Gedankenloses Gedenken
Dass Denken und Gedenken sich nicht ausschließen müssen, wird im Bayerischen Viertel von Berlin sichtbar. In diesem einst jüdisch geprägten Quartier hat man unter den Straßenschildern Tafeln befestigt, auf denen Artikel aus der Rassengesetzgebung des Dritten Reiches zitiert werden; in der Salzburger Straße heißt es etwa "Juden müssen ihre Radiogeräte abliefern", in der Wartburgstraße, testamentarische Zuwendungen von Juden seien nichtig, wenn das "gesunde Volksempfinden missachtet" werde.
Der Lesende wird zum Nachdenken darüber angeregt, was es bedeuten würde, wenn diese Verordnungen noch oder wieder gelten würden, und kommt somit nicht umhin, der Schicksale der Betroffenen zu gedenken.
Dieser Ort ist nicht der einzige geblieben, an dem insbesondere an jüdische Opfer des Nationalsozialismus erinnert werden soll. Das Jüdische Museum ist begehbares Gebäude und Mahnmal in einem - mit dem einem zerbrochenen Davidstern ähnelndem Grundriss, der bunkerartigen Fassade und den beklemmend labyrinthischen Innenräumen, in denen der Besucher ohne den Ariadnefaden des Denkens verloren wäre. Anderes ist für das zentrale "Mahnmal für die ermordeten Juden Europas" in Mitte zu befürchten. Ein bereits von Libeskind verwendetes Element - die von ihm neben dem Museum plazierten vierkantigen Pfeiler - wurde zu einem Betonmeer von doppelter Fußballfeldgröße vervielfacht, in dem man wohl nichts anderes als untergehen kann. Aber nicht allein der Versuch, der Masse ermordeter Menschen mit Betonmasse entsprechen zu wollen, ist zweifelhaft, auch der Grundgedanke des Denkmals ist es. Haben die Angehörigen des für den Genozid verantwortlichen Volkes überhaupt das Recht, eine solche Stätte zu errichten oder sollten sie das nicht besser den Opfern überlassen? Ist es nicht eine Anmaßung, mit einer zugleich unterwürfigen und herrischen Geste das Gedenken in die Welt zu posaunen, wo doch gerade Maß, Takt und, in unserem Fall, Scham zur Trauer gehören sollten?
Von Maßhalten konnte auch bei Planung des der "Topographie des Terrors" gewidmeten Baus nicht die Rede sein. Übrig geblieben von den Plänen sind zwei Fahrstuhlschächte, deren pfeiler-artige Form man zum Anlass nehmen sollte, sie als Mahnmal für zwei verwandte Arten menschlicher Hybris stehen zu lassen: dem Bestreben, die Welt dem eigenen despotischen Willen unterzuordnen, und dem Glauben, das in moderner Architektur ausdrücken zu können.
Eine besonders gedankenlose Form des Gedenkens ist im Stadtbezirk Kreuzberg gelungen. Vor manchen Hauseingängen wurden die Pflastersteine durch Würfel aus Messing ersetzt, in die Namen, Geburts- und Todesjahr jüdischer Bürger sowie die Lager, in die man sie deportiert hat, eingraviert wurden. Die Opfer werden ein zweites Mal mit Füßen getreten. Der Philosemitismus nähert sich da bedenklich dem Antisemitismus, denn warum hat man diese seltsame Art, an sie zu erinnern, den anderen Opfern des Nationalsozialismus und den in sibirischen Lagern Umgekommenen erspart?
Sie alle haben ein Anrecht auf Gedenken und drängen in Berlins Mitte, nachdem diese zum ehemaligen Hauptsitz des Bösen erklärt wurde, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie dazu erst von einer radikalen Minderheit erobert werden musste, die ihre Wurzeln ganz woanders hatte. Im Gespräch sind zentrale Gedenkstätten für die Sinti und Roma, die Opfer des Mauerbaus und die von Vertreibungen, im letzteren Fall für ganz Europa, da sich in Deutschland die fixe Idee herausgebildet hat, die Erinnerung an die eigenen Leiden ohne Bezugnahme auf fremde wäre ein nationalistischer Akt. Hinzu kommen die hektargroßen Ehrenhaine, die tonnenschweren Panzer und Steinsoldaten der Roten Armee, zu deren Erhaltung und Pflege sich die Bundesrepublik vertraglich verpflichtet hat.
