Gedanken vor dem Einschlafen

Rezensiert von Pieke Biermann · 26.07.2006
Sie wirken wie aus dem Leben gegriffene Dialogfetzen oder solche Gedanken, wie man sie sich abends im Bett macht und schnell wieder vergisst: Franz Kafkas frühe Prosa-Stücke, in denen er das Älltägliche genau beobachtet und weiterdenkt.
Schmal und zart wie Franz Kafka selbst wirkt dieser Nachdruck seines allerersten Buchs "Betrachtung", erschienen 1913 bei Ernst Rowohlt in Leipzig. Gerade mal 62 Seiten füllen diese 19 kleinen Texte - und die Lettern sind so groß, wie man sie heutzutage nur noch in Spezialausgaben für augenschwache SeniorInnen findet.

In der Originalausgabe waren sie noch größer und brachten es auf immerhin 100 Seiten (die ursprüngliche Paginierung ist sorgfältig markiert). Kafka wollte die "größtmöglichen" - es war ihm, schreibt der Herausgeber im vorzüglichen, sorgfältigen angehängten "Kleingedruckten", peinlich, ein paar längst in Periodika veröffentlichte und ein paar neue Stücke zu einem Buch zu machen. Er hätte auch diese Publikation kurz vor dem Satz am liebsten noch verhindert. Es war, wie immer, Max Brod, dieses notorische gute Pendant zum Schreckbild der bösen Dichter-Witwe, der ihn dazu nötigte.

Schmal und zart, aber alles andere als schwindsüchtig wie Kafka selbst bald darauf, sind diese Texte. So irritierend wie irisierend, nicht zu fassen in Genre oder Stil. Manche kommen daher wie Gedichte, die sich unter der Hand - unserer heutigen Hand! - in Filmszenen verwandeln; andere wie Dialogfetzen, irgendwo im wirklichen Leben aufgeschnappt und weitergesponnen; wieder andere sind wie die seltsam ungreifbaren, aber hochpräzisen Eindrücke und Gedanken, die einem kurz vor dem Einschlafen durch den Kopf jagen und die man nie zu notieren schafft. Hoch verdichtete, rätselhafte Prosa, so offen wie verschlossen, so modern wie teilweise altmodisch anmutend.

Was erzählt wird, ist ebenso facettenartig und scheint nur ein Gemeinsames zu haben: Es geht um winzige erinnerte oder imaginierte Momente, banale alltägliche Situationen, in denen ein plötzlicher, tiefer Blick ins Leben passiert - in die eigene Verlorenheit, die Sehnsucht, das Glück womöglich, also das Unglück. Lauter Benjaminsche choques. Als Kind auf einer Schaukel "zwischen den Bäumen im Garten meiner Eltern", als Erwachsener auf einem "Nachhauseweg im Tempo dieser Gasse, dieses Viertels", an einem "Gassenfenster", beim Anblick gewisser "Kleider".

Nicht (mehr) zu fassen ist auch die Erzählerfigur: Sie changiert zwischen ich, wir und man; manchmal verschwindet sie komplett und bei vollem Bewusstsein: "Wir sangen viel rascher, als der Zug fuhr, (...) wir kamen mit unseren Stimmen in ein Gedränge, in dem uns wohl war. Wenn man seine Stimme unter andere mischt, ist man wie mit einem Angelhaken gefangen", heißt es in "Kinder auf der Landstraße"; ein anderes Mal verwandelt sie sich in einen Disput zwischen einem Ich und einem Kind über Gespenster und zerstäubt in diese spezifische Kafkasche Komik, die man am allerwenigsten zu fassen kriegt und für die es eigens einen Begriff gibt: kafkaesk.

Dass es keine greifbare Erzählerfigur mehr gibt, klingt wie ein frühes Statement zu einer Welt und einer Moderne, die erst noch kommen wird. Für Kafka selbst, in seinem historischen und persönlichen Kontext, mag genau das Gegenteil gestimmt haben: Für ihn war die Erzählerfigur noch nicht zu fassen gewesen.

Die Stücke waren zwischen 1904 und 1912 entstanden, und zu der Zeit, als er die Publikation vorbereiten sollte, im Herbst 1912, war er endlich verwickelt in seine ersten "großen Erzählungen". Im September 1912 zum Beispiel schrieb er in acht Stunden einer einzigen Nacht "Das Urteil" und begann "Die Verwandlung". Mit ihnen begann seine eigene Verwandlung zu dem Dichter, an den wir alle denken, wenn wir seinen Namen hören. Und genau deshalb ist es gut, diese 19 kleinen Orchesterproben zu lesen.

Franz Kafka: Betrachtung
Hg./Edit.Notizen/Nachwort Joseph Kiermeier-Debre
dtv Bibliothek der Erstausgaben
München 2006
96 Seiten. 5,50 Euro