Fundbüro für Menschen
Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Geliebte, Schulfreunde, Sandkastenkumpel - es kann einem so einiges abhanden kommen im Leben. Und man arrangiert sich mit dem irgendwie unvollkommenen Dasein. Doch eines Tages wird sie so groß, diese Sehnsucht nach den Menschen, die man vermisst, dass man sie sucht.
Die Berliner Agentur "Wiedersehen macht Freude" kann dabei helfen. Mehr als 2000 Menschen hat sie schon ausfindig gemacht. "arte" berichtet darüber in einer fünfteiligen Doku-Soap, die vom kommenden Montag bis Freitag (16.-20. Mai) jeweils um 20.15 Uhr ausgestrahlt wird. Und für Deutschlandradio Kultur erzählt Alexa Hennings schon mal vorab Geschichten vom Suchen und Wiederfinden nach langer Zeit, also aus dem "Fundbüro für Menschen".
" Im Moment sitze ich vor meinem leeren Briefbogen und suche verzweifelt nach dem richtigen Anfang. Mein Innenleben ist etwas durcheinander geraten. Ein Familienzuwachs über Nacht zu bekommen, ist auch nicht gerade alltäglich. Zumal 50 Jahre zu überbrücken sind. Daran muss man sich erstmal gewöhnen. Ich kann mich nicht erinnern, dich jemals in dem Arm gehalten zu haben. Und nun - ja, und nun darf ich das nachholen. "
Ein Brief. Ein Brief vom Vater. Die ersten Zeilen seit fast 50 Jahren an sie, die Tochter. Sylvia Fischer hält das Blatt in der Hand und kann es noch immer nicht so richtig glauben. Die Berlinerin hatte den Wunsch, ihren Vater zu finden, fast schon begraben in ihrem Herzen. Es schien aussichtslos, ihn jemals zu finden. Ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie noch ein Baby war. Ihre Mutter hatte keinen Kontakt mehr zum Vater ihres Kindes.
Fischer: "Also, das sind die zwei Fotos. Ich da im Kinderwagen und das Hochzeitsfoto. Und das sind meine Großeltern. Mein Vater kennt selbst seine Mutter und seinen Vater nicht, und das sind seine Adoptiveltern und meine, sagen wir mal, unechten Großeltern. So, und jetzt gucke ich mal, ob ich diesen Brief finde. Ich hab' das hier alles abgeheftet ... "
Wie oft mag sich das Mädchen Sylvia wohl dieses Hochzeitsfoto angesehen haben? Die Züge des Vaters studiert, nach Ähnlichkeiten gesucht, das "Warum" und die Sehnsucht im Herzen? Irgendwann hielt es das Mädchen nicht mehr aus.
Fischer: "... also, hier ist mein Brief. Das habe ich geschrieben am 24. November 1972. Da war ich 17. Und da habe ich geschrieben an den Landesnachforschungsdienst des DRK. Ich habe geschrieben: Ich möchte sie bitten, aus persönlichem und familiärem Interesse den jetzigen Aufenthaltsort meines Vaters ausfindig zu machen. Und dann schreibe ich: Sollten Sie meinen Vater ausfindig machen, teilen Sie mir bitte nur seine Anschrift mit, ohne ihn zu benachrichtigen. Da wollte ich glaube ich nicht, dass - ich weiß nicht mehr, was ich damals gedacht habe, aber ich wollte lieber erstmal ganz vorsichtig sein, weil ich ja nicht wusste, was ist aus ihm geworden. "
Sylvia Fischer bekam damals keine Antwort vom Deutschen Roten Kreuz. Sie musste sich damit abfinden. Zehn Jahre nach dem vergeblichen Brief versuchte Sylvia Fischer ihr Glück bei einem befreundeten Rechtsanwalt. Der konnte die Spur des Vaters zwar aufnehmen, aber er verlor sie in Worms. Irgendwann trieb es die Tochter auf Vatersuche auch zu einer Wahrsagerin. Die prophezeite ihr, "der Knoten werde sich nicht lösen". Das glaube ich nicht, dachte sie damals trotzig, aber mehr als der Glaube blieb ihr nicht. Bis ihr eines Tages in Berlin ein Mann begegnete, der ihr sagte, er arbeite in einer Agentur, die "Wiedersehen macht Freude" heißt.
Fischer: "Ich dachte: Na, das ist ein Wink des Schicksals. Jetzt gehst du noch mal in die Vollen und suchst deinen Vater. Oder: lässt deinen Vater noch mal suchen. "
"Ich habe an meinem 49. Geburtstag morgens mit meiner Freundin telefoniert. Wir haben hier keine Hausbriefkästen, das heißt, der Postbote komm nach oben. Es war frühmorgens, ich hatte noch den Bademantel an und hörte den Briefschlitz klackern. Mit dem Telefonhörer bin ich dahin gelaufen, habe den Brief aufgehoben, habe gesehen: Aha, von der Agentur Wiedersehen macht Freude. Na ja, irgendwie dachte ich: Jetzt kommt die Absage, leider konnten wir Ihren Vater nicht finden. Ich mach den Brief auf und lese, und meine Freundin am Telefon sagt: Mein Gott, ich krieg Gänsehaut. Und ich sag: Ich hab jetzt auch Gänsehaut - lacht. Mein Gott, und da stand wirklich nach 49 Jahren die Adresse und die Telefonnummer meines Vaters! "
Ein paar Wochen später treffen sich die beiden. Warum haben wir uns bloß so lange nicht gesehen? In diesem Satz lag kein Vorwurf, erzählt die Tochter. Die Vorwürfe hatten die Jahre begraben. Was jetzt zählte, war die Gewissheit, eine späte Rückversicherung des eigenen Daseins.
