Für viele Algerier "ist das einfach ein normaler Feiertag"
Die normalen Bürger in Algerien stünden dem offiziellen Trubel um die Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit von Frankreich vor 50 Jahren eher skeptisch gegenüber, sagt der Leiter des Goethe-Instituts in Algier, Andreas Zürn. Insbesondere die Jugend habe derzeit ganz andere Themen.
Joachim Scholl: Über 130 Jahre stand Algerien unter französischer Herrschaft und die letzten Jahre dieser Kolonialherrschaft haben Hunderttausende Menschen das Leben gekostet. Nach einem überaus grausam geführten Krieg zog sich Frankreich zurück und am 5. Juli 1962, heute vor 50 Jahren, erklärte Algerien sich für unabhängig. Am Telefon in Algier ist jetzt Andreas Zürn, er leitet dort das Goethe-Institut, guten Tag, Herr Zürn!
Andreas Zürn: Guten Tag!
Scholl: Wie feiert Algerien dieses Jubiläum, 50 Jahre Unabhängigkeit? Es ist sicherlich ein, ja, großer staatlicher Feiertag?
Zürn: Ja, der 5. Juli ist immer ein Feiertag, dieses Jahr natürlich besonders. Die Stadt ist fahnengeschmückt, natürlich, gestern Abend war ein großes Spektakel, das praktisch die Feiertage eröffnet hat, und es sollen ja auch nicht nur Feiertage werden, sondern es wird ein ganzes Feierjahr. Das Programm wird jetzt langsam veröffentlicht, es gibt kulturelle Veranstaltungen, Diskussionen, historische Themen und so weiter, und es wird jetzt einiges geboten hier in Algier.
Scholl: Ist es jenseits der offiziellen Feierlichkeiten auch für die Algerier ein Fest? Gibt es da einen Unterschied?
Zürn: Ja, da gibt es natürlich durchaus einen Unterschied. Also, viele sogenannte normale Algerier, die nutzen den Tag, um an den Strand zu fahren, die werden mit den öffentlichen Feierlichkeiten nicht viel zu tun haben. Und für sie ist das einfach ein normaler Feiertag und man könnte auch sagen, dass sie dem ganzen offiziellen Trubel etwas skeptisch gegenüberstehen.
Scholl: Warum?
Zürn: Weil das die offizielle Seite ist, die feiert, und die normalen Bürger sich da nicht repräsentiert sehen.
Scholl: Wie sind denn die jüngeren Algerier hier gestimmt? Man hört ja, also, man weiß ja, dass Algerien einen unglaublich hohen Anteil von unter 30-Jährigen hat, die diese Zeit natürlich gar nicht mehr erlebt haben, diesen Unabhängigkeitskrieg, also, das Ringen um diese Unabhängigkeit. Interessiert das die Jugend noch?
Zürn: Jein. Das ist ein bisschen ein schwieriges Thema, die Jugend hat natürlich andere Themen im Moment. Aber es wird jetzt von staatlicher Seite ein großes Programm gestartet, das auch die Jugendlichen wieder zu einem größeren historischen Bewusstsein bringen soll, und es gibt Sendungen im Fernsehen, es werden Bücher veröffentlicht, ja, man sieht da Nachholbedarf unter den Jugendlichen.
Scholl: Für diese Unabhängigkeit sind Hunderttausende, algerischen Quellen zufolge sogar bis zu 1,5 Millionen Menschen gestorben in siebeneinhalb Jahren Krieg. Wie hat Algerien diese tragische Geschichte verarbeitet?
Zürn: Ja, also, man hatte seine Unabhängigkeit danach und dann ging es ja erst mal, nachdem die politischen Strukturen gefestigt waren, ging es ja wirklich aufwärts. Und es war ja, Algerien war ja lange Jahre auch eine Art Modellland für Unabhängigkeitsbewegungen von Ländern der Dritten Welt, ehemals kolonisierten Ländern, und da hat das schon eine starke Rolle gespielt, auch im Rahmen von Panafrikanismus und so weiter. Und die Verarbeitung ist ja zu einem gewissen Grad natürlich durch die Zeit entstanden, aber es kam ja ein weiteres Trauma, also, außer dem Algerien-Krieg, das Trauma dann des Terrorismus in den 90er-Jahren dazu.