Die einzige Bevölkerungsgruppe, die für sich kein Mahnmal beansprucht, scheinen die Berliner selbst zu sein: weder tun sie es für ihre zum Ruinenfeld gebombte Stadt, noch für die gezählten 11367 Opfer der Luftangriffe noch für die ungezählten des Einmarsches der sowjetischen Armee. Ich bin weit entfernt davon, dafür eine Gedenkstätte zu fordern; an die Vergewaltigungen werde ich regelmäßig durch eine Inschrift in der "Destille" am Mehringdamm erinnert: "Geöffnet täglich von 10 Uhr bis ?, jedoch nicht, wenn Ostern, Weihnachten und die Mauer zusammen fallen oder die Russen kommen, ohne dass wenigstens die Wirtin beim Friseur war." Die anonym gebliebene "Frau in Berlin" nannte das in ihren Tagebuchaufzeichnungen "Schändungshumor". Es ist zu hoffen, dass ihn sich die Berliner bewahren, wenn ihre Stadtmitte einmal mehr das Schicksal moderner Metropolen vorwegnimmt: eine Mischung aus Friedhof und Museum zu sein, aus der die lebendige Gegenwart verbannt ist.
Bernd Wagner, 1948 im sächsischen Wurzen geboren, war Lehrer in der DDR und bekam durch seine schriftstellerische Arbeit Kontakt zur Literaturszene in Ost-Berlin. 1976 erschien sein erster Band mit Erzählungen, wenig später schied er aus dem Lehrerberuf. Von Wagner, der sich dem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns anschloss, erschienen neben einem Gedichtband mehrere Prosabände und Kinderbücher. Als die Veröffentlichung kritischer Texte in der DDR immer schwieriger wurde, gründete Wagner gemeinsam mit anderen die Zeitschrift "Mikado". Wegen zunehmender Repression der Staatsorgane siedelte er 1985 nach West-Berlin über. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen "Die Wut im Koffer. Kalamazonische Reden 1-11" (1993) sowie die Romane "Paradies" (1997) und "Club Oblomow" (1999). Zuletzt erschien "Wie ich nach Chihuahua kam".
Dieser Ort ist nicht der einzige geblieben, an dem insbesondere an jüdische Opfer des Nationalsozialismus erinnert werden soll. Das Jüdische Museum ist begehbares Gebäude und Mahnmal in einem - mit dem einem zerbrochenen Davidstern ähnelndem Grundriss, der bunkerartigen Fassade und den beklemmend labyrinthischen Innenräumen, in denen der Besucher ohne den Ariadnefaden des Denkens verloren wäre. Anderes ist für das zentrale "Mahnmal für die ermordeten Juden Europas" in Mitte zu befürchten. Ein bereits von Libeskind verwendetes Element - die von ihm neben dem Museum plazierten vierkantigen Pfeiler - wurde zu einem Betonmeer von doppelter Fußballfeldgröße vervielfacht, in dem man wohl nichts anderes als untergehen kann. Aber nicht allein der Versuch, der Masse ermordeter Menschen mit Betonmasse entsprechen zu wollen, ist zweifelhaft, auch der Grundgedanke des Denkmals ist es. Haben die Angehörigen des für den Genozid verantwortlichen Volkes überhaupt das Recht, eine solche Stätte zu errichten oder sollten sie das nicht besser den Opfern überlassen? Ist es nicht eine Anmaßung, mit einer zugleich unterwürfigen und herrischen Geste das Gedenken in die Welt zu posaunen, wo doch gerade Maß, Takt und, in unserem Fall, Scham zur Trauer gehören sollten?
