70 Jahre Anwerbeabkommen mit Italien
Erst 2001 begann die Bundesrepublik sich selbst als Einwanderungsland zu definieren und politische Schritte hin zu einer besseren Integration zu unternehmen © picture alliance / nordphoto / Rust
Erfolgsgeschichte mit Hürden

Sogenannte italienische Gastarbeiter brachten nicht nur ihre Arbeitkraft nach Deutschland, sondern auch ihre Küche. So gelang ihre Integration. Dabei wollten Roberto Salernos Eltern anfangs nur ein paar Jahre bleiben.
Ravensburg in der schwäbischen Provinz: Wie jeden Sonntagnachmittag besucht Roberto Salerno seine 89-jährige Mutter. Beim Blättern in alten Fotoalben stoßen sie auf einen Zeitungsartikel aus den 70er-Jahren mit dem Titel: „Gastarbeiter – Menschen zweiter Klasse?“
Das Titelfoto zeigt eine Familie mit vier Kindern. Es sind die Salernos – „Seit 16 Jahren in Ravensburg“, wie es in der Bildunterschrift heißt. Robertos Eltern waren zwei von etwa zwei Millionen Italienern, die zwischen 1955 und 1973 in die Bundesrepublik kamen.
Am 20. Dezember 1955 unterzeichneten Bundesarbeitsminister Anton Storch (CDU) und der italienische Außenminister Gaetano Martino in Rom das deutsch-italienische Anwerbeabkommen. Es ermöglichte deutschen Unternehmen, Arbeitskräfte aus Italien legal zu beschäftigen.
Im Land des Wirtschaftswunders brauchte man Anfang der 1950er-Jahre Arbeitskräfte - in der Landwirtschaft, im Bergbau und im Straßenbau. Ein weiterer Grund: Die Bundesrepublik war 1955 der NATO beigetreten und musste die Bundeswehr personell aufrüsten. Nun fehlten diese Männer in den Betrieben, Fabriken und der Landwirtschaft. In Italien herrschte gleichzeitig vor allem im Süden des Landes große Arbeitslosigkeit.
Die Integration sogenannter Gastarbeiter gilt als Erfolgsgeschichte, doch ohne Hürden verlief sie nicht. Ihr langer Weg lässt sich an der Geschichte von Roberto Salernos Familie nachvollziehen.
Auswanderung aus Italien aus wirtschaftlichen Gründen
Saveria und Cosimo Salerno stammen aus der Region Benevento in Kampanien im Süden Italiens. Die Armut war groß, weiß ihr Sohn Roberto Salerno aus den Geschichten seines Vaters. Als 1957 eine Textilfabrik in Ravensburg und Vorburg Maschinenbediener und Näherinnen suchte, entschieden sich seine Eltern, nach Deutschland zu ziehen.
Agistono de Stefano ist heute 88 Jahre alt und wohnt in einem riesigen Hochhaus am Stadtrand von Rom. Weil er keinen Job in seiner Heimat Kampanien fand, mit dem er Frau und Sohn hätte ernähren können, kam er in den 1960er-Jahren nach Deutschland. Er arbeitete in der Nähe von Stuttgart zuerst auf dem Bau, später als Automechaniker.
Giovanni Polizzi traf 1966 aus Capracotta im Süden Italiens in Deutschland ein - im Zuge der Familienzusammenführung. Sein Vater war bereits sechs Jahre zuvor über das Anwerbeabkommen eingewandert. Er habe sich damals sehr gefreut, „weil mein Vater mir gefehlt hat“. Genauso groß wie die Freude war seine Hoffnung auf ein auskömmliches Leben.