Scholl: Auf den Bürgerkrieg mit seinen auch über 200.000 Opfern kommen wir noch zu sprechen, Herr Zürn, aber noch mal zu dieser Zeit des Unabhängigkeitskrieges und der Zeit danach: Also, inwiefern ist diese Geschichte in Algerien auch aufgearbeitet worden? Ich habe heute eine Zahl gelesen, dass in Frankreich seither circa 3000 Bücher zum Thema erschienen sind, dort leben auch über drei Millionen Exilalgerier. Wie intensiv war diese intellektuelle Beschäftigung in Algerien, wie intensiv ist sie eventuell noch?
Zürn: Also, ich denke, dass es in Algerien mindestens genau so viele Veröffentlichungen zu dem Thema gibt, da bin ich mir ganz sicher. Die ganzen ehemaligen Kämpfer, die Mudschahids, die haben ihre Memoiren geschrieben, die sind auch ja immer noch teilweise in Amt und Würden und das sind schon sehr präsente Personen des öffentlichen Lebens. Und man setzt sich schon mit dem Thema auseinander, das ist, also, das ist durchaus ein Thema hier, vor allem jetzt natürlich in diesem Jahr, einem 50.-Jahrestagsjahr.
Scholl: 50 Jahre algerische Unabhängigkeit, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Leiter des Goethe-Instituts in Algier, Andreas Zürn. Sie haben es schon angesprochen, Herr Zürn, es gibt neben dieser traumatischen Geschichte des Unabhängigkeitskrieges noch eine zweite, in den 1990er-Jahren, ein Bürgerkrieg zwischen islamistischen Kräften und dem Militär. Man spricht von 200.000 Opfern, wenn nicht mehr, auch hier ging es um die Frage: Was für ein Algerien wollen wir? Kann man überhaupt im heutigen Algerien von einer nationalen Identität sprechen?
Zürn: Ich denke, man fühlt sich als Algerier, das ist klar, schon durch die Geschichte ist das so entstanden, man ist stolz auf die Unabhängigkeit, dass man es geschafft hat, sich von der Kolonialmacht zu befreien. Das ist schon da, aber seither sind natürlich 50 Jahre vergangen, das Land hat sich weiterentwickelt und es gibt natürlich durchaus kritische Stimmen auch im Land, die sagen, dass es auch in eine bessere Richtung hätte gehen können als es jetzt ist.
Scholl: Was heißt das, diese kritischen Stimmen? Sozusagen, gibt es hier dann also eine Art von einer inneren Zerrissenheit, oder kann man davon sprechen, dass man also wirklich sozusagen diese Frage, wer sind wir eigentlich, wird die gestellt in der Gesellschaft?
Zürn: Ja, die wird ... Also, es gibt natürlich verschiedene Gesellschaftsschichten und die intellektuelle Schicht, die stellt sich natürlich sehr wohl diese Frage, wer sind wir und was ist Algerien. Und ich denke, sie haben auch noch keine Antwort darauf. Aber man sieht natürlich nicht nur in der intellektuellen Schicht, sondern auch bei den anderen Bevölkerungsschichten, man sieht natürlich schon auch eine kritische Haltung der jetzigen Regierung gegenüber. Das ist schon zu vernehmen.
Scholl: Was für ein intellektuelles Klima herrscht denn eigentlich in Algerien? Was erleben Sie auch gerade in Ihrer Tätigkeit, durch Ihre Tätigkeit im Goethe-Institut?
Zürn: Es gibt durchaus eine intellektuelle Schicht in Algier oder in den großen Städten natürlich vor allem. Man muss aber dazu sagen, dass diese Schicht schon ziemlich stark ausgeblutet ist dadurch, dass in den 90er-Jahren hier der Bürgerkrieg herrschte und dass vor allem natürlich Intellektuelle und Journalisten auf den Listen standen und viele dadurch natürlich sich in Frankreich oder in Europa oder in Kanada niedergelassen haben. Das merkt man immer noch hier in Algerien. Aber das kommt langsam wieder und die Leute beschäftigen sich mit ihrer Geschichte, sie beschäftigen sich auch mit kulturellen Themen, sie sind sehr interessiert daran, was international los ist. Und das ist eine gute Entwicklung, aber das wird dauern. Also, da hat der Terrorismus in den 90er-Jahren schon eine große Lücke geschlagen.
Scholl: Bei dieser Selbstfindung spielt auch eine dritte Schicht noch eine Rolle, die Ureinwohner sozusagen, die traditionellen Stämme der Berber. Für was stehen sie?
