Geben und nehmen

Nicht überall verlief die Grenze zwischen DDR und West-Berlin so gerade.
Nicht überall verlief die Grenze zwischen DDR und West-Berlin so gerade. © Deutschlandradio
Von Sylvia Conradt · 31.03.2008
Die West-Berliner Exklaven zählen zu den skurrilen Phänomenen der deutschen Teilung: Diese Gebiete lagen in der DDR, gehörten aber zu West-Berlin. Erst nach dem 1971 von den Siegermächten besiegelten Viermächteabkommen über Berlin konnten Senat und DDR-Regierung ost-westliche Grenzbereinigungen vornehmen. Vor 20 Jahren wurde der dritte und größte Gebietsaustausch in Berlin vereinbart.
" Der Vertrag über den Austausch von Gebieten zwischen der DDR und Berliner Senat ist perfekt. Er ist heute unterzeichnet worden, "

meldete der Rundfunk im amerikanischen Sektor, RIAS, in seinem politischen Abendreport am 31. März 1988. Dank des 1971 unterzeichneten Viermächteabkommens über Berlin konnten die DDR und der Westberliner Senat, so wörtlich, "Fragen von Enklaven durch Gebietsaustausch" regeln. Vier Jahre hatten DDR-Regierung und Senat verhandelt, bis sie sich auf diesen nunmehr dritten und umfangreichsten Gebietsaustausch geeinigt hatten: Rund 180 Hektar unbewohnte Flächen, von Brach- und Ackerland bis zu verwildertem Mauerumfeld, sollten zum 1. Juli 1988 den "Besitzer" wechseln. Davon fielen 87 Hektar an die DDR und Ost-Berlin. Gegen Ausgleichszahlungen in Höhe von 76 Millionen DM sollte sich West-Berlin im Gegenzug um 97 Hektar vergrößern. Berlins Regierender Bürgermeister, der CDU-Politiker Eberhard Diepgen, am 31. März 1988.

" Diese Vereinbarung ist ein weiterer wichtiger Schritt in der Politik des Senats, die sich beharrlich und zielstrebig bemüht, die Lebensbedingungen der Berliner angesichts der politischen Gegebenheiten in dieser Stadt zu verbessern. "

Dank des Gebietsaustausches sollte West-Berlin mehr Grün- und Wasserflächen erhalten. Tatsächlich aber galt das besondere Interesse des Senats einem vier Hektar großen Areal unweit des Brandenburger Tores: dem sogenannten Lenné-Dreieck am Potsdamer Platz. Es gehörte zum Ostberliner Bezirk Mitte, lag aber jenseits der Mauer und ragte spitzwinklig in den Westberliner Bezirk Tiergarten. Weil die DDR aus wohl rein pragmatischen Gründen 1961 die Mauer geradlinig zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz gezogen hatte, war auf eben jenem Lenné-Dreieck im Laufe der Jahre ein Öko-Biotop seltener Pflanzen gediehen - eine ungenutzte und unberührte DDR-Brache. Eberhard Diepgen.

" Der Erwerb des Lenné-Dreiecks schafft Möglichkeiten zu einem verbesserten Planungsablauf und einer verbesserten Planung insgesamt im zentralen Bereich. "

Mit dem vereinbarten Gebietsaustausch lebte die bereits in den 1950er-Jahren geborene Idee der Westtangente wieder auf: einer Stadtautobahn, die von Schöneberg über den Tiergarten Richtung Wedding führen sollte. Das rief den Widerstand von Naturschützern und anderen Gegnern dieser Verkehrsplanung hervor: Alternativen und autonomen Gruppen. Ein Stellungskrieg der besonderen Art begann. In der Nacht vom 25. auf den 26. Mai 1988 besetzten sie das Lenné-Dreieck. Wenig später war ein Hüttendorf entstanden, waren Wege angelegt, Ziegen grasten, Hühner gackerten. Mittendrin die Besetzer. Die Westberliner Polizei durfte das Gelände nicht betreten, da es noch zur DDR gehörte. Vergeblich versuchten Polizeieinheiten die Besetzer mit Tränengas zur Räumung zu zwingen. Die gingen mit Molotowcocktails zum Gegenangriff über. Das alles vor den Augen der DDR-Grenztruppen, die mit Gasmasken ab und an hinter der Mauer auf einer Hebebühne auftauchten, um das Geschehen zu beobachten. Drei Tage vor der offiziellen Gebietsübergabe erklärte Stephan Noé, Pressesprecher der Alternativen Liste und Besetzer, im Sender Freies Berlin:

" Die Besetzer und Besetzerinnen werden im Falle einer Räumung zum größten Teil auf ein Gebiet jenseits der Mauer sich zurückziehen, um Auseinandersetzungen mit der Westberliner Polizei, sprich Prügeleinsätzen und Gasangriffen, wie sie in den letzten zehn Tagen dreimal massiv stattgefunden haben, zu entgehen. "

Tatsächlich überwanden am 1. Juli 1988 gegen fünf Uhr morgens mehr als 190 Besetzer die Mauer mithilfe selbst gebauter Leitern. Sie wurden von DDR-Grenztruppen in Empfang genommen, nach einem gemeinsamen Frühstück in S- und U-Bahnen gesetzt, die sie zum Grenzübergang Friedrichstraße brachten. Von dort reisten sie unbehelligt wieder nach Westberlin ein. Ein Jahr später fiel die Mauer. Heute ist auf dem einst heiß umkämpften Gelände das Nobelhotel Ritz-Carlton zu Hause.