Gedankenflüsse, Sprachströme

Woolf, Joyce, Stein - eine literarische Begegnung

Gertrude Stein, James Joyce und Virginia Woolf (v. lks.)
Sind sie sich aus dem Weg gegangen - Virginia Woolf, James Joyce und Gertrude Stein (v.r.) © picture alliance / dpa / Collage Deutschlandradio
Von Astrid Nettling |
Zeit ihres Lebens sind sie sich aus dem Weg gegangen - Virginia Woolf, James Joyce und Gertrude Stein. Warum aber die drei Großen der literarischen Moderne 70 bzw. 75 Jahre nach ihrem Tod nicht einmal zusammenbringen?
Noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts aufgewachsen, nehmen alle drei - Virginia Woolf, James Joyce und Gertrude Stein - die epochale Herausforderung an, dem neuen Jahrhundert mit ihrer Literatur gerecht zu werden. Sie brechen mit den traditionellen Erzählformen und versuchen, Wort und Sprache den Bewegungen des Lebens so nah wie möglich aufs Papier zu bringen. Und so wie Gertrude Stein davon überzeugt ist, dass mit ihrer berühmten Zeile "a rose is a rose is a rose" die Rose nach langer Zeit zum ersten Mal wieder rot ist, sind auch Virginia Woolf und James Joyce gewiss, etwas von dem "unendlich kostbaren Stoff" des Lebens, wie Woolf es formuliert, in ihren Romanen eingefangen zu haben.
"Da gibt es keine Worte"
Doch wie die ohne ein Selbst erblickte Welt beschreiben? Da gibt es keine Worte. Blau, rot - sogar sie lenken ab, sogar sie verhüllen dicht, statt das Licht durchzulassen. Wie je wieder etwas beschreiben oder etwas in ausgesprochenen Worten sagen? (Virginia Woolf)
Imke Lichterfeld: "Die Idee von Virginia Woolf ist ja, dass Schreiben dadurch aufgebrochen wird, dass man mit den Traditionen des 19. Jahrhunderts bricht, dass man mit den Ereignisbeschreibungen in Romanen bricht."
Ich schreibe nach einem Rhythmus nicht nach einer Handlung. (Virginia Woolf)
flußgefließe, schleunigst Ev' und Adam passiert, vom Strandgestreun zum Buchtgebeug, führt uns im commundiösen Wickelwirken des Rezirkulierens zurück zur Burg von Howth con Entourage. (James Joyce)
Fritz Senn: "Es passt natürlich nirgendwo hinein, wie ja fast alles bei Joyce. Er fällt immer aus den Rahmen, den Rahmen, die es gegeben hat."
Ich habe entdeckt, dass ich mit der Sprache alles machen kann, was ich will. (James Joyce)
A brown which is not liquid not more so is relaxed and yet there is a change a news is pressing.
Ein braun das nicht liquid ist ist nicht mehr als ausgeruht und doch ergibt sich wandel, neues pressiert. (Gertrude Stein)
Barbara Köhler: "Man kann Stein alles nachsagen, aber einfach ist sie nicht. Das zu lesen, da hatte ich so das Gefühl, ich verstehe eigentlich fast jedes Wort, aber ich verstehe keinen einzigen Satz – faszinierend."
Ich mag das Gefühl von Wörtern die tun was sie wollen.(Gertrude Stein)
Hans-Jürgen Balmes: "Joyce, Gertrude Stein, die Virginia Woolf sind ja alles Autoren, die könnten fast noch leben, das ist ja die Generation unserer Großeltern. Es sind ja Dinge, die uns unmittelbar noch betreffen, die uns unmittelbar in unseren Ausdrucksmöglichkeiten noch prägen. Und von daher finde ich, ist der klare Blick zurück auf die Autoren und auf die Möglichkeiten, die sie uns geschaffen haben, eigentlich ein Imperativ für jeden, der heute anfängt zu schreiben.