Zürn: Also, die Berber sind auch aufgespaltet in verschiedene Stämme. Der größte und wichtigste, das sind die Kabyler in der Kabylei, die schon immer sehr stark als eigenständig auftreten und auch heute noch sich distanzieren von den, wie sie es nennen, sogenannten Arabern und so. Und die Berbersprache ist seit den 90er-Jahren auch jetzt wieder offiziell erlaubt, wird auch in den Schulen unterrichtet, wird auch gepflegt, es gibt auch Literatur auf der Welt, es gibt Kulturfestivals in berberischer Sprache und über berberische Kultur. Ich denke, das ist eine gute Entwicklung.
Scholl: Inwieweit ist denn der französische Einfluss noch spürbar? So neben dem Arabischen ist Französisch ja immer noch Landessprache. Gibt es denn hier noch kulturelle Verbindungen? Spürt man da so eine französische Kultur auch noch im Land?
Zürn: Ja, natürlich, das Land ist ja insgesamt auf der einen Seite natürlich afrikanisch, arabisch, auf der anderen Seite natürlich mediterran-europäisch. Und diese Mischung, die aber allerdings natürlich auch das Interessante dieses Landes ausmacht in dieser Kultur, die ist überall zu spüren. Und da spielt natürlich das Französische auch eine sehr große Rolle. Und die Franzosen sind auch natürlich immer noch sehr gut repräsentiert jetzt hier, was die Kulturarbeit betrifft und auch andere Bereiche.
Scholl: Nun hat die arabische Welt im letzten Jahr etwas erlebt, was, ja, kaum vorstellbar war, eine Welle von Revolution, den Arabischen Frühling. Wie hat diese Bewegung, diese Stimmung auch auf Algerien eingewirkt?
Zürn: Nun, natürlich nimmt man wahr, was in den Nachbarländern passiert, das ist ja klar. Tunesien ist ja direkt vor der Haustür, Libyen hat auch eine lange Grenze mit Algerien. Aber es gab Reformen von der Regierungsseite aus, es wurden Gesetzesänderungen vorgenommen, wir hatten die Wahl im Mai. Und man hat schon darauf reagiert, aber so etwas Ähnliches wie in den anderen Staaten des Arabischen Frühlings hat hier natürlich nicht stattgefunden, wird wohl auch nicht stattfinden.
Scholl: Wieso natürlich nicht?
Zürn: Algerien hatte schon eine Revolution, 1988, und hat dadurch auch seine Lehren gezogen. Das Resultat der Revolution von 1988 war eben der zehnjährige Bürgerkrieg und von daher, das möchte man nicht wiederholen.
Scholl: Algerien heute nach 50 Jahren Unabhängigkeit. Das war Andreas Zürn, er leitet das Goethe-Institut in Algier. Herzlichen Dank Ihnen für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Andreas Zürn: Guten Tag!
Scholl: Wie feiert Algerien dieses Jubiläum, 50 Jahre Unabhängigkeit? Es ist sicherlich ein, ja, großer staatlicher Feiertag?
Zürn: Ja, der 5. Juli ist immer ein Feiertag, dieses Jahr natürlich besonders. Die Stadt ist fahnengeschmückt, natürlich, gestern Abend war ein großes Spektakel, das praktisch die Feiertage eröffnet hat, und es sollen ja auch nicht nur Feiertage werden, sondern es wird ein ganzes Feierjahr. Das Programm wird jetzt langsam veröffentlicht, es gibt kulturelle Veranstaltungen, Diskussionen, historische Themen und so weiter, und es wird jetzt einiges geboten hier in Algier.
Scholl: Ist es jenseits der offiziellen Feierlichkeiten auch für die Algerier ein Fest? Gibt es da einen Unterschied?
Zürn: Ja, da gibt es natürlich durchaus einen Unterschied. Also, viele sogenannte normale Algerier, die nutzen den Tag, um an den Strand zu fahren, die werden mit den öffentlichen Feierlichkeiten nicht viel zu tun haben. Und für sie ist das einfach ein normaler Feiertag und man könnte auch sagen, dass sie dem ganzen offiziellen Trubel etwas skeptisch gegenüberstehen.
Scholl: Warum?
Zürn: Weil das die offizielle Seite ist, die feiert, und die normalen Bürger sich da nicht repräsentiert sehen.
Scholl: Wie sind denn die jüngeren Algerier hier gestimmt? Man hört ja, also, man weiß ja, dass Algerien einen unglaublich hohen Anteil von unter 30-Jährigen hat, die diese Zeit natürlich gar nicht mehr erlebt haben, diesen Unabhängigkeitskrieg, also, das Ringen um diese Unabhängigkeit. Interessiert das die Jugend noch?