Fischer: "Was ich gemerkt habe, ist, nachdem ich meinen Vater gefunden hatte, ich ihn gesehen und gespürt habe, dass da einfach Frieden ist. Alle diese Fragen waren plötzlich beantwortet. Und ich hatte das Gefühl, da floss mir ganz viel Energie zu, die vorher verwendet wurde für diese ganzen Fragezeichen. Ich fühlte mich ein Stück heiler, kompletter, ganzer. Die Energie ist jetzt frei für andere Dinge. Ich muss mich damit nicht mehr geistig beschäftigen, und dieser weiße Fleck auf meiner Landkarte der ist jetzt farbig. Ich finde es einfach toll, dass es so eine Agentur gibt, das ist von unschätzbarem Wert. Also, kann ich nur jedem Menschen empfehlen, der Angehörige sucht, sich mal an so eine Agentur zu wenden. "
"Agentur, Telefonat: Landratsamt Ludwigsburg, guten Tag! - Panter, guten Tag, kann ich bitte die Adoptionsvermittlungsstelle sprechen? - Ich gebe Ihnen die Durchwahl, ab 13.30 Uhr erreichen Sie dort wieder jemanden ... "
Wie viele solcher Telefonate am Tag sie führt, kann Susanne Panter gar nicht genau sagen. Das Telefon ist neben dem Computer ihr wichtigstes Arbeitsmittel: Susanne Panter betreibt in Berlin unter dem Namen "Wiedersehen macht Freude" eine Agentur für verloren gegangene Menschen. Sie war es, die nach einem Jahr mühevoller Recherche Silvia Fischers Vater ausfindig machte. Manche Suchen dauern sogar noch länger, aber die 36-jährige lässt nicht locker. Oft scheint ein Erfolg aussichtslos, vor allem wegen einiger Gesetze, die zum Beispiel Geschwistern oder Adoptierten verweigern, Unterlagen beim Standesamt einzusehen.
Panter: "Aber ich weiß, dass wir viele dann doch mit unserer Terriermentalität, dass wir uns da einfach so festbeißen, nicht loslassen und wir uns dann einfach über ein paar andere Wege die Informationen holen. Und es gibt ja auch Standesbeamte - eine kann ich da zitieren, die sagte: Wenn die sich finden wollen, dann finden die sich auch! Und dann war keiner in dem Raum und dann hat sie halt gesagt: Ja, die Schwester hat da und da geheiratet. So halt, das geht dann. Die bewegen sich da außerhalb des Gesetzes, das kann man keinem zumuten, aber letzten Endes, wenn die dann mit ihrer Hand an die linke Brust fassen, da schlägt dann doch ein Herz. "
Eigentlich hatte Susanne Panter ihre Agentur gegründet, um Ehemaligen-Treffen aller Art zu organisieren. Das Treffen der eigenen Kinderladen-Gruppe war ihre erste Recherche. Doch bald stellte sich heraus, da"" die Bedürfnisse woanders lagen: Viele Menschen suchten ihre Mütter und Väter, ihre Geschwister oder Halbgeschwister. 2000 Fälle hat Susanne Panter in fünf Jahren schon gelöst. Einige Geschichten sind unvergesslich für sie.
Panter: "Wenn man jemanden anruft und sagt, dass seine leiblichen Kinder ihn suchen - das war im Ausland - und die Reaktion war unvergesslich für mich, weil diese Frau schlicht zusammengebrochen ist am anderen Ende am Telefon. Sie meinte: Ich habe keine Kinder. Aber wie? Doch! Sie haben Sie doch zur Adoption frei gegeben! Nein, meine Kinder sind totgeboren worden! Mein Vater hat mir gesagt, dass meine Kinder totgeboren wurden, zwei Zwillinge! Da hat also der Vater die Kinder - sie war noch nicht volljährig bei der Geburt - da hat er die zur Adoption freigegeben und hat der Dame erzählt, dass die Kinder bei der Geburt gestorben sind! Das sind so Momente, da erinnere ich mich dann. Das ist schon heftig. "
Mütter, die nichts von ihren Kindern wissen, weil man sie belogen hat. Geschwister, die auseinander gerissen wurden. Väter oder Mütter, die nichts von ihren Kindern wissen wollen, weil sie sie aus ihren Herzen verdrängt haben oder verdrängen mussten. Susanne Panter hat schon fast alles erlebt, was es geben kann. Und sie hat erfahren, dass man den Menschen Zeit geben muss, sich mit dem Gedanken eines Wiedersehens anzufreunden und ihnen auch das Recht zugestehen muss, es abzulehnen - so traurig das für den Suchenden ist.