Von Maßhalten konnte auch bei Planung des der "Topographie des Terrors" gewidmeten Baus nicht die Rede sein. Übrig geblieben von den Plänen sind zwei Fahrstuhlschächte, deren pfeiler-artige Form man zum Anlass nehmen sollte, sie als Mahnmal für zwei verwandte Arten menschlicher Hybris stehen zu lassen: dem Bestreben, die Welt dem eigenen despotischen Willen unterzuordnen, und dem Glauben, das in moderner Architektur ausdrücken zu können.
Eine besonders gedankenlose Form des Gedenkens ist im Stadtbezirk Kreuzberg gelungen. Vor manchen Hauseingängen wurden die Pflastersteine durch Würfel aus Messing ersetzt, in die Namen, Geburts- und Todesjahr jüdischer Bürger sowie die Lager, in die man sie deportiert hat, eingraviert wurden. Die Opfer werden ein zweites Mal mit Füßen getreten. Der Philosemitismus nähert sich da bedenklich dem Antisemitismus, denn warum hat man diese seltsame Art, an sie zu erinnern, den anderen Opfern des Nationalsozialismus und den in sibirischen Lagern Umgekommenen erspart?
Sie alle haben ein Anrecht auf Gedenken und drängen in Berlins Mitte, nachdem diese zum ehemaligen Hauptsitz des Bösen erklärt wurde, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie dazu erst von einer radikalen Minderheit erobert werden musste, die ihre Wurzeln ganz woanders hatte. Im Gespräch sind zentrale Gedenkstätten für die Sinti und Roma, die Opfer des Mauerbaus und die von Vertreibungen, im letzteren Fall für ganz Europa, da sich in Deutschland die fixe Idee herausgebildet hat, die Erinnerung an die eigenen Leiden ohne Bezugnahme auf fremde wäre ein nationalistischer Akt. Hinzu kommen die hektargroßen Ehrenhaine, die tonnenschweren Panzer und Steinsoldaten der Roten Armee, zu deren Erhaltung und Pflege sich die Bundesrepublik vertraglich verpflichtet hat.
Die einzige Bevölkerungsgruppe, die für sich kein Mahnmal beansprucht, scheinen die Berliner selbst zu sein: weder tun sie es für ihre zum Ruinenfeld gebombte Stadt, noch für die gezählten 11367 Opfer der Luftangriffe noch für die ungezählten des Einmarsches der sowjetischen Armee. Ich bin weit entfernt davon, dafür eine Gedenkstätte zu fordern; an die Vergewaltigungen werde ich regelmäßig durch eine Inschrift in der "Destille" am Mehringdamm erinnert: "Geöffnet täglich von 10 Uhr bis ?, jedoch nicht, wenn Ostern, Weihnachten und die Mauer zusammen fallen oder die Russen kommen, ohne dass wenigstens die Wirtin beim Friseur war." Die anonym gebliebene "Frau in Berlin" nannte das in ihren Tagebuchaufzeichnungen "Schändungshumor". Es ist zu hoffen, dass ihn sich die Berliner bewahren, wenn ihre Stadtmitte einmal mehr das Schicksal moderner Metropolen vorwegnimmt: eine Mischung aus Friedhof und Museum zu sein, aus der die lebendige Gegenwart verbannt ist.
Bernd Wagner, 1948 im sächsischen Wurzen geboren, war Lehrer in der DDR und bekam durch seine schriftstellerische Arbeit Kontakt zur Literaturszene in Ost-Berlin. 1976 erschien sein erster Band mit Erzählungen, wenig später schied er aus dem Lehrerberuf. Von Wagner, der sich dem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns anschloss, erschienen neben einem Gedichtband mehrere Prosabände und Kinderbücher. Als die Veröffentlichung kritischer Texte in der DDR immer schwieriger wurde, gründete Wagner gemeinsam mit anderen die Zeitschrift "Mikado". Wegen zunehmender Repression der Staatsorgane siedelte er 1985 nach West-Berlin über. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen "Die Wut im Koffer. Kalamazonische Reden 1-11" (1993) sowie die Romane "Paradies" (1997) und "Club Oblomow" (1999). Zuletzt erschien "Wie ich nach Chihuahua kam".