"Für mich war er eine unglaubliche Nervensäge"

Moderation: Dieter Kassel |
Der Autor Florian Illies ("Generation Golf") hat das späte Eingeständnis von Günter Grass, der Waffen-SS angehört zu haben, als vergebene Chance bedauert. Jemand, der sich wie Grass lange als moralische Instanz stilisiert habe, hätte gerade dabei die Chance nutzen können, auf eigene Brüche und die eigene Verführbarkeit hinzuweisen, erklärte Illies.
Dieter Kassel: Es geht um Tante Do und ihre runden Geburtstage mit Bienenstich, Schwarzwälderkirschtorte und Buttercreme. Es geht um den ersten Kuss auf dem Ruderboot auf dem Fischteich, um Toaster, deren Hebel mit einem Gummiband an der Küchenschublade justiert werden muss. Es geht um Herrn Fegisch vom Sparmarkt und die vielen Leute, die Punkt 18 Uhr nach Hause eilen, um ein Ortsgespräch günstig zu führen. Und so heißt er denn auch, der neue… na, jetzt hätte ich fast auch Roman gesagt… da wird er gleich klar sagen, ein Roman ist es nicht, aber das neue Buch von Florian Illies. "Ortsgespräch" heißt es und es spielt selbstverständlich in Schlitz im Vogelsbergkreis in der Nähe von Fulda, denn da kommt Florian Illies her. Im Moment aber ist er weder in Hessen noch in seiner Wohnung in Berlin, sondern hier im Studio. Guten Morgen Herr Illies!

Florian Illies: Schönen guten Morgen!

Kassel: Ich habe es ja gerade noch mal deutlich sagen müssen, es ist ja gar kein Roman. Aber wenn Sie einen Roman geschrieben hätten in diesem Stil, wäre es dann etwas, was man Heimatroman nennt?

Illies: Ja das ist ja ein sehr verbotener Begriff eigentlich Heimat. Es ist genauso wie Heimatfilm und Heimatroman, natürlich haben da die Heimatschriftsteller auch viel dazu getan, weil sie schlechte, kitschige Bücher geschrieben haben, aber ich glaube, glücklicherweise sind wir jetzt endlich so weit, zu erkennen, jeder hat eine Heimat und das Wort an sich ist noch nicht ein anrüchiges Wort. Ich schreibe aber keine Romane, sondern ich schreibe tatsächlich über meine Heimat. Aber ich schreibe Bücher, die Sachbücher sind, aber die natürlich versuchen, einen eigenen Stil mit Humor, mit einem eigenen Zugang, diese ferne, nahe Welt der Heimat, der Provinz zu beschreiben und mein ganz großes Ziel ist eigentlich, insofern begreife ich mich da viel eher in einem filmischen Sinne, als jemand, der durch das Beschreiben von der eigenen Provinz, durch das Beschreiben des eigenen Aufwachsens, diese Gerüche, diese Sinneseindrücke, die man als Kind, als kleiner Junge, als kleines Mädchen auch in der Provinz hatte, beim jedem Einzelnen was loszutreten im Kopf. Mir geht es eigentlich darum, ganz, ganz viele Heimatfilme im Kopf eines jeden Lesers anzustoßen, die dann loslaufen mit ganz eigenen Geschichten, eignen Erinnerungen, die aber angeregt werden durch diese Lektüre dieses Buches.

Kassel: Sie sind nach der Schule dann natürlich erst einmal weg aus Schlitz, sind ja im Grunde genommen bis heute weg. Sie leben in Berlin. Inzwischen sind Sie Mitte 30. Wie lange hat es denn gedauert, bis Sie etwas Positives, etwas fast schon Sehnsüchtiges mit Schlitz verbinden konnten?

Illies: Ja das dauert. Am Anfang ist man natürlich heil froh, raus zu sein. Man ist heil froh, dass nicht mehr der Nachbar anruft, wenn man einen falschen Antiatomkraftaufkleber auf dem Auto hat oder irgendetwas Ähnliches oder die Straße nicht gekehrt ist, also diese Beobachtung, das Kleine der Kleinstadt, das ist natürlich da, und man muss schon ein bisschen Abstand haben, um dann auch all das zu erkennen, was dieses Aufwachsen, dieses Leben in der Provinz ausmacht. Was es auszeichnet, dieses ganz einzigartige soziale Gefüge, das greift, in Situationen von Krankheit, von Tod, in schwierigen Situationen. Diese Verbundenheit mit Natur, die da einfach viel, viel größer ist, als in der Großstadt, wo man oft gar nicht mehr erlebt und weiß, was für ein Wetter, was für ein Tag ist, wenn man einen Tag im Büro verbracht hat. Da beginnt man doch sozusagen sich wehmütig zurück zu erinnern oder sozusagen solche ersten, fast neutralen und dann auch positiven Gedanken gegenüber Provinz und Heimat zu entwickeln. Aber es braucht eine gewisse Zeit, das ist ganz klar.