Panter: "Das ist natürlich auch ein Lernprozess gewesen bei uns. Es gab Situationen, wo wir z.B. bei leiblichen Müttern angerufen haben - was wir jetzt nur noch schriftlich machen - dass da eine Reaktion kam wie: Nein, da möchte ich nichts mit zu tun haben. Und das ist ja auch logisch. Die haben das oft jahrelang verdrängt, und da ruft ein wildfremder Mensch aus heiterem Himmel, vielleicht in einer unmöglichen Situation, an und sagt: Ihr leibliches Kind möchte gern Kontakt haben. Und da ist es ja klar, dass man Zeit braucht, um sich damit erstmal auseinanderzusetzen. Das ist auch schon passiert und wir haben schnell gelernt, dass das so nicht geht. Und die Konsequenz daraus ist, dass wir die Kontaktanbahnung durch entsprechende Fachkräfte machen lassen wollen. "
Schon jetzt arbeitet Susanne Panter mit ehrenamtlichen Familientherapeuten zusammen, und nun wird gerade ein Verein gegründet, der sich vor allem dem Thema Identitätssuche widmen und die Suchenden und Gesuchten beraten soll. Nach so komplizierten Aufgaben und aufwühlenden Recherchen wendet sich die Wiedersehens-Expertin immer wieder gern den leichteren Themen zu: Den Schulfreunden und der ersten Liebe, den Freunden aus der Studien- oder Lehrzeit, aus dem Kindergarten, vom Wehrdienst oder einer früheren Arbeitsstelle.
Panter: "... Ja, Dahl. - Panter, guten Tag. Ich ruf von einem Personensuchdienst an, wir suchen einen Till Dahl, der aus Dresden kommt ursprünglich. Jetzt hoffe ich, dass ich vielleicht ein Familienmitglied - nee, bei uns nicht! Wir haben mit denen nischt zu tun. Aber die auf der CDF-Straße, da könnte sein, dass da ein Till dabei war. Der müsste jetzt so um die 40 sei? - Ja, Ja! Meinen Sie, dass es noch andere Familienmitglieder gibt? - Hm...tippen... "
Eine Sysiphos-Arbeit. Wenn alles Telefonieren und Schreiben, alle Internetrecherche und Ämternachfragen nichts helfen, lässt Susanne Panter auch gern mal Aushänge machen: Im ehemaligen Betrieb, beim Friseur oder in der Kneipe um die Ecke - an dem Ort, wo sich die Spur verliert. Die meisten Gefundenen freuen sich, dass jemand sie sucht und stimmen gern zu, dass der Suchende ihre Adresse bekommt. Ohne diese Zustimmung gibt Susanne Panter keine Daten weiter, denn der Name der Agentur, "Wiedersehen macht Freude" ist Programm. Ein paar kleine Peinlichkeiten sind natürlich nicht ausgeschlossen.
Panter: "Was peinlich ist, oder wo man dann auch gefragt ist, das diplomatisch dem Suchenden beizubringen, wenn jemand aus einer Liebschaft heraus ganz heiße Erinnerungen hat an die gesuchte Person - und die erinnert sich gar nicht mehr. So: Gott, wer war denn das damals? - lacht. Das ist natürlich dann blöd. Aber oft ist es auch so, dass es ganz süß ist. Dass sie sagen: Ach nein, ich habe auch schon gesucht! Das ist oft, dass die sich auch schon gesucht haben. Das sind dann so Momente, wo ich meinen Job einfach liebe. Wo ich denke: Super - lacht. "
Eine dieser Sternstunden gab es im vergangenen Jahr: Die Suche nach einem Herbert Johnson. 44 000 Mal gibt es den Namen in den USA - und nur einer ist der richtige. Ein Soldat, der 1946 in Berlin Vater wurde, die Tochter suchte ihn. Nach zwei Jahren hatte ihn Susanne Panter gefunden, und es stellte sich heraus, dass er selbst schon erfolglos nach seinem Kind gesucht hatte. Ein typischer Fall.
Panter: "Ich habe keine Statistik geführt, aber vom Gefühl her glaube ich, dass es eher ältere Leute sind, die Dinge in ihrem Leben noch abschließen wollen. Oder Menschen, die gerade an irgendwelchen Wendepunkten im Leben stehen, Familiengründung zum Beispiel. Es gibt auch den Effekt, dass der Kontakt nicht intensiv weiter gepflegt wird. Ich vermute, dass es einige sind, die dann, nachdem sie sich 40 Jahre nicht gesehen haben und dann wieder sehen, dass sich dann der Kontakt wieder verläuft. Das gibt es bestimmt ganz oft. Und dennoch, auch wenn es vielleicht sogar enttäuschend war das erste Treffen, hat man doch einen Knopf dran gemacht für sich. Weil, dann läuft man 40 Jahre mit dieser Erinnerung herum und diesem Denken, was ist wohl daraus geworden? Wie hat er sich wohl entwickelt und hat er mir das und das verzeihen? Damit läuft man so rum, und dann kann man damit halt abschließen. Das ist oft mehr die Motivation. Ich glaube, es ist oft nicht so sehr die Motivation: Mit dem möchte ich mich jetzt wieder jeden Tag treffen wie früher. Sondern, ich möchte ein Kapitel in meinem Herzen einfach abschließen. "
Ein Kapitel abschließen. Das war es, was die Brandenburgerin Anne-Kathrin Steinig wollte. Immer wieder gingen ihre Gedanken zurück in die Mitte der 70er Jahre, zurück zu ihrer großen Jugendliebe Christian. Mit 17 hatte sie ihn getroffen, sie lernte damals Kinderkrankenschwester, er hatte seinen Polizeidienst begonnen. Die beiden wohnten drei Jahre zusammen im Haus ihrer Eltern. Bis es immer öfter Streit gab, denn der junge Mann hatte einige Male einen über den Durst getrunken. An die Nacht, die sie vor fast 30 Jahren trennte, erinnert sich Anne-Kathrin Steinig bis ins Detail.