Zürn: Jein. Das ist ein bisschen ein schwieriges Thema, die Jugend hat natürlich andere Themen im Moment. Aber es wird jetzt von staatlicher Seite ein großes Programm gestartet, das auch die Jugendlichen wieder zu einem größeren historischen Bewusstsein bringen soll, und es gibt Sendungen im Fernsehen, es werden Bücher veröffentlicht, ja, man sieht da Nachholbedarf unter den Jugendlichen.
Scholl: Für diese Unabhängigkeit sind Hunderttausende, algerischen Quellen zufolge sogar bis zu 1,5 Millionen Menschen gestorben in siebeneinhalb Jahren Krieg. Wie hat Algerien diese tragische Geschichte verarbeitet?
Zürn: Ja, also, man hatte seine Unabhängigkeit danach und dann ging es ja erst mal, nachdem die politischen Strukturen gefestigt waren, ging es ja wirklich aufwärts. Und es war ja, Algerien war ja lange Jahre auch eine Art Modellland für Unabhängigkeitsbewegungen von Ländern der Dritten Welt, ehemals kolonisierten Ländern, und da hat das schon eine starke Rolle gespielt, auch im Rahmen von Panafrikanismus und so weiter. Und die Verarbeitung ist ja zu einem gewissen Grad natürlich durch die Zeit entstanden, aber es kam ja ein weiteres Trauma, also, außer dem Algerien-Krieg, das Trauma dann des Terrorismus in den 90er-Jahren dazu.
Scholl: Auf den Bürgerkrieg mit seinen auch über 200.000 Opfern kommen wir noch zu sprechen, Herr Zürn, aber noch mal zu dieser Zeit des Unabhängigkeitskrieges und der Zeit danach: Also, inwiefern ist diese Geschichte in Algerien auch aufgearbeitet worden? Ich habe heute eine Zahl gelesen, dass in Frankreich seither circa 3000 Bücher zum Thema erschienen sind, dort leben auch über drei Millionen Exilalgerier. Wie intensiv war diese intellektuelle Beschäftigung in Algerien, wie intensiv ist sie eventuell noch?
Zürn: Also, ich denke, dass es in Algerien mindestens genau so viele Veröffentlichungen zu dem Thema gibt, da bin ich mir ganz sicher. Die ganzen ehemaligen Kämpfer, die Mudschahids, die haben ihre Memoiren geschrieben, die sind auch ja immer noch teilweise in Amt und Würden und das sind schon sehr präsente Personen des öffentlichen Lebens. Und man setzt sich schon mit dem Thema auseinander, das ist, also, das ist durchaus ein Thema hier, vor allem jetzt natürlich in diesem Jahr, einem 50.-Jahrestagsjahr.
Scholl: 50 Jahre algerische Unabhängigkeit, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Leiter des Goethe-Instituts in Algier, Andreas Zürn. Sie haben es schon angesprochen, Herr Zürn, es gibt neben dieser traumatischen Geschichte des Unabhängigkeitskrieges noch eine zweite, in den 1990er-Jahren, ein Bürgerkrieg zwischen islamistischen Kräften und dem Militär. Man spricht von 200.000 Opfern, wenn nicht mehr, auch hier ging es um die Frage: Was für ein Algerien wollen wir? Kann man überhaupt im heutigen Algerien von einer nationalen Identität sprechen?
Zürn: Ich denke, man fühlt sich als Algerier, das ist klar, schon durch die Geschichte ist das so entstanden, man ist stolz auf die Unabhängigkeit, dass man es geschafft hat, sich von der Kolonialmacht zu befreien. Das ist schon da, aber seither sind natürlich 50 Jahre vergangen, das Land hat sich weiterentwickelt und es gibt natürlich durchaus kritische Stimmen auch im Land, die sagen, dass es auch in eine bessere Richtung hätte gehen können als es jetzt ist.
Scholl: Was heißt das, diese kritischen Stimmen? Sozusagen, gibt es hier dann also eine Art von einer inneren Zerrissenheit, oder kann man davon sprechen, dass man also wirklich sozusagen diese Frage, wer sind wir eigentlich, wird die gestellt in der Gesellschaft?
