Fußball-WM

Verbotenes Spiel nach Regel 12

Kolumbiens Nationalspieler Juan Zuniga foult Brasiliens Superstar Neymar im WM-Viertelfinale folgenschwer: Er erlitt einen Wirbelbruch.
Für Juan Zuniga gab es nach seinem folgenschweren Foul an Neymar beim WM-Viertelfinale keinen Platzverweis. © picture alliance / dpa / Marius Becker
Von Ines Geipel · 08.07.2014
Die Weltmeisterschaft in Brasilien zeichne sich bislang vor allem durch eines aus: eine permanente Übertretung von Reglements, so die Autorin und Doping-Expertin Ines Geipel. Sie sieht darin eine gespenstische Entgrenzung.
Fußball-Weltmeisterschaften in Brasilien mit dem ersehnten Halbfinale der Deutschen heute gegen die Selecao. Und ganz Deutschland spielt mit. Auch wenn mittlerweile allen klar ist: Wir sind in einem völlig neuen Spiel. Der Gegner – und das ist neu – wird nicht mehr einfach gestoppt, sondern wenn möglich mit Vorsatz ausgeschaltet. Eine angefressene Schulter, ein gebrochener Rücken, Schläge gegen die Halsschlagader, vor allem aber Tritte gegen den Fuß, zu Matsch geschlagene Köpfe. Ein Knie von hinten und dann mit voller Wucht rein in den Körper des Gegners.
Das ist nicht nur Männlichkeitssymbolik – der brasilianische Superstar Neymar hätte im Viertelfinale gegen Kolumbien genauso gut gelähmt sein können.
Regel 12 im Fußball legt fest:
"Ein Spieler, der im Kampf um den Ball von vorne, von der Seite oder von hinten mit einem oder beiden Beinen in einen Gegenspieler hineinspringt und durch übertriebene Härte die Gesundheit des Gegners gefährdet, begeht ein grobes Foul. Grobe Fouls werden mit einem Platzverweis geahndet."
Platzverweis gegen Juan Zuniga, den kolumbianischen Brutalo, aber gab es keinen, Neymar wurde vom Feld getragen. Das Spiel lief weiter.
Der globale Hype soll weiterlaufen
Und das soll es! Der globale Hype soll weiterlaufen, auf keinen Fall innehalten, das Geschäft hat zu stimmen. Wozu sonst schließt die FIFA Versicherungen ab, die die Betroffenen und deren Arbeitgeber in Unfällen wie diesen auszahlt? Wozu sonst pfeifen die Referees so brüsk wider die Regel? Bei 54 Fouls im Spiel Brasilien gegen Kolumbien wurden lediglich vier geahndet. Ein WM-Rekord. Wobei 31 Fouls – das ist im Vorfeld des heutigen Halbfinales, das der mexikanische Schiedsrichter Rodriguez pfeift, derselbe, der den Schulterbiss von Suarez übersehen hatte, doch noch einmal festzuhalten – auf die Kappe von Brasilien gingen.
Und zum Dritten: Wozu sonst finden die Dopingkontrollen während des Turniers unter der alleinigen Hoheit der FIFA, genauer des FIFA-Arztes Jiri Dvorak, statt? Die FIFA lässt die Proben veranlassen, durchführen, untersuchen und behält sich zu guter Letzt vor, die Ergebnisse zu veröffentlichen. Fußball sei autonom, heißt es in solchen Fragen dann immer. Was nötig ist, würde intern geregelt. Das ist so, als wenn der Spieler sich selbst auf die Hand pinkeln würde, um mal ein deutlicheres Bild zu bemühen.
Gefährliches Spiel der Entfesselten
Die Weltmeisterschaft in Brasilien weist sich bislang vor allem als eine permanente Übertretung des Reglements aus. Eine neue Kultur des Fouls oder laut Regel 12 auch des Verbotenen Spiels. Brutalos gehen vor Stilisten, HGH-Gesichter – also: Spieler, bei denen Wachstumshormone alles Fett aus dem Körper gezogen haben – vor Wadenlose. Die neue Kultur des Fouls wird insofern von einer neuen Physis auf dem Platz gespielt, von fettlosen Modellathleten, merkwürdigen Kampfmaschinen, die ab der 60. Minute immer schneller werden, so schnell, dass man dem Ball kaum mehr folgen kann.
Das war mal deutlich anders. Modellathleten waren frühere Fußballer eher selten. Diesen Typus gibt es praktisch nicht mehr. Jetzt dominieren die markant Fettlosen mit stieren Blicken, die Entfesselten, die das Spiel eben so ungemein gefährlich machen.
Keine Regeln im Spiel, keine in Sachen Doping, keine bei den Ticketverkäufen, keine, was Arbeits- und Menschenrechte in Brasilien selber angeht. Der Megakonzern FIFA hat ein globales Superspiel entwickelt, das etwas Gespenstisches hat. Zuallererst auf dem Feld, aber auch in seiner kalkulierten und gesteuerten Entgrenzung. Nicht weniger gespenstisch ist, dass immer mehr Fans zu diesem gigantischen Foul-Spiel gehören wollen und dabei so unheimlich glücklich wirken.
Ines Geipel, Jahrgang 1960, ist Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch". Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium in Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie. Sie hat vielfach zu nervösen gesellschaftlichen Themen publiziert, zählt zu den kritischsten Stimmen des globalen Design-Sports und ist Vorsitzende der Dopingopferhilfe im Deutschland. Zuletzt erschien ihr Buch "Generation Mauer. Ein Porträt" bei Klett-Cotta in Stuttgart.
Die Schriftstellerin und Doping-Expertin Ines Geipel, die Arme verschränkt, an eine graue Betonmauer gelehnt.
Die Schriftstellerin und Doping-Expertin Ines Geipel.© Ines Geipel (privat)