Steinig: "Tagelang kam er dann nicht mehr zu uns und wir hatten uns echt Sorgen gemacht, wo er ist. Und dann kam er ein bisschen mehr als angeheitert zu uns nach Haus. Es war schon mitten in der Nacht, und ich war schon richtig bösartig in dem Moment: Wo kommst du jetzt her? Wir machen uns Sorgen! Was willst du eigentlich? Komm, pfeif ab, mach dass du raus kommst! War eigentlich mein Fehler -- war der größte Fehler überhaupt. - Tja, und dann war er weg. "
Eigentlich hat sie ihn immer schon gesucht. Bald nach dem Streit ging sie zu seiner Polizeidienststelle und bekam nur die Auskunft: Versetzt, wohin, sagen wir nicht. DDR der 70er Jahre. Vorschriften gehen vor Gefühle. Die Brandenburgerin heiratet irgendwann einen anderen, bekommt drei Kinder. Nennt ihren jüngsten Sohn Christian. Hofft nach der Wende, die West-Polizei würde sich kooperativer zeigen. Fehlanzeige, keine Auskunft. Ein eng beschriebenes Blatt liegt vor ihr, darauf hat sie alle Namen und Telefonnummern ihrer vergeblichen Suche notiert. Bis ihre Mutter in einer Zeitung auf die Nummer der Wiedersehens-Agentur stieß. Nach wenigen Wochen hatte Susanne Panter den Polizisten ausfindig gemacht.
Steinig "... da ist der erste Brief, der ist vom 2.9. Da steht drin: "Aus Liebe zu dir, Kathrin, habe ich mich damals von Rostock nach Brandenburg versetzen lassen. Deine Mutter sagte einmal zu mir, dass ich um dich zu kämpfen hätte. Diese Worte habe ich erst später verstanden. Mit dieser Situation bin ich damals nicht fertig geworden." - Und jetzt kommt der Grund, warum es damals endgültig auseinander gegangen ist: "Das soll aber keine Entschuldigung" - wortwörtlich jetzt, nicht mein Begriff - "für das Saufen sein, denn mit Schnaps konnte man nie solche Probleme lösen. Wir hätten darüber sprechen sollen, um eine Lösung zu finden. Nach dem unüberlegten Weggang musste ich einsehen, dass es ein großer Fehler von mir war. Für mein Verhalten möchte ich mich bei dir und deinen Eltern entschuldigen." "
Eine Entschuldigung nach Jahrzehnten. Ein erwachsener Mann, inzwischen ranghoher Kriminalpolizist, scheint genauso an dem lange zurückliegenden Ereignis zu tragen wie sie. Nachdem die ersten Briefe gewechselt waren, klingelt plötzlich Anne-Kathrin Steinigs Handy. Sie ist, wie so oft, gerade bei ihren Eltern zu Besuch, die nur um die Ecke wohnen. Christian sagt, er habe gerade in der Gegend zu tun und sei mit seinem Kollegen in einer Stunde da.
Steinig: "Sagt er: Können wir uns bei deinen Eltern treffen? Ich sage: Ich bin schon bei meinen Eltern, du musst nur noch kommen! Ja. Okay. Und eine Stunde später war er wirklich da. Und so haben wir uns dann das erste Mal bei meinen Eltern wieder getroffen.
Man weiß auch gar nicht in der Situation, gehst du jetzt langsam auf ihn zu? Bist du distanziert? Rennst du und nimmst ihn in die Arme? Oder Händedruck? Man ist wirklich aufgeregt, als ob man noch ein Teeny ist. Alles spielt sich in Sekunden ab: Was machst Du jetzt? "
Dieses Wiedersehen ist wie eine Befreiung: Die Schuldgefühle, die jahrelang drückten, und die man vergeblich aus seinem Kopf verbannen wollte, können endlich eingestanden werden. Und damit sind sie weg, erledigt, man fühlt sich von einer Last befreit. Vater, Mutter und die beiden einst jungen Leute, die jetzt schon selbst längst Vater und Mutter sind.
Steinig: "Durch seinen spontanen Sprung über das Gartentor hat er sich einfach nicht getraut, zu meinen Eltern hinzufahren. Ich sag: Warum denn nicht? Na ja, weil ich nicht wusste, sind sie denn nun böse, wollen sie mich überhaupt noch sehen? Dieses Gefühl, was er in dem Moment hatte, ist eigentlich das Gefühl eines großen Jungen. In ihm hat es genauso gearbeitet, und deswegen hat er sich auch nie vorbeigetraut und ist immer die Strecke Richtung Genthin geradeaus weiter gefahren. "
Die Angst ist ein großes Gefühl beim Wiedersehen, so groß wie die Sehnsucht nach Vergebung. Als Christian mit dem Fast-Schwiegervater von einst 30 Jahre später in den Garten geht, bleiben sie vor einer grauen Betonplatte stehen. Es ist ein Fundament, das sie damals gemeinsam bauten. Das geplante Grillhäuschen darauf wurde nie begonnen. Der alte Mann nimmt den Jüngeren am Arm.
