Gepöbel bei Merkel-Besuch in Zwickau
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Beim Besuch der Bundeskanzlerin an der neuen Gedenkstelle für die NSU-Opfer in Zwickau waren auch „Merkel muss weg“-Rufe zu hören. Der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Johannes Tuchel, spricht von einer "Verrohung des Klimas“.
Vor dem Besuch der Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die Polizei mit einem Großaufgebot den Gedenkort für die NSU-Opfer in Zwickau abgeriegelt. Kein Zutritt zu den zehn gepflanzten Bäumen und den Gedenkplatten. Trotzdem, wenn auch leise, war eine Gruppe zu hören, wie sie unter anderem "Merkel muss weg" skandierte.
Dies mache ihn "sehr nachdenklich", sagt Johannes Tuchel, Politikwissenschaftler und Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. "Ich denke, das zeigt eine Verrohung des Klimas. Und da müssen wir immer gucken: Was bedeutet es, wenn die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland an Mordopfer erinnert und das dann plötzlich auch wieder schon in eine Beschimpfung ausarten kann."
Aus bürgerlicher Verantwortung entstanden
Trotzdem glaubt Tuchel, dass die Gedenkstätte ein Ort werden könne, an dem man der zehn Opfer angemessen gedenken könne. Schließlich sei sie in kürzester Zeit aus bürgerschaftlicher Verantwortung entstanden, "aus einem Engagement junger Menschen heraus".
Vor einigen Wochen hatten Unbekannte einen Gedenkbaum für Enver Şimşek, das erste Opfer des NSU-Terrors, gefällt und kurze Zeit später eine Gedenkbank für die Opfer des Terror-Trios demoliert. Das hatte in der Zwickauer Zivilgesellschaft für Entsetzen gesorgt und zu einer spontanen Gedenkaktion am Montag geführt.
Etwa 120 Schülerinnen und Schüler des Peter-Breuer-Gymnasiums hatten am Gedenkort eine Schweigeminute für die Opfer des NSU abgehalten. Auf einem Spendenkonto wurden rund 14.000 Euro gesammelt, um zehn große Bäume für die Opfer des rechtsterroristischen NSU zu pflanzen.
"Ich finde es bewundernswert, dass es innerhalb kürzester Zeit gelungen ist, erst einmal einen provisorischen Ort der Erinnerung zu schaffen", so Tuchel.
Diskurs statt Geschrei und Gepöbel
Die Reaktionen vor Ort würden letztendlich zeigen, "dass man lange über Mahnmale oder Denkmale reden kann und reden muss". Dabei gehe es nicht nur um das fertige Denkmal, meint Tuchel. Vielmehr sei die Entstehung solcher Denkmale immer von einem Diskussionsprozess begleitet. Auch wenn das Risiko der Schändung bestehe: "Schließen würde ich derartige Orte auf keinen Fall", so Tuchel.
Letztendlich seien solche Orte in einer offenen Gesellschaft nie vor Schändung sicher. "Das können Sie nicht verhindern. Aber Sie können es thematisieren. Sie können darüber diskutieren und sagen: Diese Erinnerung gehört zu uns in einer offenen Gesellschaft und wir müssen in einer offenen Gesellschaft wieder zu Diskussionsformen kommen, die bei einem Besuch der Bundeskanzlerin nicht mehr in Geschrei und Gepöbel besteht, sondern wieder in einem Diskurs: Was bedeuten derartige Erinnerungsorte für unser Gemeinwesen."
(lkn)