Hans-Jürgen Balmes, Programmleiter für Internationale Literatur im Frankfurter S. Fischer Verlag. Zu Lebzeiten sind sich Joyce, Stein und Woolf eher aus dem Weg gegangen, obwohl ihre literarischen Wege gar nicht so weit auseinanderlagen:
"Das war ein sehr von Wettbewerb auch bestimmtes Verhältnis. Das ist natürlich aus der Gegenwart heraus verständlich, aber im Rückblick natürlich ein bisschen Humbug, weil wir haben einfach ästhetische Lösungsmöglichkeiten, die sehr nahe beieinanderliegen."
Eine Porträtaufnahme der britischen Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941)
Die britische Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941)© imago/United Archives International
Wahrscheinlich sitzen alle Schriftsteller jetzt im selben Boot. Es ist die Strafe, die wir dafür zahlen, dass wir mit der Tradition brechen. (Virginia Woolf)
Warum also diese drei Großen der literarischen Moderne 70 bzw. 75 Jahre nach ihrem Tod nicht einmal zusammenbringen? Gertrude Stein, die Ältere, Virginia Woolf und James Joyce, die nahezu Gleichaltrigen. Und bitten wir sie außerdem, zu diesem Treffen etwas Charakteristisches für ihr Schaffen mitzubringen. Gertrude Stein wird vielleicht ihre berühmte Rose dabeihaben oder aber eine Schachtel mit Knöpfen in allen Formen und Farben – ihr Buch "Tender buttons", "Zarte Knöpfe".
A LONG DRESS.
Where is the serene length, it is there and a dark place is not a dark place, only a white and red are black, only a yellow and green are blue, a pink is scarlet. A line distinguishes it. A line just distinguishes it. (Gertrude Stein)
Klaus Reichert: "Die Absicht, die erklärte Absicht hinter dieser Sequenz von Texten ist, etwas Ähnliches zu machen in Sprache, was ihre Freunde Picasso, Braque, Juan Gris gleichzeitig mit der Erfindung der kubistischen Malerei gemacht haben, also einen Gegenstand von allen Seiten gleichzeitig zu malen."
Der Essayist, Übersetzer und Lyriker Klaus Reichert, Professor emeritus für Anglistik an der Universität Frankfurt:
"Wie Klee mal sagte, etwa in den 20er Jahren: Der Künstler bildet nicht Sichtbares ab, sondern er macht sichtbar und im Falle der Gertrude Stein, er macht hörbar, oder er stellt Beziehungen her zwischen Wörtern, die wir so bis jetzt noch nicht in der Sprache gesehen haben."
"Wo ist die gelassene länge"
EIN LANGES KLEID.
Wo ist die gelassene länge, sie ist dort und ein dunkler ort ist kein dunkler ort, nur ein weiss und rot sind schwarz, nur ein gelb und grün sind blau, ein rosa ist scharlach. Ein strich unterscheidet sie. Ein strich unterscheidet sie bloß. (Gertrude Stein)
Barbara Köhler: "Es war eigentlich so, dass ich einen Satz erst in dem Moment übersetzen konnte, wenn ich ihn aussprechen konnte. Das geht mit Steinsätzen nicht immer von selbst, also, die reden sich nicht von selbst."
GEGENSTÄNDE.
Innen, innen im Schnitt und schmalen Gelenk allein, bei plötzlich gleichen und nicht mehr als drei, machen zwei in der Mitte einerseits zwei. (Gertrude Stein)
Barbara Köhler, Dichterin und Essayistin, hat das Buch "Tender Buttons" übersetzt:
"Was auch damit zu tun hat, wenn sich Wörter bewegen, wie sie möchten, dass es eine Eigenbewegung gibt, die von meiner Willkür und von meinem Belieben unabhängig ist."
Virginia Woolf wird bestimmt eine Muschel vom Strand in Cornwall zum Treffen mitbringen, in deren perlmutternem Gehäuse sich das Rauschen vom ewigen Kommen und Gehen der Wellen bewahrt hat.
Ja, dies ist die ewige Erneuerung, das unaufhörliche Ansteigen und Verebben, Verebben und Wiederansteigen. (Virginia Woolf)
Hans-Jürgen Balmes: "Ich glaube, dass das Wasser und die Wellen – die Welt, die sie in der Kindheit kennenlernte, als die Familie immer ein Sommerhaus gemietet hatte in St. Ives, in Cornwall – doch für sie irgendwie einen ganz großen Eindruck gemacht hat. Dazu kommt, dass die Wellen und der Klang der Wellen, der Rhythmus der Sprache für sie eine große Einheit bildete, und sie ließ sich ja dann von diesem Rhythmus auch tragen."
