Funkelnde Orte mit dunklen Ecken

Von Achim Nuhr · 27.07.2011
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch prangert mafiose Wirtschaftsgeflechte in Kasachstan an. Kritiker berichten von korrupten Richtern, die Oppositionelle systematisch ruinieren. Regiert wird das Land von einem Präsidenten, der gerne dem Kult um seine eigene Person huldigt. Mitte der 90er-Jahre schien ihm die damalige Hauptstadt Almaty zu wenig repräsentativ. Als er daraufhin ein unbedeutendes Kaff zur neuen strahlenden Primadonna des Landes aufbauen ließ, wurde den damaligen Bewohnern buchstäblich ihr Haus über dem Kopf abgerissen. Heute wachsen Mitten in der Steppe glitzernde Wolkenkratzer. Astana heißt die neue Hauptstadt Kasachstans. Eindrücke aus einem widersprüchlich schillernden Land.
Eine Taxi-Fahrt durch Almaty überrascht Ortsfremde: Das Stadtzentrum der kasachischen Metropole liegt zu Füßen schneebedeckter Berge. Das Panorama und die gepflegten Bürgerhäuser erinnern an Genf.

Die ehemalige Sowjetrepublik liegt südlich von Russland und Almaty selbst im Süden des Landes – nahe der Grenze zu Kirgistan und China. Der Staat besitzt Öl, viel Öl, und damit auch viel Geld. Neun Prozent der deutschen Ölimporte kommen zurzeit aus Kasachstan. In dem Land herrscht heute ein Kapitalismus zentralasiatischer Prägung: anarchisch und bürokratisiert, wild und despotisch, großstädtisch und provinziell zugleich.

An der Dostyq-Straße, die zu sowjetischen Zeiten noch nach Lenin benannt war, blinken nun die Schilder bekannter Café-Ketten und Sportshops. Doch nur wenig außerhalb des Zentrums sieht es ganz anders aus: erst hohe, funktionale Apartmenttürme, dann, nach nur einer Viertelstunde Fahrt, wird es bedrückend: Das Taxi durchquert einen Rostgürtel heruntergekommener Betriebe, die an Wladiwostok denken lassen. Dann fährt das Taxi von der Straße ab und biegt in einen Schotterweg ein.

Hier hausen die Verlierer des Wirtschaftsbooms. Der Blick fällt auf eine bizarre, planlose Stadtlandschaft: Kreuz und quer stehen Baracken, Rohbauten aus Stein und hölzerne Klohäuschen. Dazwischen türmen sich Schutthaufen. Ein Müllhaufen brennt: Beißender Rauch zieht durch die Slum artige Siedlung, über die gerade ein Flugzeug zieht.

Schanirak heißt diese merkwürdige Gegend, die in Kasachstan landesweit bekannt geworden ist: Denn hier kämpften schon mehrfach Einwohner gegen Polizeitruppen, die die Siedlung räumen wollten. Nun grüßen zwei Frauen, die einer Nichtregierungsorganisation angehören. Diese NGO heißt wie die Siedlung: Schanirak. Ihre Anwälte helfen den Bewohnern, sich zu organisieren. Mit dabei: Bagila Djindobaewa:

"Vor dem ersten Kampf hörten wir damals, dass die Polizei in einer Siedlung hundert Häuser auf einmal abgerissen hatte. Wir waren also gewarnt und stellten Nachtwachen auf. Bald kamen auch bei uns Polizisten anmarschiert, gegen drei Uhr nachts. Alle, aber auch wirklich alle Bewohner kamen aus ihren Häusern. Auch Frauen und Kinder. Und eine richtige Schlacht begann."

Bagila Djindobaewa hat Buchhaltung gelernt und ist jetzt arbeitslos. Sie trägt eine große Sonnenbrille und unter ihrer Jeansjacke nur ein T-Shirt, obwohl das Thermometer sieben Grad zeigt. Nach kurzem Marsch erreicht sie einen Rohbau, den sie "mein Haus" nennt. Dabei stehen nur die Grundmauern: Einige gerade kniehoch, andere reichen bis zur Brust. Der Boden des Hauses ist von Sträuchern überwuchert.