Das Anwerbeabkommen geht auf die Initiative Italiens zurück. Viele Italiener kamen vor allem aus dem Süden des Landes nach Deutschland. Zwar gab es in Italien Ressentiments gegen Deutsche, weil sie im Zweiten Weltkrieg in einem Teil Italiens als Besatzungsmacht gewütet hatten. Doch die Migranten aus Süditalien hatten das nicht miterlebt, erläutert die Politologin Edith Pichler, Spezialistin für die italienische Einwanderungsgeschichte in Deutschland. Denn Süditalien wurde 1943 von den US-Amerikanern besetzt.
Strenges Auswahlverfahren vor der Einreise nach Deutschland
Für die meisten jungen Arbeitswilligen aus Italien begann die Geschichte am Münchner Hauptbahnhof – an Gleis elf. Dort hielten die Züge aus Verona. In einem der Züge saß 1960 der Sarde Russoriu Puddu.
In München wurden die Leute eingeteilt, sagt Puddu: „Nord, Berlin, Frankfurt, Köln. Fast 400 Leute [Anm. d. Red.: ... in einem Zug] waren wir eingeteilt nach Hamburg.“ Er wird Schiffsbauergehilfe auf einer Hamburger Werft, verdient 1,80 Mark pro Stunde und arbeitet im Akkord. „12, 13 Stunden war ganz normal.“
Zuvor wurden Bewerber aber im italienischen Verona von einer deutschen Kommission untersucht. Giovanni Polizzi kennt die Erzählungen seines mittlerweile verstorbenen Vaters: „Er musste sich nackt ausziehen und wurde drei Tage lang untersucht. Das war fast menschenunwürdig.“ Erst dann bekam Donato Polizzi einen Vertrag in einem Steinbruch im Schwarzwald.
Die Arbeiter aus dem Ausland sind ihren deutschen Kollegen auf dem Papier gleichgestellt, lobte die Frankfurter Zeitung 1955 die sogenannte „Vereinbarung über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach der Bundesrepublik Deutschland“. So erhielten auch die Saisonarbeiter Kindergeld. „Für die kinderreichen italienischen Familien ist es von großer Bedeutung“, schrieb damals die FAZ.
Schwieriger Start im fremden Deutschland
Die ersten eineinhalb Jahre konnte Agostino de Stefano es sich nicht leisten, nach Hause zu fahren – er verdiente zu wenig. „Das bisschen, was ich in meiner Anstellung verdient habe, habe ich meiner Frau geschickt.“ Gelebt habe er von Nebenverdiensten, sagt er. „Das reichte fürs Essen und ab und zu fürs Kino.“
Für Saveria Salerno war die Ankunft allein in Deutschland „unheimlich schrecklich“, sagt ihr Sohn Roberto. Ihr Mann kam erst Monate später nach. Ohne Deutschkenntnisse, mitten im Winter. „Sie hat zum ersten Mal Schnee gesehen“. Doch am härtesten traf seine Mutter das fehlende Gemüseangebot im Supermarkt. „Es gab keine Tomaten, keine Zucchini und keine Auberginen.“
Auch Salvatore Pizzolo, der seit 1970 in einem Kaffeelagerhaus in Hamburg arbeitete, konnte sich nicht an die deutsche Küche gewöhnen. In der betriebseigenen Kantine gab es „keine Nudeln, keine Spaghetti, keinen Wein, kein italienisches Gemüse“.
Rassismus und Vorurteile gegenüber italienischen Einwanderern
Viele der ersten italienischen Arbeiter in Deutschland und ihre Kinder machten zudem Erfahrungen mit Vorurteilen und Rassismus. An mancher Gaststädte hingen Schilder: „Für Italiener, für Nicht-Deutsche verboten“, erinnert sich Giovanni Polizzi, dessen Vater aus Italien nach Deutschland gekommen war.
Roberto Salerno weiß noch, wie er seinem Klassenkameraden vorschlug, zu ihm nach Hause zu gehen, um zu spielen. „Mein Papa hat gesagt, er lässt keine Italiener rein, die klauen“, antwortete der Klassenkamerad.