Die Wellen brachen sich und breiteten ihre weißen Fächer weit über den Strand, sandten weiße Schatten in die Winkel tönender Höhlen und rollten dann seufzend über den Kiesel zurück. (Virginia Woolf)
Imke Lichterfeld: "Also, der Rhythmus bei den 'Wellen' ist natürlich ganz eklatant erkennbar, weil der Roman 'Die Wellen' ist sogar als 'prose poem' von Virginia Woolf selber bezeichnet worden."
Imke Lichterfeld ist Dozentin für Literatur am Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie der Universität Bonn:
"Und das zeigt ja schon, wie sehr sie mit den typischen Genres der Zeit gespielt hat, dass es eben nicht mehr als 'novel', als Prosatext, alleine gelten soll, sondern eben auch schon diesen lyrischen Aspekt dazu involviert."
James Joyce Statue in der Earl Street North in Dublin
James Joyce Statue in der Earl Street North in Dublin© Imago / Sabine Gudath
Und James Joyce wird eine kleine Walnuss aus seiner Westentasche hervorziehen, in deren winzige Schale er zum Erstaunen aller den ganzen Raum gesteckt hat.
Mark Time's Finist Joke. Putting Allspace in a Notshall. (James Joyce)
Klaus Reichert: "Das Buch als eine Nussschale, wo der gesamte Raum, 'allspace', drin ist, und es heißt natürlich nicht 'nutshell', sondern 'notshall', und damit ist eben auch ein biblisches Gebot mit impliziert, 'though shallt not steal' oder 'though shallt not kill' oder was immer; es ist eben auch gleichzeitig die Negation damit gemeint. Einerseits alles ist in einer Nussschale, zugleich ist es ein Nichts, was da drin ist."
Mark Taims Letzter Jokus. Steckt Alles in eine Nussschale. (James Joyce)
Fritz Senn: "Offenbar spielt er gerade damit, dass es sich nicht eingrenzen, nicht definieren lässt, die Unmöglichkeit eben der Quadratur des Zirkels, was ja auch das Lesen betrifft. Wir schlagen uns damit herum, wissen nicht genau was. 'Finnegans Wake' ist etwas, wo sich die Gegensätze ergänzen, alles ist auch sein Gegenteil."
Fritz Senn ist Leiter der James-Joyce-Stiftung Zürich und zusammen mit Klaus Reichert Herausgeber der Frankfurter James Joyce Ausgabe:
"Man kriegt es nicht in den Griff. Aber beim Lesen spielt ja unser, ich würde sagen, unser intellektueller Imperialismus eine Rolle, wir wollen beherrschen, und Joyce sträubt sich dagegen. "
riverrun, past Eve and Adam's, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs. (James Joyce)
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geboren – 1874 Gertrude Stein, 1882 Virginia Woolf und James Joyce – brachen alle drei mit Anbruch des neuen Jahrhunderts ebenfalls zu etwas Neuem auf. 1903 war Gertrude Stein von Allegheny, dem heutigen Pittsburgh, nach Paris zu ihrem Bruder in die Rue de Fleurus übergesiedelt, 1904 hatte James Joyce mit Nora Irland in Richtung Italien, Pola, Triest, und später Paris für immer verlassen, und im selben Jahr war Virginia Woolf mit ihren Geschwistern in ein Haus im Londoner Stadtteil Bloomsbury gezogen. Ein neues Jahrhundert hatte begonnen – frisch, unverbraucht, voll unentdeckter Möglichkeiten. Im November 1910 macht Virginia Woolf in London in der Ausstellung "The First Post-Impressionist Exhibition" die Bekanntschaft mit den Äpfeln von Paul Cézanne – eine Offenbarung für ihr künftiges Schreiben.
