Gaye Su Akyol: "Istrikarli Hayal Hakikattir"

Flüstern, schreien, drohen und schmeicheln

Die türkische Sängerin Gaye Su Akyol bei einem Auftritt im Rahmen des Festivals Musicas do Mundo in Sines, Portugal.
Die türkische Sängerin Gaye Su Akyol bei einem Auftritt im Rahmen des Festivals Musicas do Mundo in Sines, Portugal. © Imago Stock & People
Von Carsten Beyer · 01.11.2018
Die Istanbuler Musikerin Gaye Su Akyol spielt mit orientalischen Klängen und kontrastiert sie mit Postpunk-Gitarren. Sie sieht sich an der Spitze einer neuen türkischen Avantgarde. Es gebe Schikanen, sagt sie, aber: "Du kannst die Musik nicht stoppen."
Als Gaye Su Akyol klein war, hörte ihre Mutter am Liebsten türkische Klassik: Ihr Vater war Fan anatolischer Volksmusik, und ihr Bruder machte sie, als sie ein bisschen älter war, mit der Musik von Nirvana und Mudhoney, mit Joy Division und kalifornischem Surfrock bekannt. Eine explosive Mischung braute sich da im Kopf der jungen Frau zusammen, eine Mischung, die sich irgendwann kurz nach ihrem 20. Geburtstag Bahn brach.
Die Musik von Gaye Su Akyol ist schwer in Worte zu fassen: Sie spielt mit orientalischen Klischees und lässt sie doch weit hinter sich: Sie schwelgt in Raki- getränkten Balladen und üppigen Arrangements und zerstört diese im nächsten Moment durch Postpunk-Gitarren und den penetranten Einsatz eines Wahwah-Pedals. Sie flüstert und schreit, sie schmeichelt und droht – und sie schafft es, mit ihrer beeindruckenden Stimme auch die vertracktesten Rhythmen zum Tanzen zu bringen. "Istrikarli Hayal Hakikattir", so heißt ihr neues Album, zu Deutsch: "Der beständige Traum wird zur Realität", ein Titel, der weit über die Musik hinausweist.
"Wir leben in einer Realität, in der es viel Schlechtes gibt: Kriege, Gewalt, Missachtung der Frauen und der Menschenrechte. Deshalb wollte ich auf diesem Album eine Art fantastischer Gegenrealität schaffen, einen Fluchtpunkt. Der wesentliche Unterschied zwischen der Fantasie und der Realität ist ja die Beständigkeit: Wenn Du einfach nie damit aufhörst, einen bestimmten Traum zu träumen, dann wird er irgendwann Realität, dann hat auch er Bestand."

Avantgardistische Videos und ausgefallene Bühnendekoration

Gaye Su Akyol ist eine Ausnahme-Erscheinung – nicht nur musikalisch: Mit avantgardistischen Videos und einer ausgefallenen Bühnendekoration hat die gelernte Malerin in der Türkei schnell für Aufsehen gesorgt. Trotzdem sieht sie sich nicht als Solitär, sondern lieber als Teil eines größeren Zusammenhangs: Sie hofft auf eine neue türkische Avantgarde, die sich dem konservativen Rollback in Gesellschaft und Politik entgegenstellt.
"In der Türkei sind in den letzten zehn Jahren viele neue Bands gegründet worden: Wenn der politische Druck zunimmt, dann wächst auch die Notwendigkeit, sich irgendwie dagegen zu wehren – durch die Musik oder auch durch das Schreiben von Büchern oder das Malen. Das ist vielleicht das einzig Gute an der derzeitigen Situation, dass da gerade eine ganze neue, sehr lebendige Szene entsteht."

Traum von einer weltoffenen Türkei

Naiv ist Gaye Su Akyol nicht. Sie weiß, dass mit den türkischen Behörden derzeit nicht zu spaßen ist. Wer zu aufmüpfig wird, dessen Auftritte können schnell mal verboten werden. Und besonders auffällige Bands wie die linksrevolutionäre Grup Yorum mussten sogar ins Gefängnis, nachdem Polizisten zuvor noch ihre Instrumente zertrümmert hatten. Trotzdem: weggehen aus der Türkei will die Sängerin nicht – noch nicht: Lieber nimmt sie all ihren Mut zusammen und träumt weiter ihren beständigen Traum von einer liberalen und weltoffenen Türkei.
"Du kannst die Musik nicht stoppen. Du kannst die Instrumente kaputtmachen, du kannst die Musiker einsperren, aber die Musik ist in den Köpfen und man kann sie heutzutage leicht mit der ganzen Welt teilen. Deshalb sind solche Schikanen einfach nur dumm. Sie machen mich traurig, aber sie werden uns nicht stoppen: Das macht die Kunst zur Kunst."
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