Für Freiheit und gegen Kommerz

Von Markus Rimmele · 15.02.2010
Als vor einem Monat die Entscheidung im Parlament fiel, ging es eigentlich nur um den Bau einer neuen Bahnstrecke von der Innenstadt Hongkongs bis zur chinesischen Grenze. An diesem Projekt entzündete sich jedoch eine Jugendbewegung, der es um weit mehr geht als um den Protest gegen ein ihrer Meinung nach unsinniges Projekt.
19 Uhr im Hongkonger Lokalfernsehen. Wie jede Woche beginnt das Sonntagabend-Programm auf ATV mit der englischsprachigen Talkshow Newsline.

Moderator: "Guten Abend! Willkommen bei Newsline! Warum sind die jungen Leute in Hongkong plötzlich so radikal? Ich habe eine Vertreterin dieser Generation hier im Studio: Christina Chan. Christina, warum gehen Sie auf die Straße und suchen die Konfrontation mit dem Staat?"

Christina Chan: "Die meisten von uns jungen Leuten sind im britischen Hongkong groß geworden. Man hat uns versprochen, dass nach der Rückgabe an China Hongkong von Hongkongern regiert würde. Wir haben jetzt so lange gewartet, haben aber noch immer keine Demokratie."

Ein paar Tage nach dem Fernsehauftritt sitzt Christina Chan im Charter Garden, einem Park im Hongkonger Finanzviertel. Sie ist eine gefragte Person in diesen Tagen. Keine Zeitung, keine TV-Station, kein Radiosender will gerade ohne sie auskommen.

Die 22-jährige Philosophie-Studentin, im Nebenjob Model, ist das bekannteste Gesicht der neuen Protestbewegung. Seit Wochen halten die jungen Leute Hongkong mit ihren Aktionen in Atem. Endlich volle Demokratie mit allgemeinen Wahlen, das ist die Grundforderung Chans.
Christina Chan: "Ich glaube, viele Leute empfinden es immer mehr als Problem, dass wir keine Demokratie haben. Natürlich kann Demokratie allein nicht alles lösen. Aber mit ihr können wir wenigstens bei der Problemlösung mitmachen. Die Demonstranten, egal wofür sie im Einzelnen kämpfen, verlangen immer auch Demokratie."

Hongkong ist ein politisches Zwitterwesen. Die Bürger der Stadt können ihre Meinung frei äußern und demonstrieren. Sie dürfen aber ihren Regierungschef nicht wählen. Das erledigt ein pekingtreues Wahlgremium. Die Zeitungen können ungehindert etwa die chinesische Regierung kritisieren. Doch das Volk darf nur die Hälfte der Parlamentsabgeordneten bestimmen.

Die andere Hälfte wird, wie in einem alten Ständesystem, von den wichtigsten Wirtschaftsbranchen und Interessengruppen der Stadt entsandt. Dagegen protestieren Chan und ihre Mitstreiter. Doch das ist bei Weitem nicht alles.

Der Charter Garden füllt sich langsam mit Demonstranten. Ihr Ziel ist das viktorianische Parlamentsgebäude am Parkrand. Hier beginnt gleich eine Sitzung. Christina Chan wird unruhig, schielt hinüber zu den Protestierern mit ihren Plakaten und Megaphonen. Die vergangene Nacht hat sie hier am Parlament campiert. Trotz Müdigkeit will sie gleich hinübergehen und mitdemonstrieren.

Diesmal geht es um den Kampf gegen eine neue Schnellbahnverbindung von der Innenstadt bis zur chinesischen Grenze. Es ist der 15. Januar. Heute soll im Parlament die Entscheidung fallen. Die 26 Kilometer lange Strecke soll sechs Milliarden Euro kosten. Ein ganzes Dorf muss dafür weichen. Überdimensioniert, zu teuer, zu wenig Bürgerbeteiligung, so der Vorwurf der Protestierer. Chan steht auf, gähnt, hängt ihre rote Tasche über die Schulter und geht auf die Menge zu.

