Fusionierte Wirklichkeit im Bühnenraum

Von Gregor Ziolkowski |
Durch eigenwillige Installationen und ihre Zusammenarbeit mit dem Regisseur Christoph Marthaler wurde die Bühnenbildnerin Anna Viebrock bekannt. Ihre Arbeit beeindruckte auch den Direktor des Madrider Zentrums für Dramatik. Der lud sie jetzt ein, ihre Modelle in einer Ausstellung zu präsentieren und einen Workshop zu leiten.
Alles fing 1998 an. Da sah der Bühnenbildner und heutige Direktor des Madrider Nationalen Zentrums für Dramatik in Salzburg eine Aufführung, die ihn tief beeindruckt hat: Leos Janaceks Oper "Katja Kabanova". Bühnenbild: Anna Viebrock.

"Mir erschien dieses bühnenbildnerische Herangehen sofort als etwas sehr Ungewöhnliches. Und ich sagte mir: Hier ist jemand mit einem außergewöhnlichen Talent am Werk - dieser Umgang mit dem Material, der Kult um die Realität und zugleich ein Sinn für die Poesie einer Inszenierung. Seitdem verfolge ich die Arbeiten von Anna Viebrock. Als die Berliner Volksbühne hier mit der Produktion "Die zehn Gebote" von Christoph Marthaler gastierte, war mein Verdacht endgültig bestätigt: Sie ist eine wirklich herausragende Bühnenbildnerin. Und so reifte in mir der Wunsch, sie hierher zu holen. Nicht nur mit einer Ausstellung ihrer Bühnenmodelle, sondern auch für einen einwöchigen Workshop mit spanischen Bühnenbildnern, bei dem sie ihre Arbeitsweise - die für Spanien alles andere als üblich ist - erläutern kann."

Mit 25 Bühnenmodellen ist sie nun angereist, Theater- und Operninszenierungen, die in der Zusammenarbeit mit Christoph Marthaler oder Jossi Wieler entstanden, zwei eigene Regiearbeiten sind ebenso dabei. In einem Saal des Teatro Valle-Inclán stehen die Modelle auf hohen groben Holztischen, die eigens für die Ausstellung gezimmert wurden - aus Resten, die aus einem Abrissviertel in Zürich stammen. Das hat nicht nur den Vorteil, dass der Betrachter auf Augenhöhe in diese Bühnenräume, die man recht eigentlich Installationen nennen könnte, eintauchen kann. Vielmehr werden diese groben Tische selbst zu Bestandteilen der Ausstellung, denn dies: etwas in der Wirklichkeit Vorgefundenes aufzugreifen und es - verändert - hineinzumontieren in den Kunstraum Bühne, gehört auch zu den Grundzügen der Arbeit von Anna Viebrock.

Anna Viebrock: "Die ersten zehn Jahre meiner Laufbahn habe ich sehr viel immer in Büchern studiert. Natürlich, für jedes Stück macht man seine Studien, das ist ja klar. Aber dann fing es eigentlich an, dass sozusagen die Wirklichkeit immer wichtiger wurde. Und seitdem ist es eigentlich so, dass ich dieses visuelle Notizbuch - also mit dem Fotoapparat - herumlaufe und sehr viel aufnehme. Und das Gefühl habe, ich kann eigentlich nur Dinge im Bühnenbild verwenden, die ich irgendwo gesehen habe, selber, und nicht, die ich aus irgendwelchen Büchern hab, weil sie ganz was Anderes mir erzählen oder ausstrahlen."

Wäre es freilich nur dies, müsste man Anna Viebrocks Konzept einfach nur Realismus, wenn nicht gar Naturalismus nennen. Aber bei ihr verschmelzen die konkreten Elemente aus der Wirklichkeit zu einer hochartifiziellen, gleichsam fusionierten Wirklichkeit, die einen Bühnenraum ergibt, der kaum je wechselt während einer Aufführung. Am Beispiel der Basler Inszenierung "Faust. Eine subjektive Tragödie" von Fernando Pessoa erläutert sie den Teilnehmern des Workshops:

"Da hab ich vielleicht meine Methode erfunden, aus vielen Orten einen mehrdeutigen Ort zu machen. Mich interessieren eigentlich soziale Orte, die alle Menschen kennen, nicht irgendwelche privaten Orte, die immer nur einer kennt. Oft sind es Fabriken, Heime, Ämter. Auch alles, was beängstigende, bedrohliche oder einschüchternde ... Schulen, Korridore, Hinterzimmer, Flughäfen, Kirchen, also alles Orte, die eigentlich alle kennen und die eigentlich auch dazu führen, dass diese Orte sehr groß sind, also mehrere Orte beinhalten können."

Der sichere Eindruck des Zuschauers, etwas Vertrautes vorzufinden, verschwimmt auf diese Weise immer mehr, führt zu einer Verunsicherung, die durch absurde, ja surrealistische Elemente noch verstärkt wird: Notbremsen oder Buchregale in unerreichbarer Höhe, Spiegel, die nur so aussehen, als wären sie welche, tanzende Lampen, singende Heizungen - die scheinbare Wirklichkeit wird zum wirklichen Schein, die Bühne zum überdrehten Phantasieraum.

Die spanischen Workshop-Teilnehmer zeigten sich durchweg begeistert von den Modellen wie vom Konzept der Anna Viebrock. Hier, wo es kaum feste Ensembles und Stadttheater mit ganzjährigem Repertoire gibt, wo sich vielmehr Kompagnien zu einer Produktion zusammenfinden, die dann in der Regel von vornherein als Gastspiel-Tournee konzipiert und oft privat finanziert ist, ergeben sich völlig andere Bedingungen gerade für Bühnenausstatter. Die Madrider Bühnenbildnerin Ana Garay.

"Man muss da über viele Variablen sprechen: Ist es eine private oder öffentliche Produktion? Wieviel Geld steht zur Verfügung? Das muss nicht immer eine Einschränkung sein, aber es ist eben eine Bedingung. Ist der Regisseur sehr eigenwillig oder nicht? Wird in einem klassischen Theater oder in einem Multifunktionssaal gespielt? Und all das bestimmt letztlich Deine Arbeit. Aber insgesamt würde ich sagen, dass das private Theater hier doch eher weniger Möglichkeiten hat, sich auf Experimentelles einzulassen."

Dieser Situation einige erfrischende und erneuernde Impulse zu verleihen, das ist das erklärte Ziel des Zentrums für Dramatik in Madrid. Einladungen international renommierter Regisseure zu Gastinszenierungen und Workshops haben den Anfang gemacht, mit Anna Viebrock hat nun auch in der Sparte Bühnenbild eine gezielte Anregung des spanischen Theaters begonnen. Die auf der anderen Seite aber vielleicht auch Früchte trägt: Anna Viebrock jedenfalls wurde gesehen, wie sie Fotos machte in Madrid.