Fußballweltmeisterschaft

"Ein Skandal, der erwartbar war"

Moderation: Matthias Hanselmann |
Ein Boykott der Fußball-WM in Katar sei keine Lösung, meint Medienwissenschaftler Dietrich Lederer. Der PR-Coup, das Turnier nach Katar zu holen, sei aber nach hinten losgegangen.
Matthias Hanselmann: "Die WM der Sklaven" nennt die "Süddeutsche Zeitung" schon jetzt eine Fußball-WM, die erst im Jahre 2022 stattfinden soll - falls sie überhaupt stattfindet, denn die Stadien und andere Bauten für diese WM in Katar werden unter haarsträubenden Bedingungen gebaut. Hunderte von Arbeitern sind schon gestorben, die anderen werden wie Zwangsarbeiter behandelt und miserabel bezahlt. Ich spreche mit dem Medienwissenschaftler Dietrich Leder von der Kunsthochschule für Medien in Köln. Guten Tag!
Dietrich Leder: Guten Tag!
Hanselmann: Der Botschafter des Emirats Katar freute sich vor drei Jahren, als Katar den Zuschlag für die Fußball-WM 2022 bekam, dass damit die Öffnung der Kultur und der Gesellschaft Katars für die Welt gezeigt werde. Was dort jetzt während der Arbeiten zur Vorbereitung passiert, wie würden Sie das bezeichnen? Als einen Skandal?
Leder: Das muss man als Skandal bezeichnen, aber ein Skandal, der erwartbar war. Hier schlägt der Zweck, den Katar mit der Bewerbung und dann dem Zuschlag der Fußballweltmeisterschaft erhielt, in ihr Gegenteil um. Der Zweck war ja nicht, dass das Land sich jetzt für die Welt öffnet, sondern im Gegenteil, dass die Welt sich für dieses Land interessieren soll.
Das heißt, es ist ein PR-Coup gewesen, mit der nun dieses Land Fußballweltmeisterschaften ausrichtet unter Bedingungen, die sich dann wenig später als fast unmöglich herausstellten, weshalb ja jetzt darüber spekuliert wird, die Weltmeisterschaft erstmalig in den Winter zu verlegen. Das heißt, das war ein Reklame-Coup, und jetzt kommt aber auch die Öffentlichkeit hinzu und dann stellt man fest: Die Bedingungen, unter denen da die Stadien gebaut werden, sind unsäglich. Sie führen zu vielen Todesopfern. Und das schlägt natürlich zum Nachteil aus.
"Da ist eine gewisse Mentalität der Ausbeutung präsent"
Hanselmann: Es wird auch darüber spekuliert, wer eigentlich die Verantwortlichen sind für dieses, ich sage mal, Desaster. Monika Staab, die als Trainerin der Frauennationalmannschaft in Katar arbeitet, meint, vor allem im Menschenhandel liege das Problem, weniger bei den Firmen oder den politisch Verantwortlichen. Es würden zum Beispiel Arbeiter nach Katar geholt, die schon in ihrer Heimat krank waren. Haben denn die Politiker des Emirats tatsächlich so wenig Einfluss?
Leder: Da müsste man sich natürlich genauer mit der Binnenökonomie dieses Landes beschäftigen. Wir wissen, dass gerade in den Emiraten Menschen, die man hierzulande, in den 60er-Jahren, mal als Gastarbeiter bezeichnet hat, unter nicht besonders würdigen Umständen arbeiten müssen. Das heißt, da ist eine gewisse Mentalität der Ausbeutung präsent, und die verschärft sich natürlich dann, wenn die Arbeitsbedingungen härter und brutaler werden. Also das ist ein In-Kauf-Nehmen einer Gesellschaft, für die das Alltag zu sein scheint. Das ist aber die Frage, inwieweit ein Fußballverband, der weltweit agiert und der sich auch gelegentlich ein moralisches Mäntelchen umhängt, das zulassen darf. Darf er gleichsam auf dem Blut von Menschen Stadien errichten, in denen dann die Freude am Spiel walten soll?