Kassel: Wie ist es denn heute? Was in dem Buch schon deutlich drin steht, wenn Sie dann mit dem ICE bis Fulda und dann irgendwie über die kleinen Straßen weiter, dann ist das schön. Aber ist es bis heute so, wenn Sie in Schlitz sind, in Hessen, dass das Ankommen auch deshalb so schön ist, weil Sie schon wieder wissen, wann Sie wieder weg können?

Illies: Das weiß ich nicht, aber ich weiß nur sozusagen, dass ich tatsächlich mich dann freue, da so durch dieses hessische Bergland zu fahren, was man ja immer mit dem Zug so durchreist,dann sieht man immer diese Fachwerkhäuser aufblitzen zwischen sehr grünen Buchenwäldern und das sind für mich die ersten deutlichen Anzeichen für ein Heimatgefühl. Natürlich sind das Besuche, die zeitlich begrenzt sind, aber das sind solche sentimentalen Gefühle. Da gibt es viele Lieder drüber, das sind diese "driving home for Christmas" oder Bruce Springsteens "my hometown". Wenn man da zurückfährt und dann einfach sieht, so da war früher der kleine Tante-Emma-Laden, wo wir früher vor der Schule noch Süßigkeiten gekauft haben, der ist zu oder der Schreibwarenladen, der ist zu, da ist ein Schleckerfiliale drin. Man erlebt einfach sozusagen das erste Mal, obwohl man noch nicht ganz so alt ist, trotzdem schon Zustände von Verfall auch, und Veränderung und andererseits freut man sich über Kontinuitäten, die da sind und Stabiles, was man dort findet. Und da entstehen schon Gefühle, bei denen man immer aufpassen muss, dass sie nicht zu sentimental werden, glaube ich, und zugleich ist es immer so eine Ambivalenz und immer so ein hin und her. Man kommt sehr, sehr gerne hin, und ich glaube, ich freue mich immer wahnsinnig darauf, wieder nach Berlin zurückzukehren. Ich bin sehr glücklich hier, und es geht mir nicht darum, zu sagen, ich bitte alle, wieder an ihre Wurzeln zurückzukehren, sondern es geht einfach nur darum zu sagen, wieso war es so oft so, dass wenn man Menschen fragte "Wo kommst du her ?", dass da immer die Antwort kam, "Ach ich komm irgendwo aus der Nähe von Frankfurt oder aus der Nähe von München", immer eine so merkwürdige Verschämtheit eigentlich, heilfroh endlich in Berlin, in Köln, in München, in der großen Stadt zu sein und so ganz stolz, dass man jetzt diesen Makel abgestreift hat seiner provinziellen Herkunft. Und ich glaube, dass das überhaupt nicht geht. Also man kommt eben aus der Provinz, egal ob man es im Dialekt behält, wie ich es auch bis heute behalten habe, und ich ahne und befürchte, man wird es auch gleich merken, wenn ich…

Kassel: Können Sie denn die mindesten vier verschiedenen Worte für Regen, die in dem Buch vorkommen, original aussprechen?

Illies: Ich hoffe. Es hat mich auch sehr gewundert, dass andere nicht so viele Worte für Regen können. Also in Schlitz regnet es sehr viel, und deswegen haben wir haben sehr spezifische Formen. Es gibt eben für leichten, ganz leichten Regen, der anderswo Nieselregen genannt wird, ist es bei uns das Wort "drebbeln". (…) Wenn es richtig starker Regen ist, dann "dretschts" (…) und das Ergebnis ist dann, dann ist man "dretsch-nass". Und ich nutze das Wort bis heute. Und merkte erst bei näherer Beschäftigung mit diesem Buch, dass alle meine Umgebung seit Jahren von mir diese Worte hört, aber nie etwas damit anfangen konnte. Sie aber immer verständnisvoll gelächelt haben, und das rechne ich ihnen hoch an.

