Gedanken statt Abendbrot

Große Klassikerinszenierungen sind das Markenzeichen von Andrea Breth. Stücke von Schiller und Lessing hat sie zu tief schürfenden Seelenerkundungen genutzt. Am Donnerstag hat ihre Inszenierung "Nächte unter Tage" bei der Ruhrtriennale Uraufführung.
"Wenn man die Hand vom Dichter, die er einem ja zureicht, wenn man die erwischt und sich von ihm führen lässt, dann ist das was Tolles."

Andrea Breth sieht sich als "Sekundärkünstlerin". Sie dient den Autoren, versucht ihnen gerecht zu werden. Der Text bestimmt die Inszenierung. Wegen dieser Einstellung wurde sie als "Reclam-Regisseurin" bezeichnet und als gestrig abgestempelt. Auf der anderen Seite löst Andrea Breth hemmungslose Begeisterung aus, ihr feinfühliges Menschentheater gilt ihren Fans als Gipfel der aktuellen Theaterkunst. Gerade weil sie auf Videos und Dekonstruktion verzichtet und vor allem große Klassiker inszeniert. Mit viel Atmosphäre und psychologischer Präzision.

"Es lebt halt. Es ist nicht gefiltert durch irgendein anderes Medium. Darauf sollten wir Theaterleute uns besinnen. Ich glaube auch, dass es ein Bedürfnis des Publikums gibt – ich merke das – nach großen Texten, nach komplizierten Texten. Das finde ich ganz erstaunlich, weil das ja immer allein eingebläut wird, dass die Leute das nicht wollen. Aber es ist ja seltsam, dass solche Aufführungen wie "Carlos" oder "Stuart" ausverkauft sind, "Emilia Galotti" ist ausverkauft, seit Jahren. Sie kriegen ja keine Karte."

Auch wenn die Regisseurin sich als Nachschaffende betrachtet, es gibt so etwas wie einen Breth-Touch. Eine Sensibilität des Blickes, ein Gespür für angedeutete Abgründe, eine Licht- und Tonästhetik, die das Bühnengeschehen oft fast unmerklich dem Naturalismus entrückt und eine poetische, leicht stilisierte Atmosphäre schafft. Frau Breth, wie machen Sie das?

""Sehr viel geistige Arbeit, bevor ich anfange. Und dann spricht "es". Wenn "es" nicht spricht, dann ist besser, wenn man abbricht. "Es" passiert dann. Natürlich nehme ich mir was vor. Aber das muss ich alles vergessen. Wenn ich dann mit den Schauspielern zusammen komme, muss ich völlig durchlässig sein, um wahrzunehmen was da passiert auf der Bühne oder wie man das vorsichtig woanders hin schiebt. Oder wann man mit dem Licht was macht. Bei sensiblen Schauspielern tut das was. Manchmal auch nicht, dann muss man einen anderen Schlüssel finden. Ich muss mit so einem Riesenschlüsselring durch die Welt rennen."

Viele Regisseure beginnen die Proben im leeren Raum. Bei Andrea Breth ist gleich alles genau definiert, die Requisiten sind da, die Schauspieler wissen genau, wo eine Tür ist und wo ein Tisch steht. Der Theaterzauber entsteht auf der Basis von konkreten Vorgaben.

"Sehr wichtig sind für mich Akustiker. Das ist ja eine ganz tolle Berufssparte geworden, da entwickelt sich's enorm. (…) Das ist ganz wichtig. Aufführungen haben ja immer irgendwelche Klänge. Und das ist von Anfang an. Das verändert sich auch. Manchmal gibt es Sachen, die nur für eine Probe gültig sind, weil man etwas Bestimmtes bewirken will und kommen dann nicht unbedingt bei der Aufführung wieder."

Am Wiener Burgtheater hat Andrea Breth – wie sie selbst sagt – traumhafte Arbeitsbedingungen. Intendant Klaus Bachler hält ihr den Rücken frei und ermöglicht längere Probenzeiten als sie am Theater üblich sind. Wien ist ein Theaterparadies, in dem Bühnenkünstler gesellschaftlich sehr geachtet sind. Doch anderswo spielt das Theater in der öffentlichen Wahrnehmung eine geringere Rolle als früher.

"Das hat sich extrem verschoben. Das ist richtig. Ich denke auch, wir haben ein kleines bisschen dazu beigetragen, selber. (…) Es ist ja ein öffentlicher Ort, wir stellen uns 60 Zentimeter über andere Menschen. Und wenn wir da nichts zu vermelden haben, nichts Inhaltliches, Wirkliches zu vermelden haben, dann sollten wir uns da auch nicht hin stellen."

Andrea Breth stellt Sinnfragen. Und ist damit plötzlich gar nicht mehr weit weg vom Zeitgeist. Die Spaßgesellschaft ist lange tot, auf eine zynische Welt zynisch zu reagieren, reizt die meisten Theaterbesucher bloß zum Gähnen. Menschen suchen nach geistiger Orientierung. Deshalb lösten der Tod des alten Papstes und der Besuch des neuen beim Weltjugendtag so große Emotionen aus. Mit der Kirche hat Andrea Breth nichts am Hut, aber…

"Ich rede von der Anwesenheit oder Abwesenheit Gottes. Und ich rede von der Anwesenheit oder Abwesenheit der Utopie. Alles ist abwesend. Und jetzt haben wir wirklich nichts mehr. Und in dieser Hohlheit wackeln wir von einem Event zum nächsten. Mein Bedürfnis ist Stille. Und auf die Ursprünge zurück, mal zu hören, zu tasten, die Haut, da ist was, das empfindet, die Augen, der Klang, ein Wort, sprich: das Herbstblatt fällt. Und ich werde wahnsinnig, es ist alles nur noch laut. Es ist eine tumbe Eventgesellschaft."

Ein Ruf nach Gott und Utopie, die Beschreibung dass "es" bei den Proben spricht - Andrea Breths Denken ist religiös geprägt, wenn auch nicht im engeren christlichen Sinn.

"Talentierte Menschen haben ein Geschenk bekommen. Das ist nämlich dieser berühmte Michelangelo-Finger. Das meine ich auch mit "es". Man kann bestimmte Sachen nicht lernen, das kriegt man irgendwo geschenkt. (…) Und jeder, dem mal ab und was gelingt, der ein gutes Buch schreibt, ein gutes Gedicht, das ist ein Geschenk. Ich glaube, wir sollten vorsichtig, sein dass "ich" das mache. Dieses "ich"! Ich glaube, im Theater ist es immer besser zu sagen "du". Oder "wir"."

Wenn das "ich" beim Inszenieren verschwindet, ist Andrea Breth zufrieden. Trotzdem passiert das nie, denn sie prägt die Aufführungen durch ihre beharrlichen Fragen, ihre genauen Analysen, das Gespür für Stimmungen. Der Breth-Touch ist ein subkutaner, aber gerade unter der Haut spürt man vieles besonders deutlich.

"Ich glaub', es war Wolfgang Neuss. Der hat diesen tollen Satz erfunden: Machen wir uns mal Gedanken statt Abendbrot."


Service:

Die szenische Installation "Nächte unter Tage" mit Christian Boltanski und Jean Kalman läuft am 25., 28., 29., 30. und 31. August, 2., 3., 4., 5., 7., 8. und 9. September in der Kokerei Zollverein, Essen.