Es gibt 6 Äpfel auf dem Cézanne-Bild und großer Gott! wie es die anderen Bilder ausstach, als würde man einen echten Stein zwischen Imitate legen. (Virginia Woolf)
Hans-Jürgen Balmes: "Für diese ganze Generation war ja die Entdeckung vor allem der großen Maler aus Paris ein Riesending. Also, man kann ja Cézanne als jemanden sehen, der versucht, was hinter der Erscheinung steht, aufzufangen. Dann sind es die Äpfel, es spielt eigentlich gar keine Rolle, weil es dieser einen Grundform des Lebens gilt, die Cézanne entdecken wollte. Und ich glaube, dass die Essenz der Erscheinung der Natur, die Cézanne gesucht hat, eigentlich ziemlich genau das ist, was sie auch meint."
1912 bringt Gertrude Stein ihre von den Pariser Kubisten inspirierten "Tender Buttons" zu Papier. Für James Joyce, der 1914 mit seinem "Ulysses" beginnt, sind es hingegen von Anfang an die Musik, der Rhythmus der Sprache und der Klang der Wörter, die eine wesentliche Rolle in seinem Schreiben spielen.
"KlangSinn und SinnKlang zu machen"
Fang wieder damit an, KlangSinn und SinnKlang zu machen. (James Joyce)
Klaus Reichert: "Joyce hat alles, was er geschrieben hat, zugleich komponiert. Die Musik war für ihn außerordentlich wichtig, er war ja auch mal unschlüssig, ob er eventuell Sänger werden sollte. Der 'Ulysses' zum Beispiel ist mit dem Ohr komponiert."
Denn darin sind sie sich einig: Statt dem Leser einen Text wie ein in traditioneller Manier gemaltes Bild vor Augen zu stellen, muss man ihn so nah wie möglich in die Wirklichkeit des Geschriebenen involvieren, muss ihn direkt in den Strom von Rhythmus und Sprache, direkt in den Fluss der Wahrnehmungen und Gedanken hineinstoßen.
Beim Schreiben gilt es, eine sich unaufhörlich verändernde Oberfläche zu schaffen, diktiert von der Stimmung und dem augenblicklichen Impuls. Heutzutage ist alles im Fluss und Wandel begriffen, und moderne Literatur, die etwas taugen soll, muss diesen Prozess ausdrücken. (James Joyce)
1922 erscheint sein dafür wegweisender Roman "Ulysses", der an einem einzigen Tag, dem 16. Juni 1904, dem mäandernden Strom der Gedanken, Eindrücke und Stimmungen seines Protagonisten Leopold Bloom auf seiner 'Odyssee' durch Dublin folgt. 1925 kommt Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway" heraus. Auch ihr Roman folgt dem verschlungenen Wahrnehmungs- und Gedankenfluss seiner Protagonistin Clarissa Dalloway während eines einzigen Tags in London – dem 13. Juni 1923.
Imke Lichterfeld: "Was für modernistische Autoren ganz bezeichnend ist, dass man eben einen Tag wie in 'Ulysses' hat oder 'Mrs. Dalloway', dass wir die Gedanken der einzelnen Protagonisten aufnehmen können durch dieses typische 'stream of consciousness', den Gedankenfluss, der Impressionen uns aufzwingt."
Das Bewusstsein empfängt eine Unzahl von Eindrücken – triviale, fantastische, flüchtige. Von allen Seiten kommen sie, ein unaufhörlicher Schauer. Wir wollen das Muster nachzeichnen, so unverbunden und zusammenhanglos es auch erscheinen mag, das jeder Augenblick und jedes Ereignis dem Bewusstsein aufprägt. (Virginia Woolf)
Klaus Reichert: "Und das ist, glaube ich, die wichtige Wendung, die wir als Moderne bezeichnen, dass nicht mehr das Nacherzählbare eine Rolle spielt, sondern das, was sich in Bewusstseinsprozessen, in Wahrnehmungsprozessen abspielt, während parallel dazu Gertrude Stein das an Wahrnehmungen innerhalb der Sprache macht, ganz konzentriert oder fokussiert auf die Sprache und nichts außer ihr Liegendes."
