Furiose Auftritte und kunsthistorische Verrenkungen

Von Adolf Stock |
Wie sich Skulptur und Architektur im Laufe der Geschichte wechselseitig befruchtet und ausgebeutet haben, will die Ausstellung "ArchiSkulptur" im Kunstmuseum Wolfsburg zeigen. Überall gibt es wundersame Einblicke: Plötzlich haben etwa die tektonisch gebauten Figuren Maillols mit der klassischen Architektur zu tun. Gut dreißig Dialoge werden mehr oder weniger überzeugend in Szene gesetzt.
Die "Gurke" von Sir Norman Foster ist die neueste Attraktion im Londoner Häusermeer. Das Büro-Hochhaus im Finanzdistrikt wurde mit Hilfe modernster Computerprogramme entworfen. Neben Big Ben und dem Tower ist die nutzbare Skulptur ein neues Wahrzeichen der Stadt. Sie ist auch ein spektakuläres Objekt fürs Fotohandy und für Smal-Talk: Warst Du auch schon in London und hast die "erotische Essiggurke" gesehen?

Die Ausstellung ArchiSkulptur, sagt Direktor Markus Brüderlin, reagiert auch auf ein solches Phänomen.

"Ein kurzer Blick auf die Skylines der Weltstädte zeigt, dass das Skulpturale eine hervorstechende Eigenschaft des gegenwärtigen Architekturschaffens ist. Die Skulptur wurde mit der Installationskunst seit den 60er Jahren selber immer architektonischer. Skeptische Geister sehen diese Auflösung durchaus kritisch, und sie meinen, dass die Architektur die Skulptur absorbiert, sie aufgefressen habe."

Die Kannibalismus-These gehört zum kulturhistorischern Unterfutter der Wolfsburger Ausstellung. Mit ArchiSkulptur geht es Markus Brüderlin auch um einen erweiterten kunsthistorischen Diskurs. Er will zeigen, wie sich Skulptur und Architektur im Laufe der Geschichte wechselseitig befruchtet und ausgebeutet haben.

"Schon die ägyptischen Pyramiden beeindruckten mit der geometrischen Wucht des Elementarplastischen. In der Gotik verschmelzen Bauplastik und Architektur in einem einzigartigen organischen Guss. Und das Nahverhältnis zwischen Architektur und Skulptur verschärfte sich im 18. Jahrhundert, und seither gehört der Dialog zwischen Architektur und Skulptur zu den spannendsten Phänomenen der Moderne."

Und so steht eine Skulptur von Henry Moore neben einem wunderbaren Holzmodell der Wallfahrtskirche von Le Corbusier. Überall gibt es wundersame Einblicke: Plötzlich haben die tektonisch gebauten Figuren Maillols mit der klassischen Architektur zu tun, und der Russische Konstruktivismus borgt sich seine unbändige Kraft von der Gotik und Neogotik. Zehn Kapitel werden aufgeschlagen, und gut dreißig Dialoge werden mehr oder weniger überzeugend in Szene gesetzt.

"Brancusi brachte es ja auf den Punkt, als er 1927 vom Schiff aus erstmals Manhattan sah und rief: Das ist ja wie mein Atelier! Wir haben ihn wörtlich genommen, Brancusi, wir haben Teile dieses Ateliers nachgestellt, nur dass auf den Sockelaufbauten diesmal nicht Skulpturen stehen, sondern wirkliche Architekturmodelle, etwa vom World Trade Center oder eben von der schon erwähnten Gurke aus London und noch andere viele Bekannte aus der neueren Architekturgeschichte."

Doch eben hier liegt das Problem. Eine Skulptur ist ein autonomes Kunstwerk, ein Objekt für das interesselose Wohlgefallen, um es noch einmal mit Kant zu sagen. Ein Gebäude hat dagegen auch immer einen Zweck. Hier wird gearbeitet oder gewohnt, gebetet oder die Freizeit verbracht.