Vor dem Parlament kommen die Demonstranten in Stimmung. Am Haupteingang steht der Soziologie-Student Ng Koon-kwan und verteilt Flyer gegen die Bahnstrecke. Er sieht darin ein typisches Beispiel dafür, wie Hongkongs Regierung Geld in die Taschen reicher Projektentwickler stopfe.

Ng Koon-kwan: "In Hongkong werden viele Ressourcen von der Wirtschaft kontrolliert. Und die Wirtschaft kontrolliert auch die Politik. Dagegen protestieren wir. Wir wollen, dass die Ressourcen in die öffentliche Wohlfahrt fließen, zum Nutzen der armen Leute. Der Abstand zwischen arm und reich ist ein sehr ernstes Problem in Hongkong."

Seit Monaten brodelt es an den Universitäten und in den Bürgerinitiativen Hongkongs. Demonstrationen häufen sich. Ein Hauch von Rebellion liegt in der Luft, von jugendlicher Wut und Radikalität. "Post-80er", so wurde die neue Protestgeneration getauft, weil die meisten ihrer Vertreter nach 1980 zur Welt kamen. Die Post-80er sind eine spontane Graswurzelbewegung.

Sie haben keine Organisationsstruktur, keine gewählten Anführer und kein ordentliches Programm. Gemeinsam ist ihnen nur: Sie wollen mehr Mitsprache, stehen für postmaterialistische Werte, für Nachhaltigkeit, kritisieren das wirtschaftsliberale politische System Hongkongs.

Etwa 8000 Menschen verfolgen draußen auf Großleinwänden die Schnellbahn-Beratungen im Parlamentsgebäude. Es sind junge, fröhliche Gesichter. Wie ernst sie es mit ihrem Protest meinen, wird aber klar, als der tagende Ausschuss das Bahnprojekt wie erwartet verabschiedet. Einige Demonstranten versuchen, ins Gebäude einzudringen. Es kommt zu Rangeleien, die Polizei versprüht Pfefferspray. Manche Parlamentarier sitzen stundenlang, bis spät in die Nacht, im Gebäude fest.

Die Stadtoberen reiben sich verwundert die Augen und fragen sich, was mit ihrer Jugend los ist. Dass junge Leute mit der Polizei kämpfen, das ist man hier nicht gewohnt. Der Regierungschef Donald Tsang äußert sich am nächsten Tag mit strenger Miene vor der Presse:

"Das Parlament ist eines von Hongkongs politischen Symbolen. Einige Demonstranten haben unverantwortlich versucht, es zu stürmen. Das verletzt Hongkongs Kernwerte. Weder die Regierung noch die Öffentlichkeit werden ein solches Verhalten hinnehmen. Die Demonstranten sollten in sich gehen."

Auch von der chinesischen Regierung kommen warnende Worte. Man mache sich Sorgen um die soziale Stabilität in der Sonderverwaltungsregion, heißt es aus Peking. Verglichen mit den meisten europäischen Jugendprotestbewegungen sind die Hongkonger Post-Achtziger allerdings relativ zahm und gewaltlos. Unter Intellektuellen und auch in der Bevölkerung finden sie Unterstützer, etwa den Sozialwissenschaftler Fernando Cheung:

"Wir haben in dieser Generation viel mehr Aktivismus. Das ist wirklich ermutigend. Ihre Handlungen sind ein Weckruf für die Gesellschaft, die sich fragt: Warum gibt es da plötzlich eine Generation, die sich so sehr um gesellschaftliche Probleme sorgt?! Sie verkörpern eine Haltung der Teilhabe und Einmischung. Das ist wirklich ermutigend."

Eine Haltung, die allerdings ins Leere läuft. Die jungen Menschen leiden unter Hongkongs Grundwiderspruch wie keine andere Generation. Sie wuchsen in einer internationalen, wohlhabenden Metropole auf, genossen eine liberale westliche Erziehung, sind sehr gut ausgebildet. Anders als ihre Altersgenossen in Festlandchina verfügen sie unzensiert über alle Informationen, sind – nicht zuletzt über das Internet – mit der ganzen Welt verknüpft. Man hat ihnen beigebracht, kritisch zu denken.

