Gayle Tufts ist deutsch-amerikanische Entertainerin, Autorin, Sängerin, Kommentatorin und "Germany’s best-known American." (Stern) Sie lebt seit 1991 fest in ihrer Wahlheimat Berlin.
Yes, he can!
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Ein monumentaler Job liegt vor dem neuen US-Präsidenten Joe Biden: Er soll ein von Hass und Spaltung zerfressenes Land befrieden, und nicht alle trauen dem 78-Jährigen das zu. Gayle Tufts schon: Sie setzt auf die Erfahrung von "Everybody's Opa".
Als die Bilder aus Washington vom Sturm auf das Kapitol weltweit auf den Bildschirmen flackerten, war klar, dass sich der amerikanische Traum in ein Trauma verwandelt hatte. Und nicht nur ich bin traumatisiert, denn leider stammen die Bilder nicht aus einer bitterbösen Politsatire Hollywoods.
Seitdem weine ich ununterbrochen für meine Heimat, die USA. Ich bin gefangen in den fünf Phasen der Trauer nach der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross: Verleugnung, Zorn, Verhandeln, Depression und Annahme. Meine Trauerphasen wechseln fast stündlich, aber nach der Hillbilly-Hollywood-Horrorshow von Washington stecke ich fest in der Depression.
Damit bin ich nicht allein. Amerika ist überwältigt und traumatisiert von einer grenzenlosen Pandemie mit 23 Millionen Coronafällen und bisher 400.000 Toten. Über 8 Prozent offizielle Arbeitslosigkeit. Systemischer Rassismus. Waldbrände, Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen. Eine neue Harvard-Studie stellt fest, dass fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen in den USA Symptome einer mittelschweren Depression zeigt, sechsmal so viele wie vor der Pandemie.
Und das seit Monaten, nonstop, ohne Ablenkung! Keine Baseballspiele, keine Happy Hour, auch Disney World ist zu! Wir Amerikaner sind eine Nation von Entertainment-Junkies mit der Aufmerksamkeitspanne eines Pitbullwelpen, seit vier Jahren regiert von The Geissens auf Crystal Meth, beschenkt mit jeder Menge Leckerlis.
Heiler, Versöhner, Welpentrainer
Vor Joe Biden liegt ein monumentaler Job. Er wird nicht nur Präsident, sondern auch Chefheiler, Entgiftungsexperte, Paartherapeut, Hauptversöhner und Welpentrainer sein müssen. Wenn er dieses tief gespaltene Land halbwegs zusammenbringen will, muss er ganz am Anfang von Kübler-Ross' Phasenskala anfangen, denn Verleugnung und Zorn sind die einzigen Stufen, die Donald Trump in vier Jahren "Great Again" bewältigt hat.
Joe Biden ist überraschend gut gewappnet für diese Aufgabe. Er verfügt über jahrzehntelange Erfahrung, Bodenständigkeit und Durchhaltevermögen. Mit seinen 78 Jahren ist er nicht nur "Commander in chief", sondern auch "Everybody's Opa". Und Opa weiß, wie man trauert. Seine Biografie ist voller Schmerz und Schicksalsschläge. 1972 verlor er seine erste Ehefrau und ihre einjährige Tochter bei einem Verkehrsunfall. Sein Sohn Beau starb vor 5 Jahren an einem Gehirntumor. Er versteht seelisches Leiden und nimmt die kollektive American Desperation wahr. Er kann Empathie und Menschenverstand zurück ins Weißen Haus bringen.
Ein Hund, der den amerikanischen Traum verkörpert
Das Nationalmotto der USA ist nicht "In God We Trust" – sondern "There’s No Business Like Show Business". Deshalb beginnt der Intendant-in-Chief seine Genesungs-Amtszeit morgen mit einer Mega-Show: der Primetime Spezial "Celebrating America". Ein Who's who von Stars und Superstars auf wirklich jedem verfügbaren Kanal.
Joe Biden bringt wieder reale Tiere ins Weiße Haus, er ist Herrchen von zwei deutschen Schäferhunden – Champ und Major. Champ steht für die Erfüllung des amerikanischen Traums: Aus dem Tierheim gerettet, wohnt er jetzt im Oval Office. Sein Name beruht auf einem Zitat von Joe Bidens Vater: "Champ, when you get knocked down, you get back up." Einen Stehaufmensch und -hund kann Amerika im Moment sehr gut gebrauchen.