Fußball-WM

"Epische Erzählmuster des heroischen Kampfs"

Andreas Gelz im Gespräch mit Nana Brink  · 15.07.2014
Die Geschichte einer verschworenen Gemeinschaft, die gemeinsam Abenteuer besteht, Gegner besiegt und eine Trophäe mit nach Hause bringt: Die Erfolgsstory der DFB-Elf hat alle Zutaten einer klassischen Heldensaga, sagt der Romanist Andreas Gelz. Die Medien haben ihren Teil zur Heldenverehrung beigetragen.
Nana Brink: Die deutschen WM-Helden sind auf dem Weg zur Fanmeile nach Berlin und da werden sie von ganz schön viel Heldenrhetorik empfangen! Wie wär’s denn damit: Heroisch trotzte Blutkrieger Schweinsteiger allen Angriffen der Brutalo-Gauchos! – Gemeint sind wohl die Argentinier. Allüberall nach dem WM-Finale tummelten sich ja die pathetischen Wortausrutscher in die Medien, und der hier ist auch gar nicht schlecht: Wir waren elf Freunde, jetzt sind wir Legende! – Haben Sie es nicht auch ein bisschen kleiner?
Aber anscheinend gehört die Heldenrhetorik geradezu zum Fußball dazu, zumindest in den letzten Tagen! Sehen wir uns doch die Helden mal genauer an, und zwar mit Andreas Gelz, er ist Professor für Romanistik an der Uni Freiburg und leitet das Projekt "Helden und Heroisierungen". Schönen guten Morgen, Herr Gelz!
Andreas Gelz: Ja, guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Haben wir jetzt neue Helden?
Gelz: Ja, Sie haben zu Recht gesagt, zumindest haben wir rhetorische Zuschreibungen. Wir sagen, wir haben neue Helden, es werden also Erzählmuster, Heldennarrative auf diese Fußballmannschaft – auf "la Mannschaft", wie es auch in den französischen Medien immer wieder heißt – aufprojiziert. Und in einer gewissen Weise haben wir damit sozusagen Helden, ja, das kann man wohl sagen!
Brink: Die Schlagzeilen sind ja voll mit dem Begriff Held. Heute hat eine Boulevardzeitung eine ganze Seite aufgemacht, was die alles für einen Blutzoll zahlen müssen. Woher kommt denn diese Rhetorik? Das greift ja ganz tief, oder?
Gelz: Ja, das ist ja nicht nur die Rhetorik, sondern es ist ja auch ein bildhafter Ausdruck sozusagen dieses Kampfes, der Überwindung ja nicht nur des Gegners im Spiel, sondern auch der Selbstüberwindung, wenn Sie sich an die Gesichtswunde von Schweinsteiger erinnern im Spiel. Sozusagen ein bildhafter Ausdruck auch des Außerordentlichen, des Außeralltäglichen, mit dem wir hier konfrontiert werden. Das sind ganz archaische Muster sozusagen, die hier reaktualisiert in die moderne Medienwirklichkeit eingeblendet werden, eines Kampfes, der natürlich auch bis an die Selbstüberwindungsgrenze, bis an die Grenze zur Opferbereitschaft, zum Selbstopfer des Helden sozusagen geht. Und das schließt Körperlichkeit und Wundmale und so weiter mit ein.
Bundestrainer Joachim Löw hält, umgeben von den deutschen Nationalspielern, den WM-Pokal in die Höhe.
Bundestrainer Joachim Löw feiert im Kreis seiner Spieler den WM-Triumph.© picture alliance / dpa / Marcus Brandt
Brink: Kann es sein, dass ich mich irgendwie an meine Schulzeit erinnere, an das "Nibelungenlied"?
"Hier werden ganz alte Erzählmuster reaktualisiert"
Gelz: Es ist in der Tat richtig, da liegen Sie, glaube ich, gar nicht falsch, auch wenn wir das in der Medienaufgeregtheit gar nicht wahrnehmen. Hier werden ganz alte Erzählmuster, epische Erzählmuster des heroischen Kampfs, wie es ja auch bei einer Weltmeisterschaft naheliegt von Nationen gegeneinander, von Gemeinschaften gegeneinander, reaktualisiert. Erzählmuster, die auch – das kann man jetzt, glaube ich, heute sehr schön sehen – mit der Reisebewegung auch verbunden sind. Also, da reist eine Gruppe aus, eine Ausfahrt, um Abenteuer zu bestehen, um sich zu bewähren im Kampf, sozusagen die verschiedenen Spiele bis hin zum Finale in der WM, und dann die Heroisierung auf der Schlussfeier, die wir ja schon gewärtigt haben mit Licht, mit Klang, die Helden werden sozusagen erhoben, im wahrsten Sinne des Wortes, auf der Tribüne. Und jetzt die letzte Etappe, die wir heute erleben werden, die Rückkehr, die Begegnung mit der Verehrergemeinschaft, mit den Fans in Berlin, auf der Fanmeile.
Brink: Also, die man dann anfassen muss. Ist das dann wirklich so… Ich mag das Wort ja eigentlich gar nicht, aber die Helden zum Anfassen, das hat hier irgendwie seine Berechtigung, nicht?