Doch gleichzeitig ist ihre Meinung nicht gefragt, auch ihre Teilhabe nicht. Das politische System macht neue Mehrheitsverhältnisse de facto unmöglich. Hongkongs Establishment aus Finanz und Kommerz ist eng mit der chinesischen Führung verbandelt. Es regiert die Stadt nach seinen Interessen. Kontroverse Projekte wie der Abriss ganzer Stadtviertel oder eben der Bau der neuen Schnellbahnstrecke werden einfach durchgedrückt. Widerstand zwecklos. Diese Ohnmacht erzeugt Wut bei den Demonstranten vor dem Parlament.

Anonymer Demonstrant: "Es muss sich sehr viel ändern. Aber realistischerweise glaube ich nicht, dass sich viel ändern wird. Es hängt ja alles vom Willen Pekings ab. Aber die Regierung sollte wenigstens zuhören und Sachen nicht einfach aufzwingen. Mehr Kommunikation!"

Die Forderung nach mehr Mitsprache ist alt. Auch die britischen Kolonialherren verweigerten den Hongkongern die Demokratie. Peking hat nun tatsächlich allgemeine Wahlen ab 2017 in Aussicht gestellt. Allein, die protestierenden Jugendlichen in Hongkong glauben diesen Zusagen nicht.
Doch es ist nicht nur das Demokratiedefizit, das sie frustriert auf die Straße treibt. Die Post-Achtziger stehen auch ökonomisch stärker unter Druck als die vorherige Generation.

Der 22-jährige Ng Koon-kwan ist seinen Stapel Flyer mittlerweile los. Auch er macht sich Sorgen um seine Zukunft. Im Sommer ist er mit dem Studium fertig, dann muss er sich eine Arbeit suchen.

Ng Koon-kwan: "Früher, vor der Rückgabe an China, gab es noch viele Chancen. Die Leute konnten leicht einen Job finden und eine Karriere aufbauen. Und von dem Einkommen konnte eine Familie leben. Heute muss man so hart arbeiten und kann trotzdem nicht den Unterhalt für eine Familie verdienen. Das ist ein Problem unseres politischen Systems. Wer arbeitet, bekommt weniger. Die Leute mit der politischen Macht aber werden immer reicher. Das ist unfair."

Die Statistik stützt Ng Koon-kwans Klage. Der sogenannte Gini-Koeffizient zeigt die soziale Ungleichheit einer Gesellschaft an. Je höher er ausfällt, desto ungleicher ist eine Gesellschaft. Mit 0,53 hat Hongkong den höchsten Gini-Wert unter allen entwickelten Ländern. Für einfache Tätigkeiten sind heute Stundenlöhne um die zwei Euro oder gar darunter keine Seltenheit mehr.

Etwa 100.000 Hongkonger leben in zusammengezimmerten Schlafkabinen und Käfigbehausungen. Auch für Hochschulabsolventen sind die Zeiten hart geworden. Viele finden gar keinen Job. Andere arbeiten Vollzeit für 700 Euro im Monat. An die Gründung einer Familie ist da nicht zu denken. Michael DeGolyer, Politologe an der Hongkonger Baptisten-Universität, kann den Frust der Jugend verstehen, sagt er.

Michael DeGolyer: "Es hat eine Verschiebung gegeben. Arm waren früher vor allem ältere Menschen. Jetzt sind immer mehr junge Leute arm. Und sie bleiben arm. Jeder geht davon aus, dass Studenten arm sind. Aber wenn einer Mitte, Ende zwanzig ist und immer noch arm ist, dann ist das ungewöhnlich. Aber genau das sehen wir jetzt auch bei den Leuten auf der Straße. Die Chancengesellschaft bietet ihnen keine Chance."