In unserer Runde würden Virginia Woolf und James Joyce jetzt bestimmt einander einverständig zunicken. Und Gertrude Stein – wie beide davon überzeugt, dass es beim Schreiben einzig und allein auf einen solchen Wahrnehmungs- und Sprachfluss ankommt – ließe sich nicht davon abhalten, nun die Wortfolge, die 1922 zum ersten Mal in einem ihrer Texte auftaucht und sie weltberühmt macht, in die Runde einfließen zu lassen:
A rose is a rose is a rose is a rose. (Gertrude Stein)
Zeit ihres Lebens wird sie nicht müde zu betonen, dass es keine bloße Wiederholung desselben darstellt, sondern Insistieren bedeutet – so lange insistieren, bis dieser Fluss der Sprache in Gang kommt und die Rose wirklich als Rose aufgeht.
Eine Statue der US-Schriftstellerin Gertrude Stein in New York
Eine Statue der US-Schriftstellerin Gertrude Stein in New York© AFP / Foto: Timothy A. Clary
Der Dichter muss in der Erregung des reinen Seins arbeiten; er muss der Sprache diese Intensität neu verleihen. Sie alle kennen Hunderte von Gedichten über Rosen, und Sie haben in ihren Knochen gespürt, dass die Rose nicht vorhanden war. Ich bin kein Narr! Ich weiß, dass man im täglichen Leben nicht herumgeht und sagt: "is a...is a...is a...". Aber ich denke, dass in dieser Zeile die Rose zum ersten Mal seit hundert Jahren in der Dichtung rot ist. (Gertrude Stein)
Klaus Reichert: "Sie sagt, Wiederholungen gibt es eigentlich gar nicht, statt 'repetition' sagt sie 'insistence', also, das Beharrliche immer wieder, dann können wir vielleicht den Sinn dieses Wortes auf eine ganz andere Weise erfassen, und durch dieses Freisetzen der Wörter befreit sie die Wörter aus diesen uns quasi aufgezwungenen Bedeutungshöfen, die ihnen in der Tradition zugewachsen sind."
Suppose, to suppose, suppose a rose is a rose is a rose is a rose. To suppose, we suppose that there arose here and there that here and there there arose. (Gertrude Stein)
Ich glaube, der Trick besteht darin, dasselbe Wort hundert Mal in verschiedenen Verbindungen zu wiederholen, bis man endlich seine Kraft spürt. (Virginia Woolf)
Schreibt Virginia Woolf 1925 wenig überzeugt an ihre Freundin, die Schriftstellerin Vita Sackville-West. 1928, unmittelbar nach Erscheinen ihres Romans "Zum Leuchtturm", beginnt sie mit den "Wellen", dem letzten ihrer sogenannten "experimentellen" Romane. Nicht zufällig ist es wieder die fließende, unaufhörlich changierende Welt der Wellen und des Wassers, auf die Virginia Woolf beim Schreiben zurückkommt.
Hans-Jürgen Balmes: "Wenn man das Haus heute besucht, in dem die Familie damals lebte, schaut es wirklich voll auf die Bucht, und diese Bucht ist eine riesige große Fläche, auf der ständig so ein Wolkenkino stattfindet mit den vorbeiziehenden Schatten, mit den sich verändernden Farben. Ich glaube, dass das eines der Inbilder ist, wie Peter Handke das nannte, die einen eigentlich immer wieder zum Schreiben veranlassen."
