Fußballfans mit Behinderung

Mit dem Rollstuhl nicht im Abseits

05:55 Minuten
Johann Kreiter fährt mit seinem Rollstuhl in das leere Gottlieb-Daimler-Stadion in Stuttgart.
Johann Kreiter, Vorsitzender des Vereins "Aktive Behinderte in Stuttgart und Umgebung", inspiziert das Gottlieb-Daimler-Stadion. © dpa / picture-alliance / Marijan Murat
19.05.2019
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Steile Tribünen, Treppenstufen und enge Sitzreihen. Für Menschen mit Behinderung ist ein Fußballstadion oft eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Doch der Fußballclub Arminia Bielefeld zeigt, wie man Rollstuhlfahrer ins Stadion holt.
Das Fachsimpeln mit den anderen Fans. Die greifbare Spannung, die sich mit jeder Minute vor Anpfiff mehr aufbaut. Sebastian Kuhlmann, Vorsitzender bei den Alm-Rollis, dem Rollstuhlfahrer-Fanclub von Arminia Bielefeld, zehrt von dieser Stimmung auch dann, wenn gerade kein Spiel ist.
"Naja, es ist eigentlich eine Leidenschaft. Manch andere Leute haben andere Hobbies, ich geh gern ins Fußballstadion. Schon allein die Atmosphäre, der Lärm. Ja, das ist einfach super."

Zurück ins Stadion, trotz Behinderung

Dieses Empfinden hat er gemein mit Heike. Sie feuert den ostwestfälischen Rivalen aus Paderborn an.
"Das ist immer Vorfreude. Ich kann so ein bisschen Frust loswerden, der sich in der Woche aufbaut. Ja, und einfach auch ein Stück Freiheit, seitdem ich den Rollstuhl habe. Weil ich vorher kaum laufen konnte und dann war man natürlich nur zu Hause. Und jetzt mit dem Rollstuhl kann ich wieder überall hin. Und das bedeutet mir sehr viel."
Es ist auch eine Rückkehr in ihre alte Fußballwelt. Früher war sie Schiedsrichterin. Heute sitzt sie auf der Tribüne vor der ersten Reihe. Beinahe schon auf Tuchfühlung.
"Die Stadionplätze sind meistens ebenerdig für die Rollstuhlfahrer. Es gibt keine Fahrstühle, dass man die auf höhere Etagen setzen kann. Also bleibt praktisch immer nur der ebenerdig."

Rolliplätze in der ersten Reihe

Das kann Vor- und Nachteile haben, wägt Christian Just ab. Er ist Behinderten-Fanbeauftrager des SC Paderborn und Rollifahrer.
"Vorteil ist, Du bist ganz nah dran am Spielgeschehen. Und dann nach dem Spiel kriegt man auch eher mal den Kontakt zu einem Spieler. Nachteil ist natürlich, es ist natürlich auch immer viel Trubel und gerade durch Fernsehen oder durch die Medien, die bisschen die Sicht behindern können. Aber man ist eben mit dabei."
In dem Stadion von Kaliningrad in der gleichnamigen russischen Provinz an der Ostsee sind Rollstuhlplätze zu sehen, die auf dem Boden markiert sind. Vor ihnen sind Sitzplätze.
Vorbild Russland: Im Fußballstadion von Kaliningrad gibt es Plätze für Rollstuhlfahrer auf den Rängen.© Imago / ITAR-TASS / sportfotodienst
Räumlich ohnehin, aber es geht auch um die emotionale Komponente. Man gehört dazu, ist gleichberechtigter Teil der Fans.
"Ein Stadionbesuch für Leute mit Handicap ist auch ein Prestige. Leute, die beispielsweise eine Dauerkarte haben, speziell für Rollstuhlfahrer oder auch Sehbehinderte, das ist schon etwas Besonderes, wenn man so eine Karte ergattert. Die schätzen das auch sehr und sind die treuesten Besucher, die es im Stadion gibt."

Bielefeld hat 800 behindertengerechte Plätze

Die modernen Stadien berücksichtigen die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen mehr als je zuvor. In Bielefeld zum Beispiel gibt es für sie 800 Plätze. Neben Rollifahrern und Sehbehinderten denkt man hier auch an Gehbehinderte und Hörgeschädigte. Darüber hinaus an Menschen mit geistiger Behinderung und deren Begleiter. Aus nachvollziehbarem Grund, wie der Behindertenbeauftragte Jörg Winkelmann erklärt.
"Ein Mensch mit einer geistigen Behinderung, der in einer Werkstatt tätig ist, kriegt 150 Euro Taschengeld und müsste normalerweise für seine Begleitperson, wenn es diese Plätze nicht gäbe, voll zahlen. Was bedeutet, er gibt mal 40, 50 Euro aus für ein Spielbesuch. Das ist nicht machbar bei dem Geld. Aus dem Grund werden die hier ermäßigt für acht Euro angeboten, Begleitperson kostenfrei."

Wenige Plätze für eine große Nachfrage

Bielefeld ist damit Vorreiter. Doch wie überall reicht das Angebot nicht für die Nachfrage an Karten für behinderte Menschen. Alexander Friebel ist Vorsitzender, der BBAG, der Bundesbehindertenfan-Arbeitsgemeinschaft. Dieser Verein sieht sich beratend in einer Mittlerfunktion zwischen dem Fußball und den Fans mit Behinderungen.
"Wir haben jetzt – nur erste und zweite Liga in der Betrachtung – 5000 gemeldete Rollstuhlfahrerplätze, 600 Plätze für Menschen, die sehbehindert sind. Wo also auch ein Spielkommentar entsprechend erste und zweite Liga vollständig vorhanden ist. Und 1750 andere Plätze. Teilweise sind da nicht enthalten: Plätze für Gehörlose. Plätze, die zu speziellen Inklusionsspieltagen entstehen. Aber bei 18 Millionen verkauften Tickets letzte Saison in der ersten und zweiten Liga sieht man natürlich auch: es ist nur ein kleiner Tropfen auf den heißen Stein."

Mit dem Rolli auf jede Ebene im Stadion

Im Vorfeld der Europameisterschaft 2024 soll für Fans mit Behinderungen in den Stadien noch einmal modernisiert werden. Soll sich die Wirklichkeit dem Wunsch von Bielefelds Behindertenbeauftragtem Jörg Winkelmann annähern.
"Inklusiv betrachtet, sieht das optimale Stadion aus, dass jeder Platz, egal welcher, für einen Menschen mit Behinderung ermäßigt ist. Und das gleiche natürlich auch für Rollstuhlfahrer. England macht uns das vor. In England kann ich in jedem Stadion in jedem Rang mit einem Rollstuhl stehen. Die Möglichkeiten werden da bereitgehalten, indem man mobile Sitzplätze einrichtet, die man dann wegnehmen kann, um ein Rollstuhlplatz hinzustellen. Das ist das Optimum. Und irgendwann, denke ich, wird es in der Bundesliga soweit sein, dass Inklusion nicht mehr diskutiert wird, sondern einfach gelebt wird."
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