Hanselmann: Apropos, auch die "Süddeutsche" spricht nach ihren eigenen Recherchen von
einer "WM der Sklaven", von barbarischen Bedingungen, unter denen die Arbeiter dort leben und arbeiten müssen. Und der Präsident des Deutschen Fußballbundes Wolfgang Niersbach sagte dazu: "Wenn das so stimmt, dann ist das schockierend." Aber er setzte gleich dazu, der DFB könne da nur bedingt eingreifen. Was sind denn die Bedingungen, unter denen ein Fußballbund wie die FIFA oder der DFB aktiv werden können? Was können die tun und was nicht?
Leder: Selbstverständlich können Veranstalter, das ist in erster Linie ja die FIFA, ... Niersbach hält sich ja so zurück, weil er müsste ja erst mal bei der FIFA intervenieren, die dann wiederum in Katar interveniert. Das ist ein relativ komplizierter Prozess, und er weiß auch nicht, ob das dann am Ende auch in der FIFA richtig ankommt. Aber der Veranstalter gibt dem, also der Fußballverband gibt dem jeweiligen Land, in dem die Spiele stattfinden, in Pflichtenheften genaueste Dinge vor. Da wird ja geregelt, in welcher Umgebung beispielsweise, welche Firmen Reklame treiben dürfen und welche nicht. Das geht wirklich ins Kleinste.
Wenn man solche Pflichtenhefte erstellt, dann wäre es doch für einen Verband, der sich selbst als demokratisch bezeichnet und ja auch in einem demokratischen Land, beispielsweise in der Schweiz, siedelt, doch auch ein Gebot, zumindest faire Arbeitsbedingungen zu fordern, und zwar Arbeitsbedingungen, die beispielsweise FIFA-Funktionäre für sich auch in Anspruch nehmen. Das ist nur ein einfaches Ob, und wie das dann kontrolliert wird, ist eine zweite Frage. Das ist relativ schwer. Das ist auch bei Fragen beispielsweise von Korruption ... Es beginnen die Winterspiele in Sotschi, da wurde dieser Tage bekannt, dass ein Großteil des Geldes dann auch wohl gleichsam in Korruption geflossen ist. Da können und müssen eigentlich die Verbände stärker kontrollieren. Da sie aber selbst ja von Verdächtigungen der Korruption umflort sind, halten sie sich vielleicht auch deshalb sehr zurück. Sie wissen, dass vielleicht jede Kritik, die sie äußern, irgendwann mal sie selber erwischen wird.
Hanselmann: Aber Sie sind der Meinung, eigentlich müsste die FIFA mit Boykott drohen?
Leder: Ja. Ob der Boykott irgendwas bewirkt, ist die Frage, denn die Katastrophe ist da schon geschehen und das Einzige, was man jetzt verlangen kann: dass sich diese Bedingungen so ändern, dass nicht noch weitere Menschen gleichsam diesen harten Arbeits- und Ausbeutungsbedingungen zum Opfer fallen. Diese Forderung müsste man stellen. Aber stattdessen habe ich das Gefühl, dass die FIFA-Funktionäre den Kopf in den katarischen Sand stecken.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", ich spreche mit dem Medienwissenschaftler Dietrich Leder über die offensichtlich haarsträubenden Bedingungen für Lohnarbeiter bei den vorbereitenden Bauarbeiten zur Fußball-WM in Katar. Herr Leder, welche Beispiele aus der Vergangenheit der Fußball-WM gibt es, mit denen man die Situation in Katar vergleichen könnte?
Leder: Man kann sich erinnern, dass Weltmeisterschaften - das gilt auch für Olympische Spiele - mitunter in Ländern stattfanden, die diktatorisch regiert waren, wie Argentinien 1978 beispielsweise, das war eine soldatische Soldateska, die da regierte, und dort ließ man dann die friedlichen Fußball-Weltmeisterschaften stattfinden, oder 1968, die Olympischen Sommerspiele in Mexiko, da ist vorher ein studentischer Protest zusammengeschossen worden, und ein paar Wochen später begann da der Olympische Friede. Natürlich ist vielleicht das eine Mär, dass eben der Sport so etwas wie eine Insel sein kann innerhalb einer Wirklichkeit. Und es ist sicherlich auch verwegen, zu glauben, dass wir unsere mitteleuropäischen Lebensbedingungen gleichsam auf der Welt insgesamt durchgesetzt bekommen.