Ein Anblick, ein Gefühl bewirkt eine Welle im Geist; lange bevor er die dazu passenden Worte formuliert; und beim Schreiben muss man dies einfangen, und dann wenn sich die Welle im Geist bricht und überschlägt, bewirkt sie Worte, die zu ihr passen. (Virginia Woolf)
Wellen als Inbild des Lebens
Ein Inbild sind die Wellen ebenso für das Leben selbst. Für seinen sich stets neu entfaltenden sinnlichen Reiz wie für sein unaufhaltsames Dahinströmen, ein Inbild aber sind sie gleichermaßen für die tiefe Ruhe, die sich beim Anblick ihrer ewigen Erneuerung in der Seele einstellen kann. Bernard, einer der Protagonisten aus den "Wellen", sagt am Schluss:
Einen Augenblick lang hatte ich auf dem Gras hoch oben über den Fluten des Meeres gesessen, hatte das Haus gesehen, den Garten, und die Wellen, die sich brachen. Die alte Kinderfrau, die die Seiten des Buches umblättert, hatte innegehalten und gesagt, "Sieh. Das ist die Wahrheit". (Virginia Woolf)
Imke Lichterfeld: "Virginia Woolf nutzt in ihren Texten dieses Phänomen des 'moment of being'. Und da geht's wirklich um den Moment. Und Virginia Woolf hat den Moment der Zeit, in dem irgendwas einem Charakter klar wird, ganz genau beschrieben. Es geht um die Idee, die Zeit quasi festzuhalten, in dem Moment zu leben und zu verstehen, dass das Leben kurz ist, aber dass der Moment einzigartig ist."
Das ist das Menschenleben: das ist der unendlich kostbare Stoff, der uns jetzt in schmalen Röllchen zugeteilt wird, und dann auf immer entzogen; und wir verbrauchen es so. (Virginia Woolf)
Hans-Jürgen Balmes: "Da unterscheidet sie sich ja auch eigentlich von Gertrude Stein, weil Gertrude Stein quasi hinter jedem Ding so das Wort vermutete, und dann wird jedes Ding ganz dünn, um gleich aufs Wort zu sehen. Ich glaube, dass Virginia Woolf einfach viel zu viele Rosen in ihrem Leben gesehen hatte, um zu sagen 'a rose is a rose'."
Wir haben dem Wechsel und dem Rhythmus der Wellen nachgespürt, haben vielleicht die Rose aufgehen sehen. Auch die sperrigen "Tender Buttons" haben die Runde gemacht. Noch aber ist die kleine Walnuss ungeöffnet geblieben. Eine Herausforderung besonderer Art. 1923, ein Jahr nach Veröffentlichung des "Ulysses", fängt Joyce mit seinem Riesenwerk "Finnegans Wake" an, das ihn fünfzehn Jahre in Atem halten wird.
Ich möchte eine Sprache haben, die über allen Sprachen steht. Ein großer Teil jeglicher menschlicher Existenz vollzieht sich in einem Zustand, der nicht durch hellwache Sprache, trockennüchterne Grammatik und vorantreibende Handlung wahrnehmbar gemacht werden kann. (James Joyce)
Denn nicht nur den ganzen Raum, "allspace", hat Joyce in die Nussschale gesteckt, sondern obendrein "alle"' Sprachen dieser Welt – zumindest mehr als 60 sollen es sein. Und während "Ulysses" ein Tagbuch ist, schreibt er mit "Finnegans Wake" ein Nachtbuch – ein Nachtbuch mit einer Nacht- und Traumsprache.
This is nat language at any sinse of the world. (James Joyce)
Klaus Reichert: "Joyce hat geschrieben in einer Sprache, die es nicht gibt, in einer erfundenen Sprache. 'This is nat language' also, 'not language', aber 'nat' im Dänischen heißt Nacht. Also, Nacht-Sprache und gleichzeitig keine Sprache. 'At any sinse of the world' in jedem 'sense of the world', aber 'at any since', also, seit Anbeginn der Welt ist das eine Nicht-Sprache, die aber doch in uns gleichwohl steckt, auch wenn wir sie nicht ausformulieren können, weil sie eben angesiedelt ist auf einer anderen Ebene als der bewussten Ebene."
riverrun, past Eve and Adam's, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs. (James Joyce)
Zeiträume, Epochen und Kalenderjahre
Öffnet man das Buch, beginnt es sofort zu fließen, gleich dem nächtlichen Traumgeschehen, wo alles konturlos, flüssig ineinander strömt. Durch lexikalische und grammatikalische Sprachbegrenzungen hindurch gleich einem Fluss, der ungehindert durch Länder, Städte, Landschaften fließt, gleich der Zeit, die frei durch Zeiträume, Epochen und Kalenderjahre strömt – fließend wie auch das Leben.
