Für eine saubere Umwelt

Von Alexa Hennings |
Eine saubere Umwelt. Die ist hier vieldeutig gemeint, denn es geht um Michael Beleites. Zu DDR-Zeiten präparierte er Schmetterlinge und publizierte Umweltzerstörungen in der Wismut. Nach der Wende kümmerte er sich um die Auflösung der Staatssicherheit in Gera und studierte Öko-Landbau.
Seit 2001 ist Beleites Stasi-Beauftragter in Sachsen und fällt gelegentlich mit Sätzen auf wie: Auch Täter sind Opfer. Damals wie heute für so manchen ein unbequemer Zeitgenosse.

"Vom Hausgiebel, aus den Vorgärten oder hoch vom Baum herab schallen uns die melodischen Flötenstrophen eines unserer bekanntesten Sänger entgegen... Vogelstimme zwitschert... (Zwitschern)"

Beleites: "Und ich erinnere mich noch gut, dass ich, da bin ich sechs oder sieben Jahre alt gewesen, plötzlich zum Fenster gestürmt bin, weil eine Amsel sehr laut sang. Das wusste ich schon, wie 'ne Amsel singt. Aber da hatten meine Eltern heimlich diese Platte aufgelegt und ich kriegte dann erst mit, dass es aus dem Radio kam!""

Schallplatte: "...letzter Pieper.
Das war die Schwarzdrossel, die Amsel."

Beleites: "Aber das hat mich jetzt nicht sonderlich enttäuscht, sondern mich mehr und mehr zu diesen Schallplatten hingeführt."

Drebnitz, Mitte der 60er Jahre. In dem Dorf am Rand der Kohlegruben, in der Nähe von Zeitz, werden in der Pfarrersfamilie Beleites drei Jungen groß. Der mittlere, um den geht es hier. Michael.

Schallplatte: "...letzter Pieper. So pfeift die Singdrossel."

Beleites: "Nach dem Umzug unserer Familie aus dem Mansfelder Land in dieses Zeitz-Weißenfelser Braunkohlegebiet haben meine Eltern so etwas wie ein Defizit an Kultur empfunden. Und sie haben es ganz bewusst versucht das auszugleichen, dass sie uns Kinder mit Natur bekannt machten. Deswegen sind sie mit uns zu Leuten auf den Bauernhof gegangen im Nachbardorf oder haben uns auch Vogelkunde nahegebracht. Und das ist eine Sache, für die ich auch heute noch ausgesprochen dankbar bin."

Schallplatte: "Im Nistkasten am Haus gieren fast flügge Jungvögel, dazwischen vernehmen wir die Warnlaute der Alten... Piepsen..."

Michael ist sieben Jahre alt, als er die Warnungen der Eltern zum ersten Mal negiert. Obwohl sie es nicht wünschen, möchte er Pionier werden. Er hatte am älteren Bruder gesehen, wie allein man sein kann - ohne Pioniertuch. Das wollte Michael nicht. Er wollte dazugehören. Später änderte sich das. Da fühlte er sich stark genug, etwas anderes zu tun als alle anderen.

Schallplatte: "Blaumeisen fütterten ihre Jungen... Piepsen..."

Michael Beleites, Jahrgang 1964, das raspelkurze Haar nur unwesentlich länger als der Bart, der zwischen zwei und drei Tageslängen changiert, lächelt. Er lächelt eher selten.

Kreisdienststelle der Staatssicherheit Hohenmölsen, 1985:

"Im Operativen Vorgang römisch sechs 'Entomologe' wird der Bürger der DDR, Michael Beleites wegen Verdachts intensiver Aktivitäten in der sogenannten Friedens-, Ökologie- und Umweltschutzbewegung mit der Zielstellung des Unterlaufens staatlicher Maßnahmen, verbunden mit der Nachweisführung, daß auf diesen Gebieten – besonders Umweltschutz - in der DDR zu wenig getan wird, operativ bearbeitet."