Bagila Djindobaewa beschuldigt die Polizei, nachts heimlich Mauern zu beschädigen und Bausteine zu stehlen. Deshalb würde ihr Haus niemals fertig. Nachts schläft sie meist in einem anderen Stadtviertel bei Verwandten, wo auch ihr Hausrat lagert. Dann ist ihre Baustelle unbeaufsichtigt.

Die Polizei beschreibt die Lage in offiziellen Stellungnahmen völlig anders: Sie zerstöre und stehle nicht. Im Übrigen hätten die Bewohner von Schanirak ihre Siedlung illegal auf besetztem Land errichtet. In vielen anderen Staaten lässt sich die Rechtslage mit Sicherheit schnell klären. Aber nicht in Kasachstan.

"Alles fing damit an, dass hier in Schanirak vor sieben Jahren öffentliches Land zum Verkauf angeboten wurde. Damals habe ich mein Grundstück ganz offiziell von der Stadtverwaltung erworben, so, wie die meisten Bewohner hier. Ich habe im Büro der Stadtverwaltung bar bezahlt - das ist bei uns so üblich. Die Vertreter der Behörde versprachen, einen offiziellen Besitztitel und eine Baugenehmigung zu schicken. Aber beides ist bis heute nicht bei mir angekommen. Stattdessen sagen die Beamten jetzt, dass ich von hier verschwinden und die anderen Anwohner gleich mitnehmen soll."

In Kasachstan ist Barzahlung tatsächlich auch bei hohen Summen üblich. Der Bankensektor hat mit der schnellen wirtschaftlichen Entwicklung nicht mitgehalten und ist in einem desolaten Zustand. Fremde müssen notgedrungen mit widerspenstigen Bankangestellten und Geldautomaten kämpfen, um ihre Devisen gegen einheimische Banknoten zu tauschen. Als Bagila Djindobaewa beim Kauf ihres Grundstücks nur einen Zettel mit einer Unterschrift erhielt, war sie nicht beunruhigt. Nun können sie und andere Betroffenen aus Schanirak nur noch protestieren:

"Wir sind immer wieder gemeinsam zur Stadtverwaltung gezogen: vor das Büro, in dem uns die Grundstücke damals verkauft worden sind. Aber eines Tages wurde dieses Bürohaus abgerissen. Bis heute kann uns niemand sagen, wo die Verantwortlichen jetzt sitzen."

Dabei beschreiben kasachische Politiker gerade den Immobiliensektor des Landes immer wieder als Erfolgsgeschichte. Auch und gerade für kleine Leute, denen öffentliche Wohnungen und Grundstücke billig angeboten würden. Zu diesen Politikern gehört Pavel Kazanzev, dessen Äußerungen von internationalen Presseagenturen aufgegriffen wurden.

"Das Baugewerbe ist die Lokomotive unserer boomenden Wirtschaft. Die Zahl der einheimischen Firmen, die auf Weltniveau bauen, ist in Kasachstan radikal gewachsen: innerhalb von nur fünf Jahren auf das 40-fache. Fast jede dieser Firmen beschäftigt etwa 1000 Menschen. Das bedeutet: neue Arbeitsplätze, neue Technologien. Wir brauchen heutzutage nur noch wenige auswärtige Baufirmen, weil wir mittlerweile fast alles selber können."

Pavel Kazanzev spricht für die Regierungspartei Nur Otan, die im gesamten Land die meisten wichtigen Posten besetzt. Das geht nicht auf wirklich demokratische Strukturen zurück: Denn Wahlen in Kasachstan entsprechen nicht internationalen Standards, wie auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – die OSZE – regelmäßig kritisiert. Das hinderte dieselbe OSZE allerdings im vergangenen Jahr nicht daran, dem Ölstaat für das gesamte Jahr 2010 den Vorsitz der Organisation zu übergeben.