Aus Sicht der Migrationsforscherin Edith Pichler hat das Abkommen einen Geburtsfehler: Die Menschen kamen als Saisonarbeiter und sollten nach zwei Jahren wieder zurückgehen. Auch viele der Italiener planten zunächst nur zwei Jahre in Deutschland, um Geld etwa für die Aussteuer der Tochter zu verdienen oder ein Stück Land zu kaufen.
Doch weder verbesserten sich die Perspektiven in Süditalien. Noch ließ sich von den Löhnen viel sparen. Auch die Arbeitgeber wollten nicht alle zwei Jahre neue Leute anlernen.
Als es 1973 aufgrund der Ölkrise zum Anwerbestopp kam, entschieden viele Familien, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Der Familiennachzug wurde zur Regel.
Italienische Küche als „Integrationshelfer“
Dass Italiener in Deutschland heute dazugehören, habe auch kulinarische Gründe, sagt Migrationsforscherin Edith Pichler. Spaghetti und der Besuch beim „Italiener“ gehörten längst zur deutschen Lebensart.
Die fehlenden Zutaten für italienisches Essen wurden zunächst in Gemüsekisten im Kofferraum importiert. Bald entstanden Feinkostläden, Restaurants und stabile Lieferketten.
Das soziale Leben der Familie Salerno in Deutschland kreiste wie das vieler anderer einstiger italienischer Arbeiter um die katholische Gemeinde. Zusammen mit dem italienischen Konsulat baute die Kirche ein bundesweites Netz von italienischen katholischen Missionen auf, die zu zentralen Treffpunkten der Community wurden.
Hier wurde auch die "Vereinigung italienischer Auswandererfamilien in Ravensburg" gegründet, um die es im Zeitungsbericht über die Familie Salerno ging. Sie wurde zur ersten Anlaufstelle für Neuankömmlinge aus Italien, half bei der Arbeits- und Wohnungssuche.
Das soziale Engagement in seiner Familie hat Roberto Salerno auch zu seiner Berufswahl inspiriert. Heute ist er Gewerkschaftler und sitzt u.a. im Betriebsrat des Unternehmens ZF Friedrichshafen – mit Stolz auf das, was dort geleistet wird.
Italienische Arbeiter als Teil deutscher Geschichte
Bis die Leistung der ausländischen Arbeiter offiziell gewürdigt wurde, sollte es dauern. Erst Anfang der 2000er Jahre begann sich die Bundesrepublik als Einwanderungsland zu definieren und politische Schritte hin zu einer besseren Integration zu unternehmen.
Der Begriff der Gastarbeiter wird heute kritisch gesehen - viele Arbeitsmigranten waren keine Gäste, sondern haben in Deutschland ihr Leben verbracht. Das deutsch-italienische Anwerbeabkommen spielte nicht nur für das Verhältnis zwischen beiden Ländern eine wichtige Rolle, sondern wurde auch zum Vorbild für weitere bilaterale Vereinbarungen: mit Spanien und Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien.
Kanzler Merz für "qualifizierte Zuwanderung"
Giovanni Polizzi erzählt, dass es seinem Vater viel bedeutet habe, anlässlich des 60. Jahrestages des Anwerbeabkommens ins Bundeskanzleramt eingeladen zu werden. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ex-Bundespräsident Christian Wullf würdigten die ausländischen Arbeiter der ersten Generation im Rahmen eines Festakts. Das war “ein schönes Erlebnis”, sagt Polizzi. Mit dabei: seine zwei Neffen - beide hätten studiert.
Auch Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) würdigte im Dezember 2025 in der ARD Arena die wichtige Rolle der Arbeiter für den Erfolg von Ruhrgebiet, Kohle und Stahl.
Roberto Salerno fühlt sich keinesfalls „als Mensch zweiter Klasse“, wie der Zeitungsartikel von einst überschrieben war. Ganz im Gegenteil – er fühlt sich in Deutschland wohl. Aber – es gebe auch immer einen Teil, den er vermisse: den italienischen.
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