Beleites: "Bäume habe ich gepflanzt. Und in meinem Heimatdorf in Drebnitz freue ich mich jedes Mal, wenn ich die Bäume sehe, die ich damals gepflanzt habe. Damals hat man nicht danach gefragt, wem das Land gehört und wem der Straßenrand gehört. Sondern man hat einfach den Spaten genommen und Bäume gepflanzt und war froh, wenn sie stehen blieben. Und sie sind stehen geblieben."

"Der B. entstammt einer Pfarrersfamilie. Auf Grund pluralistischer Tendenzen in der elterlichen Erziehung entwickelte er frühzeitig negativ-feindliche Ansichten zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR."

Beleites: "Da waren drei Brikettfabriken, ein Kohlekraftwerk und eine Kohleschwelerei. Alles auf dem technischen Stand der vorigen Jahrhundertwende. Und es waren Tagebaurestlöcher, die mit Ascheschlamm oder Phenolabwässern zugespült waren, die richtige Giftseen waren. Und in diesem Kontrast – also Naturwahrnehmung in einem ökologischen Katastrophengebiet - bin ich aufgewachsen."

"Sein Interesse galt von Kindesbeinen an der Natur und Umwelt. Charakterlich ist der B. sehr willensstark, dabei jedoch eigensinnig und im gewissen Rahmen sporadisch und unberechenbar."

Beleites: "In Drebnitz war direkt 20 Meter hinter der Kirche ein steiler Abhang, das war der frühere Tagebau. Und da liefen Rohrleitungen entlang und da wurden Ascheschlämme aus den Braunkohlekraftwerken hineingespült. Und da gab es anfangs auch noch Gärten am Rand des Tagebaurestloches mit Obstbäumen und so, und das wurde dann immer mehr zugespült. So dass wir sahen, dass die Bäume nicht nur abgestorben sind, sondern mehr und mehr in diesem Schlamm versunken sind. Und das war nicht irgendwo weit weg, sondern das war 20 Meter hinter der Kirche von Drebnitz. Und das ist ganz komisch, wenn man das als Jugendlicher erlebt und da hineinwächst, ist es erst einmal wie normal, weil man was anderes nicht kennt. Aber in dem Moment, wo man dann rauskommt und mecklenburgische Dörfer kennenlernt, merkt man, wie unnormal das eigentlich ist, und dass es absurd ist."

Mit 14 Jahren fährt Michael Beleites zum ersten Mal nach Mecklenburg. Dort hatten junge Leute aus Kirchenkreisen begonnen, massenhaft Bäume zu pflanzen. Zehntausende kleine Zeichen der Hoffnung. Bis zu 300 Jugendliche aus der ganzen DDR trafen sich zu diesen Aktionen, die später als Beginn der Umweltbewegung in der DDR galten. Im Winter traf man sich in Schwerin zu ökologischen Seminaren. Jörn Mothes, einer der Initiatoren der Baumpflanzaktion, erinnert sich.

"Schon beim ersten Winterseminar wurde uns vom Jugendkonvent in Sachsen-Anhalt ein junger Mann geschickt, der war 14 Jahre alt, ein brillanter Ornithologe, ein strategischer Denker, wie man sich das gar nicht vorstellen kann in dem Alter. Das war Michael Beleites."

Michael Beleites wollte Biologe werden. Das war sein großer Traum. Doch er durfte kein Abitur machen und nicht studieren. So wurde er zoologischer Präparator am Naturkundemuseum in Gera, fing Schmetterlinge und präparierte sie, stopfte Heidelerchen aus und Adler, Rebhühner und Feldhamster, Steinkäuze und Hasen. All das, was es immer weniger gab in der Welt, in der er lebte und an der er litt.