In der Innenstadt von Almaty stehen spektakuläre Neubauten, die den Wirtschaftsboom des Landes symbolisieren sollen. Als besonderes Aushängeschild gilt Nurly-Tau, ein riesiger Glaspalast aus vier einzelnen Wolkenkratzern und vielen kleineren Gebäuden, die ineinander verschachtelt sind. Neue IT-Parks, internationale Hotels und aufwendig sanierte Altbauten vermitteln das europäische Flair, das internationale Investoren anlocken soll. Meist wird in die Höhe gebaut, weil sich die Stadt wegen der anliegenden Berge kaum noch ausdehnen kann. Almatys Infrastruktur wurde von den Sowjets auf 400.000 Einwohner ausgerichtet. Heute wohnen bereits mehr als dreimal so viele Bürger hier, Tendenz: steigend.

Vor der jüngsten Weltwirtschaftskrise lockten jahrelang zweistellige Wachstumsraten Investoren aus aller Welt an. Selbst in den Krisenjahren 2009 und 2010 wuchs die kasachische Wirtschaft, wenn auch nur minimal. Für das laufende Jahr werden von der Regierung schon wieder sieben Prozent angepeilt, was unabhängige Analysten als durchaus realistisch bewerten. Auch der Politiker Pavel Kazanzev zeigte sich optimistisch:

"Unser Bauboom, ja die gesamte wirtschaftliche Entwicklung, beruhen letztlich auf drei Eckpfeilern: Zuerst besitzen wir viele Bodenschätze, allen voran das Öl. Das verkaufen wir zum Wohle der Bevölkerung. Zweitens können wir zu günstigen Bedingungen Geld leihen von internationalen Kreditgebern, weil die uns als äußerst kreditwürdig und seriös einstufen. Aus diesem Grund kommen auch die vielen internationalen Investoren hierher. Und drittens wächst in ganz Kasachstan der Sektor der kleinen und mittleren Unternehmen: Sie tragen bereits deutlich zum nationalen Wohlstand bei."

Die Großkonzerne sind zumeist im Besitz des Staates oder staatsnaher Körperschaften und gelten als unantastbar. Die boomende, moderne Bauwirtschaft des Landes arbeitet weniger für bedürftige Bürger, sondern für in- und ausländische Konzerne sowie für Immobilienspekulanten. Kritische Fragen können sich kasachische Journalisten kaum erlauben: Ansonsten drohen ihnen ruinöse Prozesse, bisweilen sogar körperliche Angriffe, wie Human Rights Watch immer wieder berichtet. Sie verweisen auf ein mafioses Geflecht: Häufigstes Beispiel ist KazMunaiGaz, eine der drei größten Ölgesellschaften Kasachstans, die komplett dem sogenannten "Nationalen Wohlfahrts-Fonds" gehört. Der Fonds mit dem wohlklingenden Namen ist Staatseigentum. Er besitzt – allein oder mehrheitlich - die führenden kasachischen Öl- und Gasgesellschaften, Banken, IT-, Post- und Telekom-Unternehmen, einen Flughafen, eine Fluggesellschaft und vieles mehr. Auf seiner Website nennt der Fonds edle Ziele: natürlich auch, wie der Politiker Pavel Kazanzev, die "Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen", sowie die Förderung des Immobilienmarktes.

Auch die kleinen Leute, meint Pavel Kazanzev, sollten vom Öl und dessen Erlösen profitieren und verweist auf einen Wohnblock in Astana, nördlich von Almaty, wo viel öffentliches Geld investiert wird. Dort sollen Mieter Eigentumswohnungen zu einem subventionierten Sonderpreis erstehen können.

Astana wird zur neuen Hauptstadt Kasachstans ausgebaut, um die Wirtschaftsmetropole Almaty zu entlasten. Auch diese Stadt besticht durch ein funkelndes Zentrum - und durch ein desolates Umfeld, was bereits beim Hineinfahren in die Stadt deutlich wird.