Steinig: "Und da sagte mein Vater: Diese Fundamentplatte müssen wir im Sommer abreißen! Und das fand ich so herrlich, wie er das ihm gegenüber gesagt hat: Du musst noch mal kommen, die Fundamentplatte muss weg! "
Ob etwas Neues entsteht - ein neues Fundament oder eine neue Liebe, ist in dieser Geschichte noch unentschieden. Aber darauf kommt es vielleicht beim Wiedersehen auch gar nicht so an. Altes ins Reine zu bringen, das ist das Wichtigste. Neues kann eine Nebenwirkung sein. Risiken sind nirgends nachzulesen. Wiedersehen haben in der Regel keine Verpackungsbeilage.
" Im Moment sitze ich vor meinem leeren Briefbogen und suche verzweifelt nach dem richtigen Anfang. Mein Innenleben ist etwas durcheinander geraten. Ein Familienzuwachs über Nacht zu bekommen, ist auch nicht gerade alltäglich. Zumal 50 Jahre zu überbrücken sind. Daran muss man sich erstmal gewöhnen. Ich kann mich nicht erinnern, dich jemals in dem Arm gehalten zu haben. Und nun - ja, und nun darf ich das nachholen. "
Ein Brief. Ein Brief vom Vater. Die ersten Zeilen seit fast 50 Jahren an sie, die Tochter. Sylvia Fischer hält das Blatt in der Hand und kann es noch immer nicht so richtig glauben. Die Berlinerin hatte den Wunsch, ihren Vater zu finden, fast schon begraben in ihrem Herzen. Es schien aussichtslos, ihn jemals zu finden. Ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie noch ein Baby war. Ihre Mutter hatte keinen Kontakt mehr zum Vater ihres Kindes.
Fischer: "Also, das sind die zwei Fotos. Ich da im Kinderwagen und das Hochzeitsfoto. Und das sind meine Großeltern. Mein Vater kennt selbst seine Mutter und seinen Vater nicht, und das sind seine Adoptiveltern und meine, sagen wir mal, unechten Großeltern. So, und jetzt gucke ich mal, ob ich diesen Brief finde. Ich hab' das hier alles abgeheftet ... "
Wie oft mag sich das Mädchen Sylvia wohl dieses Hochzeitsfoto angesehen haben? Die Züge des Vaters studiert, nach Ähnlichkeiten gesucht, das "Warum" und die Sehnsucht im Herzen? Irgendwann hielt es das Mädchen nicht mehr aus.
Fischer: "... also, hier ist mein Brief. Das habe ich geschrieben am 24. November 1972. Da war ich 17. Und da habe ich geschrieben an den Landesnachforschungsdienst des DRK. Ich habe geschrieben: Ich möchte sie bitten, aus persönlichem und familiärem Interesse den jetzigen Aufenthaltsort meines Vaters ausfindig zu machen. Und dann schreibe ich: Sollten Sie meinen Vater ausfindig machen, teilen Sie mir bitte nur seine Anschrift mit, ohne ihn zu benachrichtigen. Da wollte ich glaube ich nicht, dass - ich weiß nicht mehr, was ich damals gedacht habe, aber ich wollte lieber erstmal ganz vorsichtig sein, weil ich ja nicht wusste, was ist aus ihm geworden. "
Sylvia Fischer bekam damals keine Antwort vom Deutschen Roten Kreuz. Sie musste sich damit abfinden. Zehn Jahre nach dem vergeblichen Brief versuchte Sylvia Fischer ihr Glück bei einem befreundeten Rechtsanwalt. Der konnte die Spur des Vaters zwar aufnehmen, aber er verlor sie in Worms. Irgendwann trieb es die Tochter auf Vatersuche auch zu einer Wahrsagerin. Die prophezeite ihr, "der Knoten werde sich nicht lösen". Das glaube ich nicht, dachte sie damals trotzig, aber mehr als der Glaube blieb ihr nicht. Bis ihr eines Tages in Berlin ein Mann begegnete, der ihr sagte, er arbeite in einer Agentur, die "Wiedersehen macht Freude" heißt.
Fischer: "Ich dachte: Na, das ist ein Wink des Schicksals. Jetzt gehst du noch mal in die Vollen und suchst deinen Vater. Oder: lässt deinen Vater noch mal suchen. "
"Ich habe an meinem 49. Geburtstag morgens mit meiner Freundin telefoniert. Wir haben hier keine Hausbriefkästen, das heißt, der Postbote komm nach oben. Es war frühmorgens, ich hatte noch den Bademantel an und hörte den Briefschlitz klackern. Mit dem Telefonhörer bin ich dahin gelaufen, habe den Brief aufgehoben, habe gesehen: Aha, von der Agentur Wiedersehen macht Freude. Na ja, irgendwie dachte ich: Jetzt kommt die Absage, leider konnten wir Ihren Vater nicht finden. Ich mach den Brief auf und lese, und meine Freundin am Telefon sagt: Mein Gott, ich krieg Gänsehaut. Und ich sag: Ich hab jetzt auch Gänsehaut - lacht. Mein Gott, und da stand wirklich nach 49 Jahren die Adresse und die Telefonnummer meines Vaters! "
Ein paar Wochen später treffen sich die beiden. Warum haben wir uns bloß so lange nicht gesehen? In diesem Satz lag kein Vorwurf, erzählt die Tochter. Die Vorwürfe hatten die Jahre begraben. Was jetzt zählte, war die Gewissheit, eine späte Rückversicherung des eigenen Daseins.
