder Teil der Politik in Europa."
Jetzt wirkt Gernot Schmidt doch etwas getroffen. Seine bullige Statur, die normalerweise alles abwehrt, sackt kurz zusammen. Gerade er, als SPD-Mann, wollte alles richtig machen. Versöhnung über die Gräber hinweg – das ist sein Motto. In Seelow aber ist die Wirklichkeit anstrengend.
Das Ehrenmal erinnert an die Schlacht um die Seelower Höhen und an die Sichtweise, die die DDR darauf hatte. Die bronzene Monumental-Plastik eines sowjetischen Soldaten steht seit Ende 1945 auf der Seelower Anhöhe. Mit trauernden Augen blickt er auf das Schlachtfeld.

Die größte Schlacht auf deutschem Boden

Es war die größte Schlacht auf deutschem Boden – und die verlustreichste. Zwischen dem 16. und 19. April 1945 starben hier über 50.000 Soldaten, die meisten Rotarmisten.
Die Befreier bauten anschließend ein Kriegerdenkmal für ihre „Helden“, so steht es auf den Grabplatten. „Ewig unvergessen seid Ihr Sowjetsoldaten“, schreibt die DDR 1972 dazu. In der neuen Gedenkstätte wird nur der Befreier gedacht. Die gefallenen deutschen Soldaten und auch die Leiden der Zivilbevölkerung finden in der propagandistischen Darstellung nicht statt. Das ändert sich nach der Wende in einer neuen Ausstellung.
Was sich nicht ändert: "Es ist eine sowjetische Gedenkstätte, die Völker der Sowjetunion haben ja die Hauptlast dieses Zweiten Weltkriegs getragen", sagt Gernot Schmidt. Man gedenke am 16. April immer der Toten der sowjetischen und der deutschen Seite mit einer Kranzniederlegung. "Auch jetzt am 16. April, haben wir das wieder so gehalten."

Gedenkveranstaltung ohne Putin

Die Gedenkveranstaltung am 16. April hat ohne den russischen Botschafter stattgefunden, auch ohne den ukrainischen. Von Putin war keine Rede, sagt Landrat Schmidt – und wischt den Brief weg.
"I have to be carefull what I say", leitet Nigel Dunkley seine Worte ein. Er war Soldat in der britischen Armee in West-Berlin. "Es ist nicht gerade sehr fair, aber es ist ziemlich leicht zu verstehen, warum die ausgeladen werden – sowohl Russen wie Ukrainer –, weil das schickt die falsche Botschaft hinaus, dass die Russen immer noch sehr willkommen sind, und das sind sie nicht, das kann man nicht sagen." Mehr könne er nicht sagen.

Schmierereien an Gedenksteinen

Seit Jahrzehnten führt Dunkley Besuchergruppen über die Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs. Fast jede Woche ist er in Seelow. Seit zwei Monaten spürt er, wie sich die Stimmung wandelt. Erst kürzlich wurde in Kienitz unweit von Seelow eine ukrainische Fahne an das Rohr eines alten sowjetischen Panzers gehängt. Er hat Schmierereien an sowjetischen Gedenksteinen gesehen.
"Man merkt das in meiner Arbeit." Er sei im Treptower Park in Berlin an der Gedenkstätte und auch bei den sowjetischen Ehrendenkmalen im Tiergarten: "Da hat es Probleme gegeben. Das ist nicht akzeptabel meiner Meinung nach."
Eine Besuchergruppe verlässt den Kinosaal der Gedenkstätte. Vor einer Fotowand bleiben zwei junge Männer stehen. Es zeigt junge sowjetische Soldaten auf einem Panzer. "Verrückt", sagt einer der Männer. "Das Bild kenne ich aus der Tagesschau." Dann entspannt sich eine Diskussion.

Die Schülerinnen und Schüler haben viele Fragen

Rund 15 Kilometer von der Gedenkstätte Seelower Höhen entfernt erstreckt sich der Reitweiner Sporn, eine Anhebung von rund 80 Metern. Ein schmaler Pfad führt durch das frühlingsgrüne Gebüsch. Rechts und links sieht man tiefe überwucherte Gräben.
Nach rund einem Kilometer weist eine vermoderte Tafel auf den Gefechtsstand von Marschall Schukow hin. Von hier aus erteilte der Oberbefehlshaber der Roten Arme am 16. April 1945 den Befehl für den Angriff.
Lehrerin Katrin Wachsmann ist mit Schülern des Oberstufenzentrums Märkisch Oderland aus Seelow nach dem Besuch der Gedenkstätte hierhergefahren.
Die Schüler und Schülerinnen sind ziemlich aufgekratzt. Sie stehen in kleinen Gruppen und sprechen über das Gestern – aber eigentlich fast mehr über das Heute: "Schon komisch, ist halt auch traurig. Man dachte, eigentlich ist der Krieg vorbei, und man hätte eine schönere Aussicht auf die Zukunft. Und weil jetzt auch gedroht wird mit Atomwaffen, da hat man einfach Angst um die Zukunft."

"Wir müssen den Kontakt wieder aufnehmen"

Lehrerin Wachsmann ist überrascht, wie viele ihrer Schülerinnen und Schüler plötzlich Fragen stellen und sich Gedanken machen über das Verhältnis zur Sowjetunion und zu Russland und über die Aggression der russischen Regierung gegen die Ukraine.
Landrat Gernot Schmidt kann den diesjährigen 16. April nicht so schnell vergessen. Auch seinen Brief an Wladimir Putin nicht, den er heute für einen Fehler hält. Das zu sagen, fällt ihm schwer. Auch, dass der Faden zu den Befreiern von einst gerissen ist.

Angst um Europa

"Wir haben auch Patenschaften, wir haben immer Kontakt, auch mit den Veteranenorganisationen der sowjetischen Armee", sagt der Landrat. "Der ist jetzt durch die Ereignisse ein bisschen eingeschlafen oder der ruht etwas, aber ich bin natürlich grundsätzlich der Meinung, dass wir diesen Kontakt wieder aufnehmen müssen."
Für ihn steht fest: "Die Zivilgesellschaft – und wir sind Zivilgesellschaft, wir machen hier keine Außenpolitik als Landkreis –, die einfachen Menschen, die müssen miteinander reden. Und wenn wir zulassen, dass diese Kanäle zerstört werden, dann ist mir um Europa Angst."
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