riverrun...riverrun…riverrun (James Joyce)
Klaus Reichert: "'riverrun' – mitten in einem Satz fängt dieses Buch an, so wie es auch endet mitten in einem Satz mit dem ausgehauchten 'the', dem Articulus, dann geht es vom Schluss wieder in den Anfang hinein – 'riverrun'."
flußgefließe...flußgefließe…flußgefließe. (James Joyce)
628 Seiten lang fließt es. Ein Sprachstrom, der alles mit sich führt: Sprachen, Geschichte und Geschichten seit Anbeginn der Welt, männliche und weibliche Stimmen "past Eve and Adam's". Vor allem aber ist es die Stimme von Anna Livia Plurabelle – die Stimme des Weiblichen und ewig Fließenden. Zugleich ist es die Stimme der Liffey, die durch Dublin fließt, bevor sie sich ins Meer ergießt, um auf dem Weg natürlichen Kreislaufs in den Bergen südlich von Dublin als frischer Quellfluss erneut zu entspringen.
Fritz Senn: "Anna Livia Plurabelle beruht auf dem Fluss, Flüsse sind weiblich bei Joyce, Anna Livia, sind eben alle Flüsse, das Weibliche, das Fließende, das auch für die Wiederkehr sorgt."
Mit – "riverrun" – beginnt "Finnegans Wake", und mit Anna Livia Plurabelles Stimme endet es auch.
Whish! A gull. Gulls. Far calls. Coming, far! End here. Us then. Finn, again! Take. Bussoftlhee, mememormee! Till thousendsthee. Lps. The keys to. Given! A way a lone at last a loved a long th (Anna Livia Plurabelles)
Klaus Reichert: "Man muss einfach sozusagen vegetativ offen sein, man muss auf die Wörter schauen und sehen, was die Wörter hergeben, und eine andere Weise ist, auf die Wörter zu hören, indem man sie vorliest und dann diesen Klängen nachlauscht."
Wsch! Ne möve. Möven. Fern rufts. Komme, fern! Endt hier. Uns denn. Finn, noch wieder! Nimm. Küßoftmildchihm, meerdenkmermein! Bis tausendstdein. Lpn. Die schlüssel zum. Gegeben! Da hin da lein da letzt da liebt da lang m (Anna Livia Plurabelles)
Hans-Jürgen Balmes: "Was Virginia Woolf sicherlich gut gefallen hätte, wäre dieser Livia-Plurabelle-Teil in 'Finnegans Wake', weil Wellen, Wasser, das Rauschen der Sprache eine sehr große Rolle einnehmen. Es sind Texte, die haben ähnliche Intentionen, eine ähnliche Wucht, aber sie sind für ganz verschiedene Bücher geschrieben. Aber das ist ja das Interessante in der Literatur, dass Leute in verschiedene Richtungen laufen und dann trotzdem am gleichen Zaun vorbeikommen."
Richtungsweisend jeweils auf ihre eigne Weise
Entspannt können sich die drei Großen nun zurücklehnen und auf ihr Werk blicken. Unbekannte und bis dahin undenkbare Möglichkeiten für die Sprache und das Schreiben haben sie eröffnet. Richtungweisend für die Literatur sind alle drei auf ihre je eigene Weise geworden. Eine Herausforderung für den Leser bilden sie nach wie vor. So stürzen sich in Zürich wagemutige Joyceleser seit vielen Jahren einmal in der Woche in den Fluss von "Finnegans Wake", um vielleicht doch einmal die Schlüssel zum Buch zu finden. Fritz Senn, Leiter der dortigen James-Joyce-Stiftung:
"Offenbar regt es an und wird sogar, und ich warne immer vorher, es wird sogar zu einer Sucht, es gibt Entzugserscheinungen, wenn man nicht kommen kann, und das ist eigentlich ganz tröstlich, weil man oft den Niedergang des Lesens beklagt. Es gibt in der Tat Leser und Leserinnen, die es auf sich nehmen, viel Zeit zu opfern, um einen ganz schwierigen Text höchstens teilweise zu verstehen."
Barbara Köhler: "Ich glaube, das Problem ist, auch Nichtverstehen stehenzulassen. Also, zu gucken, was machen die Wörter, was machen die Sätze, was macht das mit mir auch und nicht, was will das bedeuten. Das ist ja das Schöne, da ist nichts eindeutig."