Fischer: "Was ich gemerkt habe, ist, nachdem ich meinen Vater gefunden hatte, ich ihn gesehen und gespürt habe, dass da einfach Frieden ist. Alle diese Fragen waren plötzlich beantwortet. Und ich hatte das Gefühl, da floss mir ganz viel Energie zu, die vorher verwendet wurde für diese ganzen Fragezeichen. Ich fühlte mich ein Stück heiler, kompletter, ganzer. Die Energie ist jetzt frei für andere Dinge. Ich muss mich damit nicht mehr geistig beschäftigen, und dieser weiße Fleck auf meiner Landkarte der ist jetzt farbig. Ich finde es einfach toll, dass es so eine Agentur gibt, das ist von unschätzbarem Wert. Also, kann ich nur jedem Menschen empfehlen, der Angehörige sucht, sich mal an so eine Agentur zu wenden. "
"Agentur, Telefonat: Landratsamt Ludwigsburg, guten Tag! - Panter, guten Tag, kann ich bitte die Adoptionsvermittlungsstelle sprechen? - Ich gebe Ihnen die Durchwahl, ab 13.30 Uhr erreichen Sie dort wieder jemanden ... "
Wie viele solcher Telefonate am Tag sie führt, kann Susanne Panter gar nicht genau sagen. Das Telefon ist neben dem Computer ihr wichtigstes Arbeitsmittel: Susanne Panter betreibt in Berlin unter dem Namen "Wiedersehen macht Freude" eine Agentur für verloren gegangene Menschen. Sie war es, die nach einem Jahr mühevoller Recherche Silvia Fischers Vater ausfindig machte. Manche Suchen dauern sogar noch länger, aber die 36-jährige lässt nicht locker. Oft scheint ein Erfolg aussichtslos, vor allem wegen einiger Gesetze, die zum Beispiel Geschwistern oder Adoptierten verweigern, Unterlagen beim Standesamt einzusehen.
Panter: "Aber ich weiß, dass wir viele dann doch mit unserer Terriermentalität, dass wir uns da einfach so festbeißen, nicht loslassen und wir uns dann einfach über ein paar andere Wege die Informationen holen. Und es gibt ja auch Standesbeamte - eine kann ich da zitieren, die sagte: Wenn die sich finden wollen, dann finden die sich auch! Und dann war keiner in dem Raum und dann hat sie halt gesagt: Ja, die Schwester hat da und da geheiratet. So halt, das geht dann. Die bewegen sich da außerhalb des Gesetzes, das kann man keinem zumuten, aber letzten Endes, wenn die dann mit ihrer Hand an die linke Brust fassen, da schlägt dann doch ein Herz. "
Eigentlich hatte Susanne Panter ihre Agentur gegründet, um Ehemaligen-Treffen aller Art zu organisieren. Das Treffen der eigenen Kinderladen-Gruppe war ihre erste Recherche. Doch bald stellte sich heraus, da"" die Bedürfnisse woanders lagen: Viele Menschen suchten ihre Mütter und Väter, ihre Geschwister oder Halbgeschwister. 2000 Fälle hat Susanne Panter in fünf Jahren schon gelöst. Einige Geschichten sind unvergesslich für sie.
Panter: "Wenn man jemanden anruft und sagt, dass seine leiblichen Kinder ihn suchen - das war im Ausland - und die Reaktion war unvergesslich für mich, weil diese Frau schlicht zusammengebrochen ist am anderen Ende am Telefon. Sie meinte: Ich habe keine Kinder. Aber wie? Doch! Sie haben Sie doch zur Adoption frei gegeben! Nein, meine Kinder sind totgeboren worden! Mein Vater hat mir gesagt, dass meine Kinder totgeboren wurden, zwei Zwillinge! Da hat also der Vater die Kinder - sie war noch nicht volljährig bei der Geburt - da hat er die zur Adoption freigegeben und hat der Dame erzählt, dass die Kinder bei der Geburt gestorben sind! Das sind so Momente, da erinnere ich mich dann. Das ist schon heftig. "
Mütter, die nichts von ihren Kindern wissen, weil man sie belogen hat. Geschwister, die auseinander gerissen wurden. Väter oder Mütter, die nichts von ihren Kindern wissen wollen, weil sie sie aus ihren Herzen verdrängt haben oder verdrängen mussten. Susanne Panter hat schon fast alles erlebt, was es geben kann. Und sie hat erfahren, dass man den Menschen Zeit geben muss, sich mit dem Gedanken eines Wiedersehens anzufreunden und ihnen auch das Recht zugestehen muss, es abzulehnen - so traurig das für den Suchenden ist.
Panter: "Das ist natürlich auch ein Lernprozess gewesen bei uns. Es gab Situationen, wo wir z.B. bei leiblichen Müttern angerufen haben - was wir jetzt nur noch schriftlich machen - dass da eine Reaktion kam wie: Nein, da möchte ich nichts mit zu tun haben. Und das ist ja auch logisch. Die haben das oft jahrelang verdrängt, und da ruft ein wildfremder Mensch aus heiterem Himmel, vielleicht in einer unmöglichen Situation, an und sagt: Ihr leibliches Kind möchte gern Kontakt haben. Und da ist es ja klar, dass man Zeit braucht, um sich damit erstmal auseinanderzusetzen. Das ist auch schon passiert und wir haben schnell gelernt, dass das so nicht geht. Und die Konsequenz daraus ist, dass wir die Kontaktanbahnung durch entsprechende Fachkräfte machen lassen wollen. "
Schon jetzt arbeitet Susanne Panter mit ehrenamtlichen Familientherapeuten zusammen, und nun wird gerade ein Verein gegründet, der sich vor allem dem Thema Identitätssuche widmen und die Suchenden und Gesuchten beraten soll. Nach so komplizierten Aufgaben und aufwühlenden Recherchen wendet sich die Wiedersehens-Expertin immer wieder gern den leichteren Themen zu: Den Schulfreunden und der ersten Liebe, den Freunden aus der Studien- oder Lehrzeit, aus dem Kindergarten, vom Wehrdienst oder einer früheren Arbeitsstelle.