Zürn: Ja, die wird ... Also, es gibt natürlich verschiedene Gesellschaftsschichten und die intellektuelle Schicht, die stellt sich natürlich sehr wohl diese Frage, wer sind wir und was ist Algerien. Und ich denke, sie haben auch noch keine Antwort darauf. Aber man sieht natürlich nicht nur in der intellektuellen Schicht, sondern auch bei den anderen Bevölkerungsschichten, man sieht natürlich schon auch eine kritische Haltung der jetzigen Regierung gegenüber. Das ist schon zu vernehmen.
Scholl: Was für ein intellektuelles Klima herrscht denn eigentlich in Algerien? Was erleben Sie auch gerade in Ihrer Tätigkeit, durch Ihre Tätigkeit im Goethe-Institut?
Zürn: Es gibt durchaus eine intellektuelle Schicht in Algier oder in den großen Städten natürlich vor allem. Man muss aber dazu sagen, dass diese Schicht schon ziemlich stark ausgeblutet ist dadurch, dass in den 90er-Jahren hier der Bürgerkrieg herrschte und dass vor allem natürlich Intellektuelle und Journalisten auf den Listen standen und viele dadurch natürlich sich in Frankreich oder in Europa oder in Kanada niedergelassen haben. Das merkt man immer noch hier in Algerien. Aber das kommt langsam wieder und die Leute beschäftigen sich mit ihrer Geschichte, sie beschäftigen sich auch mit kulturellen Themen, sie sind sehr interessiert daran, was international los ist. Und das ist eine gute Entwicklung, aber das wird dauern. Also, da hat der Terrorismus in den 90er-Jahren schon eine große Lücke geschlagen.
Scholl: Bei dieser Selbstfindung spielt auch eine dritte Schicht noch eine Rolle, die Ureinwohner sozusagen, die traditionellen Stämme der Berber. Für was stehen sie?
Zürn: Also, die Berber sind auch aufgespaltet in verschiedene Stämme. Der größte und wichtigste, das sind die Kabyler in der Kabylei, die schon immer sehr stark als eigenständig auftreten und auch heute noch sich distanzieren von den, wie sie es nennen, sogenannten Arabern und so. Und die Berbersprache ist seit den 90er-Jahren auch jetzt wieder offiziell erlaubt, wird auch in den Schulen unterrichtet, wird auch gepflegt, es gibt auch Literatur auf der Welt, es gibt Kulturfestivals in berberischer Sprache und über berberische Kultur. Ich denke, das ist eine gute Entwicklung.
Scholl: Inwieweit ist denn der französische Einfluss noch spürbar? So neben dem Arabischen ist Französisch ja immer noch Landessprache. Gibt es denn hier noch kulturelle Verbindungen? Spürt man da so eine französische Kultur auch noch im Land?
Zürn: Ja, natürlich, das Land ist ja insgesamt auf der einen Seite natürlich afrikanisch, arabisch, auf der anderen Seite natürlich mediterran-europäisch. Und diese Mischung, die aber allerdings natürlich auch das Interessante dieses Landes ausmacht in dieser Kultur, die ist überall zu spüren. Und da spielt natürlich das Französische auch eine sehr große Rolle. Und die Franzosen sind auch natürlich immer noch sehr gut repräsentiert jetzt hier, was die Kulturarbeit betrifft und auch andere Bereiche.
Scholl: Nun hat die arabische Welt im letzten Jahr etwas erlebt, was, ja, kaum vorstellbar war, eine Welle von Revolution, den Arabischen Frühling. Wie hat diese Bewegung, diese Stimmung auch auf Algerien eingewirkt?
Zürn: Nun, natürlich nimmt man wahr, was in den Nachbarländern passiert, das ist ja klar. Tunesien ist ja direkt vor der Haustür, Libyen hat auch eine lange Grenze mit Algerien. Aber es gab Reformen von der Regierungsseite aus, es wurden Gesetzesänderungen vorgenommen, wir hatten die Wahl im Mai. Und man hat schon darauf reagiert, aber so etwas Ähnliches wie in den anderen Staaten des Arabischen Frühlings hat hier natürlich nicht stattgefunden, wird wohl auch nicht stattfinden.
Scholl: Wieso natürlich nicht?
Zürn: Algerien hatte schon eine Revolution, 1988, und hat dadurch auch seine Lehren gezogen. Das Resultat der Revolution von 1988 war eben der zehnjährige Bürgerkrieg und von daher, das möchte man nicht wiederholen.
Scholl: Algerien heute nach 50 Jahren Unabhängigkeit. Das war Andreas Zürn, er leitet das Goethe-Institut in Algier. Herzlichen Dank Ihnen für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.