Kassel: Ich habe gestern Abend in meiner Wohnung in Berlin, und ich komme aus dem Ruhrgebiet, versucht, es laut vor mich hin zu sprechen. Kommen wir mal zurück zu der Literatur. Es ist ja, Sie haben ja gerade auch erklärt, dass man, wenn man aus der Provinz kommt, dass irgendwie auch immer herkommt und das nicht ganz los wird. Es gab ja in den letzten Jahren ganz andere Trends. Die berühmte Berlinliteratur, wo übrigens nicht nur die Leute außerhalb Berlins, auch hier das weder als Begriff noch als Inhalt weiter hören konnten. Überhaupt diese Großstadtliteratur, junge Menschen gehen nach Berlin,schreiben darüber oder schreiben dann auch gleich über New York oder ihre Erfahrung im Himalaya. Glauben Sie, das wir langsam anders? Wird das für die Literatur in Deutschland immer mehr ein Thema werden die deutsche Provinz?

Illies: Ich glaube, das gab es immer wieder und was für mich sehr interessant ist, dass sehr oft Menschen nach Berlin kommen, um dann in Berlin über ihre Provinz zu schreiben. Wir haben Christof Peters´ "Stadt, Land, Fluss". Er hat einen großartiger Roman über den Niederrhein geschrieben, als er aus dem Niederrhein fort ging, um nach Berlin zu kommen. Wir haben gerade im Moment das wunderbare Buch von Peter Stamm, dem schweizer Autoren, "An einem Tag wie diesem", wo der Ich-Erzähler, der vermutet, er sei todkrank, plötzlich ins Auto steigt, losfährt und nicht weiß, wo er ankommt und plötzlich findet er sich in seinem Heimatdorf wieder. Also sozusagen eine sehr merkwürdige, fast archaisch-instinktive, wie fast ein Zugvogel, der zurückkehrt an diesen Heimatort. Und das merke ich daran, dass es auch in der Literatur einfach ein Thema ist, was irgend so eine archaische Unterebene berührt. Und deswegen, glaube ich, wird das immer ein Thema sein, aber ob es jetzt eine neue Welle gibt, das glaube ich nicht. Ich glaube einfach nur, es ist wieder Teil der literarischen Welt, Teil überhaupt der gesellschaftlichen Welt, dass man sagt, Provinz ist nicht per se schlecht, sondern Provinz und Land hat auch seine eigenen, ganz besonderen Qualitäten. Und wenn sie durch die Straßen einer Großstadt gehen, haben sie das Gefühl es ist alles erfasst von großer Sehnsucht nach dem Land, weil es nur noch Jeeps und Land Rover gibt, obwohl die Straßen sechsspurig sind. Aber diese Sehnsucht mit so einem Land Rover so ein Landgefühl sich zu vermitteln und sich so "Landlord-haft" zu benehmen, dass ist ja Ausdruck unserer Zeit, die Sehnsucht nach diesem Fischlokal auf dem Land und all diesem Ursprünglichen was so entsteht. Dieser ungeheuere Erfolg von Manufactum als einem sehr teuren Versender von Produkten, die aus irgendwelchen winzigen Tontöpfereien in der Provinz oder Eisensschmieden in der Provinz Produkte herstellen aus vergangenen Zeiten, also diese Sehnsucht nach Handarbeit. Ich habe schon das Gefühl, dass da ein Wandel eingesetzt hat, der natürlich ein Gegentrend ist, weil man in den Städten nur noch "coffee to go" hat, nur noch "Rollkoffermenschen" sieht, nur noch Handys, nur noch SMS, Emails, alles beschleunigt sich in so einer wahnsinnig anstrengenden Weise. Es beschleunigt sich ja alles und ohne dass man wirklich das Gefühl hat, man gewinnt Zeit und in diesem Moment wächst glaube ich so eine Sehnsucht nach etwas was man "Entschläunigungsoase" nennen kann und "Entschläunigungsoasen" sind nun mal da wo Bäume sind, wo Land ist.