Für die Dichterin und Essayistin Barbara Köhler, die "Tender Buttons" übersetzt hat, bleiben deshalb die Texte Gertrude Steins ein wohl 'steiniger', aber stets willkommener schriftstellerischer Ansporn.
EIN BLAUER MANTEL.
Ein blauer mantel wird geleitet geleitet weiter, geleitet und weitergeleitet, das ist die besondere farbe die für diese länge verwendet wird und keinerlei weite nicht einmal mehr als ein schatten. (Gertrude Stein)
Modernismus sei immer ein Thema, erklärt Imke Lichterfeld als Dozentin für englische und amerikanische Literatur an der Universität Bonn. Kurse zu allen drei Autoren seien nach wie vor fest im Lehrplan verankert.
Imke Lichterfeld: "Ich habe den Eindruck, dass diese auch gerne von Studierenden belegt werden. In meinem Kurs habe ich letztes Semester 'Die Wellen' gelesen, die waren vielleicht anfänglich schwerer verstehbar. Dagegen wird Virginia Woolfs 'Mrs. Dalloway' auch gern in dem Einführungskurs zur Literaturwissenschaft gelesen. Aber wenn die Studierenden sich erst mal in die Texte einarbeiten, dann ist auch die Arbeit mit Stein und mit Joyce ohne Probleme möglich."
Mild der morgen, stadt! Ich bin liefi die sprieft. Lpf! Zores und mores alle die nächte sind gephalt weiter zu langen mein haar. Nicht ein laut, fällt. Lispn! Kein wind keine wort. Nur ein blatt, bloß ein blatt und dann platter. Ich bin liefi, die grollndne dein, so nanzt du mich, soll mein leben, ja dein grollndness, verlesen mich zerlösen, exorbitarbandler! (Anna Livia Plurabelles)
Dass die Texte lebendig bleiben, ist nicht zuletzt Aufgabe der Verlage. So ist 2014 die große Virginia Woolf Ausgabe, die sämtliche Prosawerke, Briefe und Tagebücher sowie acht Essaybände umschließt, im Frankfurter S. Fischer Verlag abgeschlossen worden. Alle 27 Bände wurden dafür neu übersetzt.
Hans-Jürgen Balmes, Programmleiter für Internationale Literatur im Fischer Verlag:
"Für einen Verlag finde ich es extrem wichtig, und es gehört zu einer Aufgabe, die jeder Verlag erfüllen muss, die Geschichte der Literatur selber wachzuhalten. Deswegen brauchen wir Neuübersetzungen, alles, was es gab, muss immer wieder neu geprüft werden auf die Adaption für die Gegenwart."
Angetrieben von der Beweglichkeit der Sprache
Denn nicht nur die Geschichte, auch die Sprache und die Wörter stehen wie das Leben niemals still. Wer wüsste das besser als die drei Wegbereiter der Moderne, deren Schreiben von dieser Beweglichkeit angetrieben wurde. Und was Virginia Woolf 1937 in einem Essay formuliert hat, hätten James Joyce und Gertrude Stein mit Sicherheit ohne zu zögern unterschrieben.
Mittig in einem winzigen fleck und nahe zu nackt ist's eine nette Geste zu sagen dass hand gelenk lenkt. Handgelenk lenkt. (Gertrude Stein)
Wörter sind die wildesten, freiesten, unverantwortlichsten, unbelehrbarsten aller Dinge. Gewiss, man kann sie fangen und sortieren und in alphabetischer Ordnung in Wörterbüchern aufreihen. Aber Wörter leben nicht in Wörterbüchern; sie leben im Geist der Menschen. Und wie leben sie im Geist? Ganz ähnlich wie Menschen leben, indem sie umherziehen, hierhin und dorthin. Sie hassen alles, was sie mit einer einzigen Bedeutung stempelt oder sie auf ein einziges Verhalten festlegt, denn es ist ihre Natur, sich zu wandeln. (Virginia Woolf)
riverrun, riverrun, riverrun (James Joyce)
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