Gedankliche Schätze eines Geistesgiganten

Rezensiert von Wolfgang Schneider |
Was ist dem Menschen wichtiger als der Mensch? Für den Goethe-Freund und Ästhetiker Karl Philipp Moritz war das Studium des Menschen eine Lebensaufgabe. Die Bruchstücke seines umfangreichen Werkes hat Lothar Müller nun eingesammelt und kommentiert.
Er war einer der wichtigsten Protagonisten des urbanen - von der Spätaufklärung geprägten - Berliner Klassizismus um 1800: Karl Philipp Moritz (1756-1793). Am 14. September vor 250 Jahren wurde er in Hameln an der Weser geboren. Die letzten anderthalb Jahrzehnte seines kurzen Lebens lebte, lehrte und schrieb er in Berlin.

Man kennt und bewundert den Autor vor allem für den "Anton Reiser", den eindrucksvollsten Verbildungsroman der deutschen Literatur - eine Eigenoperation an der offenen Seele. "Anton Reiser" wurde von Arno Schmidt als Buch gepriesen "wie es kein anderes Volk der Erde besitzt".

Aber Moritz war nicht nur erste autobiografische Selbstentblößer der deutschen Literatur - der Erste, der die psychosozialen Beschädigungen eines unterprivilegierten Individuums zum Gegenstand eines bedeutenden Romans machte - sondern zugleich auch Vordenker der klassischen Autonomie-Ästhetik, die von Goethe und Schiller später ausgeführt wurde und bekanntlich alles andere als eine Poetik des sozialen Romans war. Wie passen solche scheinbaren Paradoxien zusammen? Kommt hier etwa jenes Entwicklungsschema zur Geltung, das Germanisten seit je gerne auf Autorenbiografien projizieren: frühe Radikalität, spätere Abgeklärtheit?

Die Zäsur der italienischen Reise, die Moritz 1786 bis 1788 unternahm, scheint das nahe zu legen. Wie Goethe brach auch Moritz fluchtartig aus seinen Lebensverhältnissen als Lehrer am Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster aus. In Rom wurde er zu Goethes gleichberechtigtem Partner in den Kunst- und Literaturdebatten. Mit Goethes Unterstützung dann 1789 in Berlin Professor der Schönen Künste. Eine ansehnliche Karriere, die weit weg führte von der plebejischen Kindheit und Anton-Reiser-Misere.

Aber so sehr die biografische Kurve eine Wandlung vom sozialen Stürmer zum klassizistischen Stabilisator auch nahe legt - die geistigen Kontinuitäten überwiegen. Moritz hat die sozialgeschichtliche Psychologie und die Autonomie-Ästhetik parallel verfolgt. Das hat seine Logik. Gerade weil er "von der Wiege an unterdrückt" war - wie es über Reiser heißt - gerade weil er Ausbeutung und Missbrauch am eigenen Leib kennen gelernt hatte, bekam für ihn das Kunstschöne als das "in sich selbst Vollendete", als "Nutz- und Zwecklosigkeit" und "freier Spielraum" so eminente Bedeutung. Die oft als akademisch empfundene klassische Ästhetik besitzt in seinem Fall wahrhaft existenzielle Schubkraft.

Die "Götterlehre" war lange Zeit sein erfolgreichstes Buch. Während der desillusionierende "Anton Reiser" hundert Jahre lang nicht über die erste Auflage hinaus kam, wurde die populäre Einführung in die griechisch-römische Mythologie immer wieder nachgedruckt. Viele Künstler des 19. Jahrhunderts arbeiteten ihre mythologischen Szenen anhand dieses Handbuches aus.

Die antiken Mythen waren für Moritz dabei weder ein verkleideter Geschichtsbericht noch Allegorien, sondern "Sprache der Phantasie". Nicht eine versteckte Bedeutung, sondern die sinnliche Konkretion als Feier und Erhöhung des diesseitigen Lebens machten den Reiz für ihn aus. Moritz hatte eine Alternative zur Traumatisierung durch die weltfeindliche mystische Frömmelei seiner Kindheit im Sinn.

Lothar Müller, Literaturredakteur der "Süddeutschen Zeitung" und ein guter Kenner des 18. Jahrhunderts - vor Jahren schrieb er eine unfangreiche Dissertation über Moritz - hat zum 250. Geburtstag des Autors ein Lesebuch zusammengestellt, das eine "Anregung zur Sprach-, Denk- und Menschenkunde" sein will - so der Untertitel.

"Das Karl Philipp Moritz-ABC" nennt sich das Buch, was ein wenig in die Irre führen kann. Denn es handelt sich in erster Linie nicht um ein von Müller verfasstes Nachschlagewerk, das Leben und Werk Moritz' sekundär erschließt - wie es bei vielen Bänden dieser beliebt gewordenen ABC-Reihen üblich ist. Vielmehr hat Müller Originaltexte aus Moritz Werken zusammengestellt und sie dann - ganz ohne Fußnotenwirtschaft - mit eleganter Gelehrsamkeit erläutert.
Man liest also Ausschnitte aus den Romanen "Anton Reiser" und "Andreas Hartknopf", aber auch schwerer zugängliche Essays, Briefe und Miszellen, in denen der Anthropologe, Pädagoge und Klassizismus-Theoretiker zu Wort kommt. Über so vielfältige Themen wie den Tanz, die Juden - mit denen er als Unterprivilegierter stark sympathisierte - die Werbung oder die Konzeption einer "vollkommenen Zeitung" hat sich der universal neugierige Moritz Gedanken gemacht.

Besonders hervorhebenswert: der längste Text des Bandes - der berühmte "Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungs-Seelenkunde". Dieses Magazin - das Moritz später unter großer Beachtung herausgab - war eine der ersten psychologischen Zeitschriften in Deutschland. "Fakta, kein moralisches Geschwätz", lautete das Motto, unter dem die Lebensgeschichten von Exzentrikern, Verzweifelten, Psychopathen und Selbstmördern gesammelt und leib-seelische Zusammenhänge analysiert wurden. Ein Archiv der Anthropologie des 18. Jahrhunderts.

Wen diese kühne Menschenkunde interessiert, der bekommt mit dem "Karl Philipp Moritz-ABC" eine anregende Lektüre, die durch die essayistischen Kommentare Lothar Müllers viele Zusammenhänge erschließt. Wer sich von einem großen - aber immer noch zu wenig bekannten Autor - faszinieren lassen möchte, sollte hingegen erst einmal zum "Anton Reiser" greifen.

Lothar Müller: Das Karl Philipp Moritz-ABC.
Eichborn Verlag, 2006
431 Seiten, 19.90 Euro
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