Gelz: Absolut. Das ist ein Prozess, der schon vorher begonnen hat. Ich glaube, vielleicht erinnern Sie sich, als die Spieler zur Siegerverleihung, zur Trophäenverleihung hochgingen auf die Tribüne, haben alle möglichen Zuschauer versucht, die Helden – in Anführungszeichen – anzufassen, zu berühren. Unsere Politiker haben sozusagen mit der Umarmung oder dem Besuch in der Kabine auch diese körperliche Nähe hergestellt, die eine Art Übertragung der Kräfte der Helden sicherstellen soll. Und in der Tat, diese körperliche Präsenz, diese Berührung, diese Kraftübertragung soll heute dann mit den Fans, wie ich gelesen habe, mit dem langen Laufsteg, der dann über 30, 40 Meter in die Fanmeile hineingeht, sozusagen einem Höhepunkt entgegengehen.
Brink: Ja, das ist erstaunlich, ich habe noch nie gesehen, dass Angela Merkel so viele junge Männer auch ohne T-Shirt umarmt hat, das hatte schon etwas… Was singuläres…
Gelz: Ja, verschwitzt, zum Teil blutig, das waren schon sehr, sehr ungewöhnliche Bilder, absolut!
Brink: Ich frage mich trotzdem … Ich meine, wenn man Weltmeister wird, das ist klasse, das ist ja unbestritten. Aber woher kommt denn diese Begeisterung, dieses Eruptive, das jetzt so zum Ausdruck kommt?
"Weniger Heldenproblematik als Mediendynamik"
Gelz: Ich denke, dass ein ganz kleiner Teil damit vielleicht weniger mit der Heldenproblematik als mit einer Mediendynamik auch zu tun hat. Natürlich, das Heldenphänomen war auch schon vor der Zeit der Massenmedien natürlich immer ein medial vermitteltes und man könnte wahrscheinlich sagen: auch ein medial gesteuertes. Und natürlich ist sozusagen die Konzentration im weiteren Turnierverlauf bis hin zum Endspiel natürlich eine Frage immer größerer Medienpräsenz. Und das steckt natürlich an, das Publikum, das sich immer stärker mit solchen Bildern konfrontiert und gegebenenfalls sich damit identifiziert. Da gibt es zum Teil auch eine Mediendynamik. Aber die Begeisterung sozusagen, eine Art Wiederholungsbewegung, sich immer wieder bewähren zu müssen, es gab ja auch schlechte Spiele, aber wieder aufzustehen, weiterzumachen und dann am Ende den Sieg einzufahren, das ist, glaube ich, eine Faszination, die etwas auch mit dem Begriff des Außerordentlichen, des Außergewöhnlichen zu tun hat. Andere haben es eben nicht geschafft. Und das ist eine sehr große Ansteckungskraft, denke ich, die von dieser heroischen Logik, in Anführungszeichen, ausgeht.
Fans warten auf die deutsche Nationalmannschaft am Brandenburger Tor
Fans warten auf die deutsche Nationalmannschaft am Brandenburger Tor© AFP / Clemens Bilan
Brink: Man hat ja auch das Gefühl gehabt, dass sich das ganze Land irgendwie auch nach diesem Titel gesehnt hat. Ich erinnere mich an 1990, da konnte man das verstehen, auch politisch, es waren die beiden Deutschländer, die sich vereinigt haben. Was sehen wir heute, woher diese Sehnsucht auch nach Helden eben gerade?
"Langform der heroischen Erzählung"
Gelz: Ja, ich glaube, das ist vielleicht die Langform der heroischen Erzählung. Man konnte jetzt in der Presse sehr viel darüber lesen, dass hier ein langer Weg beschritten worden sei der Reformen in schwieriger Zeit, mit dem Antritt von Löw als Assistent bei Klinsmann, seit 2004 bis heute, sozusagen vier Anläufe bei Welt- und Europameisterschaften, und endlich haben die Reformen gegriffen. Ich glaube, das ist sozusagen auch natürlich, jetzt nicht aufs Turnier bezogen, sondern auf eine lange Zeit, über eine Dekade sozusagen eine Erzählung, die etwas von Bewährung und außerordentlichen Leistungen berichtet. Und ich glaube, das kann man natürlich, wie man 54 das Wunder von Bern politisch mit dem Wiederaufbau verglichen hat oder parallelisiert hat, kann man auch heute natürlich eine solche Lesart anstreben, wenn man möchte, sozusagen in Krisenzeiten, in schwierigen Zeiten hier zu obsiegen. Und so eine politische Lesart ist durchaus möglich.
Brink: Noch eine letzte, ganz kurze Frage: Dürfen wir heute wieder Helden haben? Das war ja doch verpönt!
Gelz: Wir dürfen andere Helden haben, jede Gesellschaft und jede Zeit hat andere Heldenbilder. Ich glaube, es gibt ja auch die These von der postheroischen Gesellschaft, in der wir angeblich leben würden, das kann man vielleicht für ganz kleine Inseln sozusagen in unserer Welt, zu denen möglicherweise Deutschland gehört, sagen, aber in Wirklichkeit denke ich vielmehr, dass sich Heldenmodelle pluralisiert haben, multipliziert haben, der Sport ein ganz wesentlicher Bereich ist, in dem eine solche Zuschreibung noch möglich ist, die auch etwas von den alten Mustern, über die wir eben gesprochen haben, reaktualisiert. Insofern: Ja, man darf Helden haben, sofern sie eben nicht… solange sie im Modus der Pluralisierung, der Pluralität bleiben und damit auch in einer gewissen Weise indirekt auch relativiert werden.
Brink: Dann freuen wir uns zusammen auf die Helden, die dann irgendwann auf der Fanmeile heute in Berlin aufschlagen werden! Herzlichen Dank, Professor Andreas Gelz! Er ist Heldenforscher an der Uni Freiburg. Schönen Dank für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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