Somit ist der Post-Achtziger-Protest nicht einfach eine prodemokratische Studentenbewegung, sondern auch ein soziales Aufbegehren

Der Hiphopper MC Yan spaziert durchs Hongkonger Einkaufsviertel Causeway Bay und rappt auf Kantonesisch. Er trägt einen Vollbart und eine Baseballmütze, dazu eine schwarze Hornbrille. Den Text liest der Mittdreißiger aus seinem Notizbuch ab. Die Schaufensterbummler drum herum schauen ihm verwundert nach.

Geh viel shoppen, und Deine Probleme sind vorbei, rappt er. Vergiss nicht, Einkaufen ist die Lösung aller Probleme. Wir shoppen, dann ist alles gut.

MC Yan: "Hongkong ist scheinbar eine freie Gesellschaft. Aber wir merken immer mehr: Hongkong ist nur ein freier Markt. Politisch und in den Köpfen der Menschen gibt es keine Vorstellung von Freiheit. Wir haben gelernt, dass ein freier Markt das Lebensniveau anhebt. Aber keiner fragt, was Freiheit wirklich ist."

Die jungen Protestierer lieben MC Yans Slogans und benutzen sie oft. Der Hiphopper ist ungewöhnlich im turbokapitalistischen Hongkong. Seine Musik stellt er kostenfrei zum Download bereit. Er wohnt sehr einfach und weit draußen, kurz vor der chinesischen Grenze. Geld bedeutet ihm nichts. Konsum hält er nur für ein Mittel, die wirklich wichtigen Lebensfragen und Probleme zu verdrängen.

93 Prozent der Hongkonger geben an, als Freizeitbeschäftigung shoppen zu gehen. Das ist ein weltweiter Spitzenwert. MC Yan wirft seinen Mitbürgern ideologische und kulturelle Leere vor. Die Jugendlichen heute, sagt er, verspüren eine große Sinnkrise. Sie suchen nach einem alternativen Lebensstil.

MC Yan: "Wir fühlen uns gut. Wir entdecken mehr. Indem wir teilen und ein einfaches Leben führen, verstehen wir mehr über das Menschsein. Wenn wir uns nur für den Markt interessieren, dann werden wir verunreinigt und blind."

Es ist ein idealistischer Aufbruch zu spüren in Hongkong. Doch die Post-Achtziger haben es schwerer als vergleichbare Jugendbewegungen in anderen Ländern. Denn Ihren Zielen steht kein Geringerer als die chinesische Regierung im Weg.

Ohne deren Zustimmung wird es nicht mehr Demokratie und damit wohl auch keine Öffnung der Gesellschaft geben in Hongkong. Die Protestbewegung ist den Regierenden in Peking nicht geheuer. Auf dem Festland würden sie Derartiges niemals dulden.

Es ist dunkel geworden vor dem Parlament. Die Stimmung ist aufgeheizt. Mitten in den Demonstrationsreihen steht die 21-jährige Zhao Hongyu. Für sie ist ein Protest wie der gegen die Bahnstrecke etwas ganz Unerhörtes. Sie kommt vom Festland und studiert in Hongkong.

"Das ist ein Kulturschock. Aber das ist etwas Gutes. In Festlandchina folgen selbst Studenten der Partei, der Regierung. Die meisten von ihnen haben nicht die Fähigkeit, kritisch zu denken. Das ist nicht gut für eine gesunde Gesellschaft."

Wenn sie zu Hause von den Demonstrationen in Hongkong erzählt, sagt Zhao Hongyu, glauben ihr viele einfach gar nicht, dass das möglich ist. Ob es solche Bilder wohl auch einmal auf dem Festland geben wird? Zhao Hongyu schüttelt den Kopf.

"Ich glaube, da müssen wir noch lange warten. Wenn so etwas auf dem Festland geschähe, würde die Regierung etwas unternehmen, so wie damals auf dem Tiananmen-Platz im Jahr 1989."