"Die Unterscheidung Architektur ist Funktion und Skulptur ist Autonomie ist ein bisschen langweilig. Und wir haben gedacht, nein, man kann ja das mal ausblenden und sie einfach zusammenbringen und sie auch mal unter einem formalen Aspekt betrachten, wobei die Skulptur ist ja auch Architektur geworden und umgekehrt ist die Architektur heute ja eigentlich völlig skulptural geworden, also das hat sich ausgetauscht, real, in der Praxis."

In Wolfsburg prallen Kunst und Alltag nicht aufeinander. Damit das Kunststück gelingt, wird tief in die Trickkiste gegriffen. Die konkrete Architektur wird solange geschrumpft, bis sie ins Museum passt, denn nur so lassen sich die Architekturmodelle formal und auf gleicher Augenhöhe mit den Skulpturen in Beziehung setzen.

Gleich am Eingang zwischen dem Modell des barocken Schneckenturms von Sant' Ivo in Rom und dem Modell der Cheops-Pyramide hat sich ein Modell des Wolfsburger Kunstmuseums verirrt. Schmuggelware, denn der Museumsbau von Peter Schweger spielt wenn überhaupt in einer ganz anderen Liga. Mithin eine brave Verbeugung gegenüber der Stadt und dem Sponsor, der so vielleicht besser versteht, weshalb er in Wolfsburg das viele Geld ausgibt.

Die Abteilung über die Planung der Retortenstadt Wolfsburg hat ebenfalls ein Legitimationsproblem. Auch hier versteht man nicht wirklich, wie der städtebauliche Diskurs mit dem Thema ArchiSkulptur zusammengehört. Holger Broeker vom Wolfsburger Kunstmuseum.

"Wolfsburg ist für uns jetzt kein Lokalpatriotismus, den wir betreiben, sondern es ist in dem Kontext der Ausstellung, urbane Utopien, diesem Aspekt, letztlich ein Muss, weil Wolfsburg zu den ganz wenigen wirklichen gelungenen städtischen Utopien des 20. Jahrhunderts gehört. Und wir haben diese Stadt dem jetzt gerade begonnenen neuen utopischen Projekt von Gerkan, Marg und Partner gegenübergestellt für die Stadt Lingang, als die Utopie aus einem Guss, die jetzt tatsächlich nahtlos aus dem Wasser durch Aufschüttungen entsteht und bis zum Jahr 2020 die ersten Stufen der Realisierung durchlaufen haben wird."

Ein Tropfen, der auf einer Wasseroberfläche konzentrische Kreise hinterlässt, war die Inspiration für eine städtebauliche Idee. Die Wasserstadt südlich von Schanghai hat aus der Vogelperspektive durchaus skulpturalen Charakter, was man im Fall Wolfsburg beim besten Willen nicht sagen kann.

Schwamm drüber, egal, denn jenseits der kunsthistorischen Thesen und Verrenkungen haben die Skulptur und das kunstvolle Architekturmodell in Wolfsburg einen furiosen Auftritt. Wo sonst trifft man auf engstem Raum auf ein Iglu von Mario März, auf Plastiken von Mailliol und Henry Moore, auf Bilder von René Magritte und Henri Matisse und auf Zeichnungen von Kasimir Malewitsch und Piet Mondrian. Hinzu kommen die Architekturmodelle der Bauten von Erich Mendelsohn und Mies van der Rohe, um bei der willkürlichen Aufzählung beim Buchstaben "M" zu bleiben.

Gründungsdirektor Gijs van Tuyl war ein wunderbarer Zauberer der Popkultur. Sein Nachfolger pflegt den kunsthistorischen Blick. ArchiSkulptur ist die Visitenkarte des neuen Direktors, und schon ist der nächste Rundumschlag geplant. 2007 soll es eine Ausstellung zum Thema Interieur geben, dann kommen Wohnkultur, Kunst und Design auf den Prüfstand. Mal sehen, wie weit das geht. Auf jeden Fall zeigt Markus Brüderlin Mut, mit einem sehr bürgerlichen Programm in einer nicht sehr bürgerlichen Stadt.

Service:

Die Ausstellung "ArchiSkulptur: Dialoge zwischen Architektur und Skulptur vom 18. Jahrhundert bis heute" ist bis zum 2. Juli 2006 im Kunstmuseum Wolfsburg zu sehen.