Der von dem Politiker als Vorzeigeobjekt empfohlene Wohnblock steht an der Grenze zwischen Reich und Arm. Früher wurden hier die Wohnungen von einer sowjetischen Behörde verwaltet. Nach der Auflösung der Sowjetunion konnten die ehemaligen Mieter sie zu einem Freundschaftspreis erwerben. Jetzt wirken die Plattenbauten reparaturbedürftig.

Unzählige Satellitenschüsseln stehen auf Balkonen, die nicht trittfest aussehen. Zwischen den Gebäuden liegen auf Freiflächen rostende Spielgeräte und von Unkraut überwucherte Beete. Schulkinder in Uniformen quetschen sich zwischen Autos durch, die kreuz und quer abgestellt wurden. Auf einer Holzbank hockt gemütlich ein Trio, zwei Frauen und ein Mann. Ja, nickt die schwergewichtige Dame, die in der Mitte sitzt, sie besitze hier jetzt eine Wohnung. Doch zufrieden sieht sie dabei nicht aus. Nina Ivanchuk zeigt auf das fünfstöckige Reihenhaus, das gleich hinter ihrer Bank steht:

"Das Problem sind die vielen Schäden an unserem Gebäude und der Umgang unserer Eigentümergemeinschaft damit. Die Bewohner des Erdgeschosses wollen zuerst ein leckes Abwasserrohr reparieren lassen, das bei ihnen entlangläuft. Die Bewohner der Dachgeschosswohnungen bestehen darauf, zuerst das Dach zu erneuern, weil es bei ihnen hineinregnet. Und die Bewohner in der Mitte wollen gar nichts unternehmen und ihr Geld lieber sparen, weil sie der Ansicht sind, dass sie selbst keine Probleme hätten. Deshalb passiert hier nichts."

Neben Nina Ivanchuk sitzt ihr Gatte und raucht: Ein älterer Herr mit Glatze, der müde zu Boden schaut. Zu ihrer Linken eine Nachbarin. Das Trio auf der Bank wirkt nicht gerade wohlhabend: Alle tragen unförmige Kleidung aus Polyester und ausgetretene Schuhe. Nina Ivanchuk trauert ganz offen den sowjetischen Zeiten nach:

"Natürlich war es früher besser, alles war besser. Das Dach und die Abwasserrohre haben nicht geleckt. Gas, Wasser und Strom waren billig. Der Staat hatte genug Geld, um alles in Schuss zu halten. Vielleicht gäbe es ja auch heute noch irgendwelche öffentlichen Kassen, aus denen wir Geld für die Reparaturen an unserem Haus bekommen könnten. Aber wir kennen sie nicht. Jetzt sind wir alle Wohnungsbesitzer, aber jeder schließt sich zu Hause ein. Die Leute machen halt nichts daraus."

Mit ihren Aussagen knüpft sie an die Worte des Regierungspolitikers Kazanzev an, der die "Misere der alten Generation" beklagt. Dabei böte das moderne Kasachstan doch heutzutage viele Möglichkeiten, reichlich Geld zu verdienen und auf eigenen Beinen zu stehen.

"Zwei oder drei Generationen wird es wohl noch brauchen, um eine Marktwirtschaft wie im Westen zu erreichen. Denn heute erinnern sich noch viele Menschen an das alte Sowjetsystem. Viele aus der alten Generation sind bis jetzt gewohnt, vom Staat unterstützt zu werden. Deshalb wird es noch dauern, bis wir eine marktwirtschaftliche Ordnung errichtet und bis sich die Einstellungen geändert haben."

Zudem müssten auch mehr Menschen von dem kasachischen Ölboom profitieren - und die kasachische Gesellschaft müsste demokratischer werden. Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg: Oppositionelle dürften nicht mehr verfolgt, kritische Journalisten nicht mehr mundtot gemacht werden. Die allgegenwärtige Korruption, von der der Clan und die Vertrauten von Präsident Nasarbajew profitieren, müsste bekämpft werden. Doch der autoritär agierende Präsident wurde erst im April wiedergewählt, mit angeblich 96 Prozent der Stimmen.
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