Ein Jahr nach dem Gaza-Krieg

Die Trauer vergeht nicht

05:41 Minuten
Angehörige trauern um ihre Toten auf einem Friedhof in Gaza.
Grabsteine wie vom Himmel gefallen: Friedhof im Gazastreifen. © picture alliance / Zumapress / Mohammed Dahman
Von Felix Wellisch  · 10.05.2022
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Vor einem Jahr wurden im Gaza-Krieg 248 Palästinenser und 13 Israelis getötet. Für die Hinterbliebenen ist nichts mehr, wie es vorher war, die Erinnerungen schmerzen. Der Kellner Riad Aschkantana verlor - bis auf eine Tochter - seine ganze Familie.
Aufräumarbeiten in Gaza-Stadt. Ein Abrissbagger arbeitet sich durch Mauerreste, wo einst ein Wohn- und Bürohaus stand. Fast ein Jahr nach den Luftangriffen auf das Zentrum der Stadt im Gazastreifen sind die Spuren noch immer zu sehen. Wenige hundert Meter entfernt liegt die dicht bebaute Wohngegend um die Al-Wahda-Straße.
Bis vor einem Jahr lebte hier die Familie des 42-jährigen Kellners Riad Aschkantana. Hier brachten er und seine Frau Abeer im vergangenen Mai am frühen Abend ihre fünf Kinder ins Bett. Die Eltern waren fest davon überzeugt, dass die israelische Armee den verhältnismäßig wohlhabenden und dicht bewohnten Stadtbezirk Rimal nicht angreifen würde, bis sie aus der unmittelbaren Nachbarschaft die ersten Explosionen hörten.

Eingeklemmt unter Trümmern 

“Als das Gebäude komplett eingestürzt war, lagen wir unter den Trümmern und ich habe die Stimmen meiner Kinder gehört, von Dana und Zein, die nach mir geschrien haben.  Aber ich war eingeklemmt und konnte mich nicht bewegen. Es war wie in einem Grab”, erinnert sich der Vater.
Es dauerte zehn lange Stunden, bis die Rettungskräfte zu Aschkantana durchdringen und ihn aus den Trümmern holen konnten. Erst im Krankenhaus erfuhr er, was aus seiner Familie geworden war.
„Erst haben sie mir gesagt, dass sie noch leben würden", erzählt er. "Aber als sie Susi zu mir gebracht haben, hat mein Cousin mir gesagt, dass meine Kinder gestorben sind.“
Heute lebt er mit seiner Tochter Susi in einer kleinen Wohnung nicht weit von ihrem früheren Zuhause. An der Wand im Wohnzimmer hängen fünf große Bilder. Sie zeigen seine verstorbene Frau und die vier getöteten Kinder.

Weiterleben mit dem Verlust

Nacheinander zählt Aschkantana ihre Namen auf. Während er die Bilder betrachtet wirkt der mittlerweile ergraute 42-Jährige gefasst. Nur seine traurigen Augen verraten, dass er den Verlust noch längst nicht überwunden hat.
“Ich habe meine Kinder während des Ramadan auf den Markt mitgenommen, und weil ich nicht alle auf einmal mitnehmen konnte, habe ich erst mit Dana und Lana den Ausflug gemacht und am nächsten Tag mit Susi und Yahia", sagt er. "Jetzt wache ich morgens auf und sie sind nicht mehr da, ich höre ihre vertrauten Geräusche nicht mehr. Das alles habe ich verloren.“

Der Gazastreifen ist eine Konfliktregion im Nahen Osten, in der auf einem Gebiet von 365 Quadratkilometern rund zwei Millionen Palästinenser leben, überwiegend junge Menschen. Israel kontrolliert, wer ein- und ausreisen darf. Seit die islamistische Hamas das Gebiet regiert, kommt es verstärkt zu kämpferischen Auseinandersetzungen mit dem israelischen Militär. Der Gaza-Krieg 2021 war die letzte schwere Eskalation dieses gewalttätigen Konflikts.

Nach dem Mittagessen sitzt der Vater mit Susi am Wohnzimmertisch. Die Neunjährige hat die schwarzen Haare mit einem weißen Zopfgummi zu einem Knoten gebunden. Auf dem Tisch liegen Schulhefte, der Vater geht mit ihr die Mathe-Hausaufgaben durch.
“Ich versuche vor ihr nicht schwach oder traurig zu sein", schildert Aschkantana seinen Alltag. "Ich will nicht, dass sie in Angst aufwächst und sich als Waise sieht. ich will, dass sie diesen Verlust auf eine möglichst gesunde Art verarbeiten kann.”

Grabsteine wie vom Himmel gefallen

Am Nachmittag fährt Aschkantana die kurze Strecke zum Friedhof von Gaza-Stadt. Dort breiten sich die Gräber wie zufällig vom Himmel gefallene Steine über eine weite Sandfläche aus. Er folgt den labyrinthartigen Pfaden bis zu dem grauen Betonquader, unter dem seine Frau und seine vier Kinder begraben sind.
Betend steht er eine Weile vor dem Grab. Dann richtet er sich auf und erzählt, dass der Besuch für Susi zu schmerzhaft sei und er sie deshalb nicht mehr mitnimmt.
Auch ihm habe der Arzt geraten, weniger häufig zu kommen. Doch er besuche den Ort noch immer regelmäßig. “Dieser Ort spielt eine große Rolle für mich, ich denke oft an meine Kinder, die hier liegen. Gott weiß, vielleicht sehen sie mich. Ich sage ihnen und meiner Frau, dass sie sich keine Sorgen um Susi machen sollen.”
Dass er seine Familie auf diese Weise verloren hat, kann der Vater bis heute nicht verstehen. Anders als üblich hatte die israelische Armee vor dem Angriff die Bewohner nicht aufgefordert, sich in Sicherheit zu bringen.
Im Nachhinein teilte die Militärführung mit, der Angriff habe einem unterirdischen Kontrollzentrum der Hamas und nicht den umstehenden Häusern gegolten. Doch mehrere Gebäude entlang der Straße hielten den Explosionen nicht stand und stürzten ein. Mindestens 44 Menschen starben.

Sorge um die Zukunft

Während die Sonne untergeht, rufen die Muezzins von den Moscheen zum Abendgebet. Ein paar Kinder spielen noch zwischen den Grabsteinen. Aschkantana schaut ihnen nach und macht sich langsam auf den Heimweg. Morgen muss er früh aufstehen. Vor einigen Monaten hat er eine Arbeit in einem der wenigen Hotels der Stadt gefunden.
Doch Susis Zukunft bereitet ihm Sorgen: “Ich weiß nicht, wie lange ich für sie leben kann. Sie muss Englisch lernen und eine gute Ausbildung bekommen, damit sie mit dieser schwierigen Zukunft umgehen kann. Wenn Gott für mich bestimmt hat, dass ich weiterleben soll, dann muss ich versuchen, ein möglichst gutes normales Leben zu führen. Aber das Leben schmeckt nicht mehr wie vorher.”
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