Panter: "... Ja, Dahl. - Panter, guten Tag. Ich ruf von einem Personensuchdienst an, wir suchen einen Till Dahl, der aus Dresden kommt ursprünglich. Jetzt hoffe ich, dass ich vielleicht ein Familienmitglied - nee, bei uns nicht! Wir haben mit denen nischt zu tun. Aber die auf der CDF-Straße, da könnte sein, dass da ein Till dabei war. Der müsste jetzt so um die 40 sei? - Ja, Ja! Meinen Sie, dass es noch andere Familienmitglieder gibt? - Hm...tippen... "
Eine Sysiphos-Arbeit. Wenn alles Telefonieren und Schreiben, alle Internetrecherche und Ämternachfragen nichts helfen, lässt Susanne Panter auch gern mal Aushänge machen: Im ehemaligen Betrieb, beim Friseur oder in der Kneipe um die Ecke - an dem Ort, wo sich die Spur verliert. Die meisten Gefundenen freuen sich, dass jemand sie sucht und stimmen gern zu, dass der Suchende ihre Adresse bekommt. Ohne diese Zustimmung gibt Susanne Panter keine Daten weiter, denn der Name der Agentur, "Wiedersehen macht Freude" ist Programm. Ein paar kleine Peinlichkeiten sind natürlich nicht ausgeschlossen.
Panter: "Was peinlich ist, oder wo man dann auch gefragt ist, das diplomatisch dem Suchenden beizubringen, wenn jemand aus einer Liebschaft heraus ganz heiße Erinnerungen hat an die gesuchte Person - und die erinnert sich gar nicht mehr. So: Gott, wer war denn das damals? - lacht. Das ist natürlich dann blöd. Aber oft ist es auch so, dass es ganz süß ist. Dass sie sagen: Ach nein, ich habe auch schon gesucht! Das ist oft, dass die sich auch schon gesucht haben. Das sind dann so Momente, wo ich meinen Job einfach liebe. Wo ich denke: Super - lacht. "
Eine dieser Sternstunden gab es im vergangenen Jahr: Die Suche nach einem Herbert Johnson. 44 000 Mal gibt es den Namen in den USA - und nur einer ist der richtige. Ein Soldat, der 1946 in Berlin Vater wurde, die Tochter suchte ihn. Nach zwei Jahren hatte ihn Susanne Panter gefunden, und es stellte sich heraus, dass er selbst schon erfolglos nach seinem Kind gesucht hatte. Ein typischer Fall.
Panter: "Ich habe keine Statistik geführt, aber vom Gefühl her glaube ich, dass es eher ältere Leute sind, die Dinge in ihrem Leben noch abschließen wollen. Oder Menschen, die gerade an irgendwelchen Wendepunkten im Leben stehen, Familiengründung zum Beispiel. Es gibt auch den Effekt, dass der Kontakt nicht intensiv weiter gepflegt wird. Ich vermute, dass es einige sind, die dann, nachdem sie sich 40 Jahre nicht gesehen haben und dann wieder sehen, dass sich dann der Kontakt wieder verläuft. Das gibt es bestimmt ganz oft. Und dennoch, auch wenn es vielleicht sogar enttäuschend war das erste Treffen, hat man doch einen Knopf dran gemacht für sich. Weil, dann läuft man 40 Jahre mit dieser Erinnerung herum und diesem Denken, was ist wohl daraus geworden? Wie hat er sich wohl entwickelt und hat er mir das und das verzeihen? Damit läuft man so rum, und dann kann man damit halt abschließen. Das ist oft mehr die Motivation. Ich glaube, es ist oft nicht so sehr die Motivation: Mit dem möchte ich mich jetzt wieder jeden Tag treffen wie früher. Sondern, ich möchte ein Kapitel in meinem Herzen einfach abschließen. "
Ein Kapitel abschließen. Das war es, was die Brandenburgerin Anne-Kathrin Steinig wollte. Immer wieder gingen ihre Gedanken zurück in die Mitte der 70er Jahre, zurück zu ihrer großen Jugendliebe Christian. Mit 17 hatte sie ihn getroffen, sie lernte damals Kinderkrankenschwester, er hatte seinen Polizeidienst begonnen. Die beiden wohnten drei Jahre zusammen im Haus ihrer Eltern. Bis es immer öfter Streit gab, denn der junge Mann hatte einige Male einen über den Durst getrunken. An die Nacht, die sie vor fast 30 Jahren trennte, erinnert sich Anne-Kathrin Steinig bis ins Detail.
