Für und wider das maßlose Schlemmen

Die Amerikanerin Francine Prose hat in ihrem Buch "Völlerei. Die köstlichste Todsünde" klassische Texte zu den Gefahren und Genüssen großer Gelage zusammengetragen. Sie plädiert für eine Völlerei als feierliche Ausnahme.
"Jährlich können 350.000 Todesfälle schlechter Ernährung und fehlender Bewegung zugeschrieben werden. 70 Prozent der Herzkreislaufkrankheiten beruhen auf starkem Übergewicht."

Zahlen aus den USA, der Heimat von Francine Prose. Sie verrät uns außerdem, dass die Amerikaner rund 40 Milliarden Dollar im Jahr für Diäten ausgeben. - Da werden Vermögen gemacht im Kampf für und wider das maßlose Schlemmen. Völlerei ist ein Wirtschaftsfaktor, traurig nur, dass er so vielen Menschen die Gesundheit, wenn nicht gar vorzeitig das Leben kostet.

Eigentlich, so die Autorin, sind die Gefahren der Völlerei doch sattsam bekannt. Das Thema wird seit 2000 Jahren diskutiert - von Ärzten, Literaten und nicht zuletzt von Theologen.

Zwei der vier Kapitel ihres Buches verwendet Francine Prose darauf, uns klassische Texte wider die Völlerei nahezubringen. Wir erfahren: Im antiken Rom, wo Staatsmänner und Feldherren (wie Lukullus) auch als Feinschmecker bekannt geworden sind, gerühmt für ihre überbordenden Tafeln und ausgedehnten Gastgelage -, im Rom der Kaiserzeit traten auch die ersten Kritiker des "großen Fressens" auf den Plan:

"So äußerte Tertullian seine Abscheu vor dem Massenrülpsen, durch das die Luft bei den üppigen Festen sauer wurde. Und vor den Schulden, die heruntergewirtschaftete Familien auf sich nahmen, wenn sie zum Essen luden."

Tertullian, Sohn eines römischen Offiziers, war mit 40 Jahren Christ geworden, sprich: Mitglied einer Glaubensgemeinschaft, die der römischen Dekadenz eine alternative Lebensweise entgegensetzen wollte. - "Wisset Ihr nicht, dass Euer Leib der Tempel des Heiligen Geistes ist?" heißt es in einem Brief des Paulus an die Christen in Korinth. Dass zu viel Speis' und Trank der leiblichen Gesundheit schadet, war in den urchristlichen Gemeinden ein Dauerthema. Francine Prose zitiert Evangrius Ponticus, einen christlichen Mönch des 4. Jahrhunderts:

"Völlerei ist der Nährboden für viele Krankheiten! Sie bedeutet Verstopfung der Körperkanäle, Stöhnen der Gedärme, Schwächung des Körpers, gestörten Schlaf und düsteren Tod."

Rund 200 Jahre nach Ponticus hat es die Völlerei gar auf jene Liste der sieben Todsünden geschafft, die Papst Gregor der Große zusammengestellt hat. Die Autorin findet diesen Umstand erklärungsbedürftig:

"Kann denn Essen Sünde sein? - Stolz und Wut waren offensichtliche Kandidaten für den Sündenkatalog, auch Neid und Wollust können verheerenden Schaden anrichten. - Aber, wer bitte leidet, wenn wir uns das zweite oder gar dritte Stück Nusstorte nehmen?"

Anhand dieser Fragestellung hat Prose verschiedene Texte christlicher Theologen des Mittelalters und der Renaissance durchforstet. Dort herrscht allgemein die Überzeugung, Völlerei verschmutzt nicht nur das Innere des Körpers, sondern besudelt auch die Seele:

"Albernheit, Geschwätzigkeit und Dumpfheit des Geistes!"

sind allesamt "Töchter der Völlerei", befindet Thomas von Aquin. Außerdem trenne einen dieses Laster vom Herrn im Himmel, ein Schlemmer verehre seinen eigenen Bauch an Gottes Statt. Die Völlerei, so der Heilige Thomas, sei das Einfallstor der Sünde schlechthin. Bei wem schon in puncto Essen und Trinken die Selbstkontrolle versage, sei leichte Beute für teuflische Versuchungen aller Art.

Bei aller Sympathie für die Kirchenväter: Ihrem Totalverdikt der Völlerei mag sich die Autorin dann doch nicht anschließen. "Die köstlichste Todsünde", der Untertitel des Buches lässt ahnen: Hier wird ein ambivalentes Verhältnis zum Thema "Schlemmen" gepflegt. Und tatsächlich: Das letzte Kapitel des Buches heißt "Große Momente der Völlerei". Zunächst bescheinigt Prose den Kirchenvätern, sie hätten wenig von irdischen Genüssen verstanden, oder besser: verstehen wollen. Dann lässt sie ein Dutzend Literaten aufmarschieren - mitsamt ihren Oden an die Tafelfreuden. Mit von der Partie auch Mary Frances Kennedy Fisher, Mitte des letzten Jahrhunderts in den USA bekannt geworden mit ihren Essays über die Kochkunst:

"Wenn eine wirklich schöne Flasche Wein vor mir steht, trinke ich davon, soviel ich kann. – Das ist Völlerei. Aber ich denke so bei mir: Wo sonst auf der Welt gibt es einen Wein wie diesen? Mit diesem Bouquet, in diesem Kristallglas? Und wann werde ich dem wieder so lebendig begegnen wie just in dem Moment, da ich hier sitze, in den grünen Hügeln über dem Meer oder hier, in diesem schummrigen Restaurant, umgeben von Gemurmel und reichen Düften?"

Aus Fishers Werk "Ein Alphabet für den Gourmet".

Das Buch von Francine Prose ist ein flammendes Plädoyer gegen die Alltags-Völlerei, geboren aus Gewohnheit und Geistlosigkeit. Und für eine Völlerei als feierliche Ausnahme: geboren aus dem Feinschmeckertum und einer Lebenslust, die es sich erlaubt, gelegentlich über die Stränge zu schlagen.

Besprochen von Susanne Mack

Francine Prose
Völlerei. Die köstlichste Todsünde

Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009
112 Seiten, 10,90 Euro