Gänsebraten und Köfte

Von Erik von Grawert-May |
Jetzt ist sie wieder da, die Zeit der betrieblichen und sonstigen Weihnachtsfeiern. Man hört, in der deutschen Hauptstadt, zumindest in deren westlichen Bezirken, würden manche in ein türkisches Lokal gehen und dort Köfte-Frikadellen essen. Andere gingen zum Chinesen, um vielleicht eine Pekingente zu verzehren. Was machen Sie?
Ich sitze hier in Senftenberg, dem früheren und, wer weiß, künftigen Tor nach Dresden. Hier höre ich so etwas nicht. Hier feiert man eher auf traditionelle Weise Weihnachten, wenn ich meinen Augen und Ohren trauen darf. Man flicht Zweige aus echter Tanne, bindet sie mit Draht zu einem großen Kranz. Oder man schmückt gleich einen ganzen Baum, mit Kerzen und Kugeln, Äpfeln und Nüssen. Dazu Gänsebraten mit Rotkohl, das Singen althergebrachter Weihnachtslieder nicht zu vergessen.

Ob es sich da um Trends handelt? Schwer zu sagen. Um das herauszufinden, bedürfte es genauer statistischer Analysen, während ich nur gewisse Eindrücke gesammelt habe. Angenommen, sie gäben halbwegs typische weihnachtliche Verhaltensmuster wieder, was ließe sich wohl daraus schließen? Dort, in Berlin, die fortschrittlich multikulturelle Form des Feierns, hier die rückschrittlich deutschtümelnde?

Um es gleich zu sagen: Ich bin ein Freund von beidem. Es hat etwas sehr Sympathisches, wenn sich Hauptstädter den fremden Kulturen öffnen, die in unserer Mitte gepflegt werden. Zugleich fühlt man hier im Süden Brandenburgs etwas fern Vertrautes in den gesungenen Liedern. Sie sind so mit der Weihnachtszeit verbunden, dass fast ein religiöser Schauer über einen kommt, als würde tatsächlich die Ankunft des Christkinds gefeiert. Und das in einer Region, die alle Züge einer Diaspora trägt. Wo die Kirche nur mehr einer kleinen Minderheit etwas zu sagen hat.

Ich träume den Traum von einer Gesellschaft, die beide Formen, Weihnachten zu feiern, verbindet. Warum nicht im Miteinander, wie bei der Weihnukka. Das ist gerade in der gleichnamigen Ausstellung des Jüdischen Museums zu bewundern. Oder auch im Nacheinander. Statt etwa zu Weihnachten nur Köfte-Frikadellen bzw. pekineser Ente zu essen, lüden wir vorher Türken und Chinesen ein, mit uns gemeinsam eine Gans zu verspeisen. Brächten ihnen unsere Lieder bei, damit sie die mitsingen können. Im Gegenzug würden wir offen sein für die uns fremderen Feste und uns bereitmachen, sie mitzuzelebrieren.

Ich liebe den chinesischen Singsang, ich liebe die türkische Folklore und möchte beides lernen. Ich bilde mir ein, ihnen gegenüber offener zu sein, wenn ich meinerseits die Gesänge beherrsche, die das deutsche Weihnachtsfest zugleich so glanzvoll wie gemütlich machen, aber ich habe sie inzwischen verlernt. Und ich denke, ich könnte meinen kleinen Teil dazu beitragen, das Abdriften unserer türkischen und chinesischen Mitbürger in eine Parallelgesellschaft zu verhindern, wenn ich sie durch Gastlichkeit in meine Kultur einführte. Doch das setzte voraus, die eigene Kultur genügend zu schätzen, damit ich sie leben und vorleben kann.

Vielleicht ist es dann sogar möglich, gleich noch einen Bogen von Berlin nach Senftenberg zu spannen. Sicher kann man West- und Ostdeutsche nicht als Parallelgesellschaften bezeichnen. Und doch scheint es, als sei wenigstens eine Idee davon nicht ganz von der Hand zu weisen. Es würde mich wundern, wenn aus meiner Nachbarschaft jemand statt zur Weihnachtsfeier zum Köfteessen ginge.

Dafür gäbe es hier nicht einmal genügend türkische Lokale, obwohl deren Anzahl langsam wächst. Mit der Pekingente könnte es vielleicht klappen. Aber auch da wird die traditionellere deutsche Weihnachtsfeier vermutlich vorgezogen, so gern man sonst auch zum Chinesen geht. Die deutsche Gemütlichkeit dürfte wohl den Sieg davontragen.

Um mehr über weihnachtliche Gebräuche meiner hiesigen Nachbarn zu erfahren, rief ich eine Bekannte an, die aus Senftenberg stammt. Ich fragte sie, ob ihr die Texte einschlägiger Weihnachtslieder noch vertraut seien, worauf sie sofort die zwei ersten Strophen eines ganz berühmten Liedes, das mir ebenfalls längst entfallen war, aufsagte. Als ich sie bat, mir das Lied am Telefon doch auch gleich vorzusingen, tat sie es ohne Federlesen. Ich empfand ihren Gesang als eine solche Bereicherung, dass ich die Verse, die ich bestimmt schon einmal in Kindestagen aufgesagt hatte, erneut auswendig lernte.
Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst Du geschneit Du wohnst in den Wolken, Dein Weg ist so weit

Komm, setz Dich ans Fenster, Du lieblicher Stern
Malst Blumen und Blätter, ich hab Dich so gern!

Wenn die Hauptstädter diese Strophen beim Köfte- und Entenessen im Hinterkopf hätten, wäre ich begeistert. Ihre Melodie ist so heiter und zart, dass sie jeden, egal, woher er kommt, von ganz alleine integrieren würde. Irgendwann öffnen sich dann auch die Herzen unserer Landsleute im Osten mehr für den Gedanken der Multikulturalität als vielleicht jetzt schon. Je eher wir uns selber schätzen, desto eher schätzen wir das Fremde.


Erik von Grawert-May, 1944 in Lauban/Niederschlesien geboren, studierte Romanistik und Wirtschaftswissenschaften in Paris, Tübingen und Berlin. Er habilitierte sich über den Barockbegriff "Theatrum Belli", ist seit 1994 Professor für Unternehmensethik und -kultur an der Fachhochschule Lausitz und leitet seit 1999 das "Hanns von Polenz Institut für regionalgeschichtliche Studien, Senftenberg".