Steinig: "Tagelang kam er dann nicht mehr zu uns und wir hatten uns echt Sorgen gemacht, wo er ist. Und dann kam er ein bisschen mehr als angeheitert zu uns nach Haus. Es war schon mitten in der Nacht, und ich war schon richtig bösartig in dem Moment: Wo kommst du jetzt her? Wir machen uns Sorgen! Was willst du eigentlich? Komm, pfeif ab, mach dass du raus kommst! War eigentlich mein Fehler -- war der größte Fehler überhaupt. - Tja, und dann war er weg. "
Eigentlich hat sie ihn immer schon gesucht. Bald nach dem Streit ging sie zu seiner Polizeidienststelle und bekam nur die Auskunft: Versetzt, wohin, sagen wir nicht. DDR der 70er Jahre. Vorschriften gehen vor Gefühle. Die Brandenburgerin heiratet irgendwann einen anderen, bekommt drei Kinder. Nennt ihren jüngsten Sohn Christian. Hofft nach der Wende, die West-Polizei würde sich kooperativer zeigen. Fehlanzeige, keine Auskunft. Ein eng beschriebenes Blatt liegt vor ihr, darauf hat sie alle Namen und Telefonnummern ihrer vergeblichen Suche notiert. Bis ihre Mutter in einer Zeitung auf die Nummer der Wiedersehens-Agentur stieß. Nach wenigen Wochen hatte Susanne Panter den Polizisten ausfindig gemacht.
Steinig "... da ist der erste Brief, der ist vom 2.9. Da steht drin: "Aus Liebe zu dir, Kathrin, habe ich mich damals von Rostock nach Brandenburg versetzen lassen. Deine Mutter sagte einmal zu mir, dass ich um dich zu kämpfen hätte. Diese Worte habe ich erst später verstanden. Mit dieser Situation bin ich damals nicht fertig geworden." - Und jetzt kommt der Grund, warum es damals endgültig auseinander gegangen ist: "Das soll aber keine Entschuldigung" - wortwörtlich jetzt, nicht mein Begriff - "für das Saufen sein, denn mit Schnaps konnte man nie solche Probleme lösen. Wir hätten darüber sprechen sollen, um eine Lösung zu finden. Nach dem unüberlegten Weggang musste ich einsehen, dass es ein großer Fehler von mir war. Für mein Verhalten möchte ich mich bei dir und deinen Eltern entschuldigen." "
Eine Entschuldigung nach Jahrzehnten. Ein erwachsener Mann, inzwischen ranghoher Kriminalpolizist, scheint genauso an dem lange zurückliegenden Ereignis zu tragen wie sie. Nachdem die ersten Briefe gewechselt waren, klingelt plötzlich Anne-Kathrin Steinigs Handy. Sie ist, wie so oft, gerade bei ihren Eltern zu Besuch, die nur um die Ecke wohnen. Christian sagt, er habe gerade in der Gegend zu tun und sei mit seinem Kollegen in einer Stunde da.
Steinig: "Sagt er: Können wir uns bei deinen Eltern treffen? Ich sage: Ich bin schon bei meinen Eltern, du musst nur noch kommen! Ja. Okay. Und eine Stunde später war er wirklich da. Und so haben wir uns dann das erste Mal bei meinen Eltern wieder getroffen.
Man weiß auch gar nicht in der Situation, gehst du jetzt langsam auf ihn zu? Bist du distanziert? Rennst du und nimmst ihn in die Arme? Oder Händedruck? Man ist wirklich aufgeregt, als ob man noch ein Teeny ist. Alles spielt sich in Sekunden ab: Was machst Du jetzt? "
Dieses Wiedersehen ist wie eine Befreiung: Die Schuldgefühle, die jahrelang drückten, und die man vergeblich aus seinem Kopf verbannen wollte, können endlich eingestanden werden. Und damit sind sie weg, erledigt, man fühlt sich von einer Last befreit. Vater, Mutter und die beiden einst jungen Leute, die jetzt schon selbst längst Vater und Mutter sind.
Steinig: "Durch seinen spontanen Sprung über das Gartentor hat er sich einfach nicht getraut, zu meinen Eltern hinzufahren. Ich sag: Warum denn nicht? Na ja, weil ich nicht wusste, sind sie denn nun böse, wollen sie mich überhaupt noch sehen? Dieses Gefühl, was er in dem Moment hatte, ist eigentlich das Gefühl eines großen Jungen. In ihm hat es genauso gearbeitet, und deswegen hat er sich auch nie vorbeigetraut und ist immer die Strecke Richtung Genthin geradeaus weiter gefahren. "
Die Angst ist ein großes Gefühl beim Wiedersehen, so groß wie die Sehnsucht nach Vergebung. Als Christian mit dem Fast-Schwiegervater von einst 30 Jahre später in den Garten geht, bleiben sie vor einer grauen Betonplatte stehen. Es ist ein Fundament, das sie damals gemeinsam bauten. Das geplante Grillhäuschen darauf wurde nie begonnen. Der alte Mann nimmt den Jüngeren am Arm.
Steinig: "Und da sagte mein Vater: Diese Fundamentplatte müssen wir im Sommer abreißen! Und das fand ich so herrlich, wie er das ihm gegenüber gesagt hat: Du musst noch mal kommen, die Fundamentplatte muss weg! "
Ob etwas Neues entsteht - ein neues Fundament oder eine neue Liebe, ist in dieser Geschichte noch unentschieden. Aber darauf kommt es vielleicht beim Wiedersehen auch gar nicht so an. Altes ins Reine zu bringen, das ist das Wichtigste. Neues kann eine Nebenwirkung sein. Risiken sind nirgends nachzulesen. Wiedersehen haben in der Regel keine Verpackungsbeilage.