Aber dass man wirklich schaut und prüft, unter welchen Bedingungen man antritt und was man - noch mal ausdrücklich - an Reklame für die jeweiligen Regimes leistet, wenn man solche Veranstaltungen anbietet, das weiß man gerade in Deutschland sehr genau. Die Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin waren für Hitler und die Nationalsozialisten ein Schaufenster, in dem sie sich auf eine Art und Weise zeigen konnten, wie es schon damals der Wirklichkeit der Konzentrationslager und der Entrechtung der jüdischen Mitbürger nicht entsprach. Und deshalb ist immer doch die Frage zu stellen: Sport geschieht in der Gesellschaft und die Gesellschaft muss prüfen tatsächlich, wie sie befasst ist und in welcher Art dann der Sport ihr und ihren Bedingungen unterliegt.
Gleichzeitig nicht vergessen und sich am Spiel freuen
Hanselmann: Sie haben das Beispiel Mexiko angesprochen. Haben die Verbände damals auch ihre Köpfe in den mexikanischen Sand gesteckt?
Leder: Ja, das waren auch noch Bedingungen, in denen das IOC damals ein ultrareaktionärer Club alter Herren war, die sich dann mit solchen Fragen gar nicht beschäftigten. Das hat sich geändert. Das hat sich auch geändert durch eine kritische Publizistik, die den Sport jetzt nicht nur als Ergebnisritual feiert, sondern dann nach Strukturen fragt, und diese Journalisten, die herausbekommen wollen, unter welchen Bedingungen beispielsweise Spiele vergeben werden - auch in Deutschland, da sind wir ja nicht ganz so frei von Korruptionsvorwürfen, wenn man an die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2006 denkt -, ... Nein, das ist anders geworden, da achtet man heute mehr drauf, und deshalb ist auch dieser Protest und diese Kritik an der FIFA und den Zuständen in Katar vollkommen richtig.
Hanselmann: Wie beurteilen, wie bewerten Sie die Rolle, die die Medien in diesen Zusammenhängen spielen?
Leder: Ja, sie begleiten auf der einen Seite - das ist ja auch ein bisschen absurd -, sie begleiten den Sport, sie feiern den Sport, sie leben durch den Sport, und natürlich wird spätestens dann, wenn jetzt die aktuelle Weltmeisterschaft in Brasilien ansteht, diese Frage ja auch diskutiert werden. In Brasilien protestieren viele gegen das enorme Geld, das da in die Stadien geflossen ist. Wird das auch noch Gegenstand sein, wenn dann die Spiele beginnen? Das gilt aber auch, diese Frage, nicht nur an die Journalisten, sondern auch an uns. Werden wir in dem Moment, wenn dann das Spiel angepfiffen wird, all das wieder vergessen? Das ist heikel, da spielen beide Neigungen eine Rolle, und man muss es in Parallelen kriegen, ausgeglichen kriegen. Man darf es nicht vergessen und gleichzeitig darf man sich am Spiel auch freuen.
Hanselmann: Man ist doch eigentlich fassungslos. In der Welt gibt es jede Menge der von uns eben besprochenen barbarischen Arbeitsverhältnisse, viele Länder sind weit weg, weit entfernt von Demokratie. Wieso schaut man eigentlich meistens nur dann besonders hin, wenn es um Sport geht, egal welchen?
Leder: Ja, das ist die andere Absurdität. Das ist ja genau dieser Absurde Spiegelungseffekt jetzt von Katar: Die wollten Reklame für sich selber und haben auf einmal eine Kritik an Verhältnissen an der Backe, die wahrscheinlich normal ist oder sogar der Struktur entspringt. Das ist der unglaublichen medialen Aufmerksamkeit geschuldet, die mittlerweile Spitzensport in der Welt hat. Ja, das erzeugt eine Aufmerksamkeitsmacht, die man sonst durch nichts anderes erzeugt. Und deshalb könnte man ja auch sagen, ist dann die Verteilung von solchen olympischen und sportlichen Großereignissen über die Weltkarte vielleicht der Effekt, dass ab und zu dadurch die Lupe auf Verhältnisse gerichtet wird, die sonst gleichsam im Dunklen oder im Jenseitigen geschehen.
Hanselmann: Katastrophale Bedingungen beim Bau der Fußball-WM-Stadien und anderer Gebäude in Katar. Vielen Dank an Dietrich Leder von der Kunsthochschule für Medien in Köln.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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