Gedenken an Naziterror in ganz Berlin

Von Jochen Stöckmann · 30.01.2013
Anlässlich der Machtübernahme der Nationalsozialisten vor 80 Jahren wird an 40 Orten in Berlin gezeigt, welche Auswirkungen die nationalsozialistische Diktatur auf das Leben in der Hauptstadt hatte. Parallel dazu zeigt das Deutsche Historische Museum die Ausstellung "Zerstörte Vielfalt. Berlin 1933 - 1938".
Der Maler Max Liebermann, Theatergrößen wie Bert Brecht oder der Nobelpreisträger Albert Einstein, aber auch Zirkusartisten, Varietékünstler und Fotoreporter - sie alle verkörpern auf einigen hundert Litfaßsäulen im Berliner Stadtbild das quirlige Leben einer Kulturmetropole. Und sie repräsentieren die Schicksale Tausender, die vom Januar 1933 an, nach Hitlers Machtübernahme als Reichskanzler, vom Nazi-Regime verfolgt, vertrieben, ermordet wurden.

Klaus Wowereit: "Natürlich wollen wir die Geschichte von Menschen darstellen: Berlin ist sich seiner ermordeten ehemaligen Bürgerinnen und Bürger und deren fortwirkenden Leistungen für das gesellschaftliche Leben dieser Stadt, der Kultur und der Wirtschaft bewusst. Mit dem nachhaltigen virtuellen Stadtplan im Internet wollen wir diese Menschen gewissermaßen wieder einbürgern."

Bei diesem Wunsch von Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit anlässlich der Eröffnung der Ausstellung "Zerstörte Vielfalt" im Deutschen Historischen Museum schwingt ein moralischer Unterton mit, ein Appell, wie man ihn seit Jahrzehnten aus Sonn- und Gedenktagsreden kennt: Was damals geschah, ist verdammungswürdig und darf nie wieder passieren! Wie es dazu kam, um diese Frage kümmert sich eine Erinnerungskultur, wie sie etwa der Historiker Michael Wildt unter seinen Studierenden ausmacht:

"Diesen jungen Leuten muss ich nicht mehr erzählen, dass Hitler ein großer Verbrecher war. Was die interessiert, ist das Umkippen einer Gesellschaft. Nicht zu wissen, oder meinen zu wissen, wie alles gekommen ist, sondern indem man erforschen muss, wie diese Schritte vonstattengehen, mit wie viel Wegschauen, wie viel Anteilnahme, wie viel scheinbarer Distanzierung oder dem Glauben, sich temporär einlassen zu können."

Solche Verhaltensweisen und mentalitätsgeschichtlichen Umbrüche sind nur schwer anschaulich zu machen - und sicher nicht einzufangen mit einem bunten Sammelsurium von Filmausschnitten, Plakaten und anekdotischen Trouvaillen, wie es das DHM in dieser sogenannten "Portalausstellung" bietet, die auf einen Reigen von etwa 120 Einzelausstellungen quer durch die Stadt aufmerksam machen soll. Als "eyecatcher" gibt es da etwa zwei Vitrinen mit blanken Pistolen, Stiefeln und Koppelschlössern sowie Werbetafeln für die Zigarettenmarken "Trommler" und "Kollektive": Ausstattung für die Straßenschlacht, einmal von rechts, bei der SA, dann bei den Linken, bei Reichsbanner und Rotfront.

Wie sich die Organisation der NSdAP von den anderen Parteien unterschied, wie die Nazipropaganda klassen- und schichtenübergreifend auf die ganze sogenannte "Volksgemeinschaft" zielte, das demonstriert dagegen augenfällig ein schlichtes Foto in der handlichen Broschüre, die mit knappen und präzisen Texten alle Veranstaltungen auflistet, darunter eben das Projekt des Gehörlosen-Bundes mit der historischen Aufnahme des Berliner Gehörlosen-SA-Sturms, durch den auch diese Minderheit "erfasst" werden sollte.

Daneben wird das Gedenken an bislang vernachlässigte Opfergruppen stehen wie jüdischen Psychiatriepatienten oder schwarzen Menschen, die damals in Berlin lebten. Ähnliches hatten Bürgerinitiativen bereits 1983 organisiert, damals aber keine finanzielle Förderung durch den Senat erhalten, erklärt Christine Fischer-Defoy vom Aktiven Museum:

"Es hat eine ganze Generation - 30 Jahre - gedauert, bis das Gedenken an Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus zu einer politischen Selbstverständlichkeit geworden ist. Inzwischen gibt es hier in Berlin zahlreiche Gedenkstätten und Denkorte, sie sind zu einem Markenzeichen dieser Stadt geworden und zu einem Tourismusmagneten."

Dass es soweit kommen konnte, ist auch der engen Kooperation von bürgerschaftlichen Initiativen, Geschichtswissenschaftler und Museumsleuten zu danken. Welche Früchte diese Zusammenarbeit von engagierten Laien und Fachhistorikern tragen kann, wird im DHM allenfalls ansatzweise deutlich, ist aber nachzulesen in dem Aufsatzband "Berlin 1933-1945", herausgegeben von Michael Wildt, der über dieses Buch hinaus vor allem in der facettenreichen Konzeption des Gesamtprojektes "Zerstörte Vielfalt" eine moderne Form der Wissensproduktion sieht:

"Weil viele Initiativen an ihrem Ort ganz intensiv und akribisch forschen und dieses Wissen nicht durch große Meistererzählungen verbunden wird sondern wie in einem Mosaik. Und: es gibt auch Fragmente, es gibt auch Löcher und es gibt auch dunkle Stellen. Es gibt viele Facetten alltäglichen Lebens, von denen wir heute nichts mehr wissen können."

Über die sich aber jeder unterrichten, ein Bild machen kann - anhand der Spuren, die nicht nur durch die mittlerweile fast 5.000 Stolpersteine in ganz Berlin gelegt sind, sondern auch an den jeweiligen Tatorten und Schauplätzen, etwa dem Hotel Bogota als Sitz der "Reichskulturkammer", der Schwartzschen Villa, wo das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt residierte oder an einer gelb gestrichenen Bank, die vor dem Haus Fontanepromenade 15 auf das kaum bekannte "Zwangsarbeitsamt für Juden" hinweist.

Service:
Die Ausstellung Zerstörte Vielfalt. Berlin 1933-1938 ist bis zum 10. Januar im Deutschen Historischen Museum Berlin zu sehen.

Links zum Thema bei dradio.de:
"Die Homogenisierung einer Gesellschaft"
Historiker über das Berliner Themenjahr "Zerstörte Vielfalt"

Radikalisierung einer Volksgemeinschaft
Alltag des Nationalsozialismus ist Gegenstand der Konferenz zur Holocaustforschung

Als Hitler an die Macht kam
Die tragische Lebensgeschichte einer deutsch-jüdischen Familie wird im Internet nachvollziehbar
Mehr zum Thema