Kassel: Wobei natürlich die Leute auf dem Dorf sich wahnsinnig geärgert haben, wenn sie da wirklich gewohnt haben, dass sie noch so lange im Funkloch waren. Die sind inzwischen froh, dass sie es nicht mehr sind, und damit sind wir schon auch bei einer Kritik, die es ja gibt an Ihrem Buch. Im "Spiegel" gibt es in der aktuellen Ausgabe einen großen Artikel darüber, im "Tagesspiegel" in Berlin wird das vorsichtiger aber auch ähnlich formuliert, es ist in Ihrem Schlitz bis auf ein paar ironische Bemerkungen und sagen wir mal geschlossene Geschäfte kommen zwar auch vor, aber es ist ja alles schön. Man hat so schon das Gefühl, wenn man das Buch liest, der hat jetzt zwei Jahrzehnte da gelebt und da ist jetzt bis auf ein verlorenes Fußballspiel überhaupt nichts Schlimmes passiert in den letzten zwei Jahrzehnten. Das glaube ich nicht. Das kann ich mir nicht vorstellen. Besteht die Gefahr, jetzt Mitte 30, Rückblick auf den Vogelsbergkreis, dass man das alles so idealisiert?

Illies: Auf keinen Fall. Ich bin sehr hellwach wenn ich so ein Buch schreibe und es hätte mich unglaublich gelangweilt noch einmal zu schreiben, wie schlimm es ist mit der deutschen Provinz und der Niedergang der Geschäfte und so weiter. So ein Buch kann man schreiben und es gibt hunderte von diesen Beschreibungen, soziologische Studien, Niedergang der Provinz als Lebensform und Überalterung in der Provinz etc. Das ist nicht mein Ansatz. Mein Ansatz ist etwas ganz anderes. Ich will ein Buch schreiben, um diese Gefühle sozusagen zu beschreiben. Das hat mich gereizt. Was sind das für Gefühle, die man hat, wenn man in die Heimat, die man früher hatte, zurückkommt, Sinneseindrücke, was man gerochen hat, was man gehört hat. Also ich habe einen ganz anderen Ansatz. Und wenn ich im "Spiegel" lese, dieses Buch wird man überall in Deutschland lesen nur nicht in Schlitz, dann muss ich sagen, bin ich ganz froh. Ich fände es schrecklich, wenn es anders herum wäre.


Kassel: Stimmt vielleicht auch nicht. Sie haben vorhin ja schon erzählt, die Lokalzeitung hätte Sie auch schon für ein Interview angefragt. Kurz zum Schluss, eine Minute: Hat man in Schlitz eigentlich, haben Sie in Schlitz eigentlich Günter Grass wahrgenommen? Ich frage das aus einem konkreten Grund, vor ziemlich genau 24 Stunden, nämlich um kurz nach neun gestern Vormittag war Juli Zeh bei uns im Interview. Die ist 1974 geboren, Sie sind 1971 geboren, das werte ich mal als die gleiche Generation. Und Juli Zeh hat über Grass und die aktuelle SS-Affäre gesagt, für unsere Generation war der Mann nie eine moralische Instanz, also kann er jetzt auch nicht aufhören das zu sein. Sehen Sie das auch so?

Illies: Für mich war er eine unglaubliche Nervensäge. Für mich war er als jemand, der sich mit Kunst beschäftigt, immer ein sehr mittelmäßiger Künstler. Das hat mich immer irritiert. Ich bin über das, was ich jetzt da höre, ja ich kann nur sagen, einer der sich so lange als eine moralische Instanz stilisiert hat und nicht die Chance genutzt hat zu sagen auch ich habe meine Brüche, auch ich war verführbar, ich habe Verständnis für andere Verführbarkeiten oder gerade deswegen möchte ich warnen vor dem, was entsteht, da ist so eine vertane Chance. Und das finde ich sehr traurig und schade. Aber ich glaube die moralische Instanz, die er war, das war er wirklich für seine Generation und nicht mehr für unsere Generation. Unsere Generation sucht sich ja nach diesen moralischen Instanzen, und vielleicht beschreibe ich auch deshalb in "Ortsgespräch" wie Personen in der Heimat, wie Tanten und Onkels tatsächlich solche moralischen Instanzen geworden sind, weil man sozusagen diese großen intellektuellen Köpfe, die die Vorgängergeneration hatte, nicht mehr zur Verfügung hatte. Deswegen wird Tante Do und Onkel Max zu einer Art Günter Grass der nächsten Generation.

Kassel: Wunderbar, Sie haben den Bogen besser gekriegt als ich, was Grass und Schlitz angeht. Florian Illies war das im Gespräch in Deutschlandradio Kultur. "Ortsgespräch" heißt sein neues Buch, und erschienen ist es im Blessing Verlag.