Beleites: "All diese Arten, die ja auch irgendwo einen kulturellen Wert haben, ob es Hasen gibt oder nicht, das hat ja auch einen kulturellen Wert. Und diese die dörfliche Landschaft prägenden Arten, die waren Ende der 70er-Jahre alle weg. Es gab keinen Hasen mehr, keinen Hamster mehr, kein Rebhuhn mehr und keinen Steinkauz mehr. Und das habe ich als einen schmerzlichen Verlust empfunden, und ich wusste sehr wohl, dass das nicht an den chemischen Abwässern und an der Luftverunreinigung liegt, sondern dass es allein an der Konzentration und Chemisierung, also an der Entbäuerlichung der Landwirtschaft liegt."

Als der junge Präparator einmal die mineralogische Sammlung des Naturkundemuseums in Gera abstauben sollte, sah er das erste Mal ein Stück Gestein, das später für einige Jahre zu seinem Lebensthema werden sollte.

Es war glänzend und pechschwarz: Pechblende. Dass es strahlte und dass es sich viele Bergleute einfach so als Schmuck in die Schrankwand stellten, erfuhr Michael Beleites erst, als er sich auf eigene Faust auf die Spur der Pechblende begab: Jenes uranhaltigen Gesteins, das die Wismut-Kumpel aus der Erde holten.

Beleites: "Währenddessen eben andere Espenhain oder Bitterfeld vor der Haustür hatten, hatte ich eben von Gera aus die Wismut vor der Haustür. Und da habe ich mir gesagt: Okay, dann ist das mein Thema. Aber es war nicht so, dass ich irgendeine Veranlassung hatte für ein Interesse, in diesem Uranschlamm rumzustochern. Das hatte ich nicht."

Auf Betreiben der Staatsicherheit verlor Michael Beleites Mitte der 80er-Jahre seine Arbeit als Präparator, durfte nicht mehr in sozialistische Länder reisen und es war ihm verboten, Berlin zu betreten.

Beleites: "Und nun kam Anfang 1986 diese Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Und da dachte ich: Na ja, wenn das jetzt durch diese radioaktiven Substanzen, die mit dem Wind oder dem Regen aus Tschernobyl kommen. eine Rolle spielt, dann spielt das im Zusammenhang mit dem Uranbergbau sicher schon lange eine Rolle."

Michael Beleites, damals 22 Jahre alt, vertraute sich seinem älteren Freund in der Umweltbewegung an: dem Physiker Sebastian Pflugbeil, der ihm später auch beim Drucken und Binden der fertigen Dokumentation unterstützte und seine Wohnung dafür zur Verfügung stellte.

Beleites: "Und da hat er gesagt: Mach das, und wo irgend möglich, unterstütze ich dich dabei. Währenddessen alle anderen, mit denen ich das vorsichtig angesprochen hatte, gesagt hatten: Um Gottes Willen, heißes Eisen, bloß die Finger davon lassen. Und das macht nur Ärger! Hat ja auch Ärger gemacht, das wusste ich, das war absehbar. Aber aus meiner Sicht war das die Sache auch wert. Und mit der Unterstützung von Sebastian Pflugbeil war mir auch klar, dass ich, wenn es hart wird, nicht allein stehen werde. Und das war das Entscheidende dabei."

Und noch etwas bewegte den jungen Beleites, ihn als Christen, als Pfarrerssohn. Schon als 19-Jähriger, in Zeiten der Pershing- und SS-20-Stationierung in West und Ost hatte er einen Brief an die Synode geschrieben. Er stellte in dem Brief eine Frage an die Kirchenoberen.

Beleites: "Inwieweit ist denn die Gewinnung von Uran, an der ja auch viele Gemeindeglieder der christlichen Kirchen beteiligt waren als Arbeiter der Wismut, inwieweit ist diese Gewinnung von Uran in einer Situation, wo jeder weiß, es wird auch für militärische Zwecke eingesetzt, nicht als so was zu werten wie Beteiligung an der Herstellung von Massenvernichtungswaffen?"

Zwei Jahre, 1986/87, recherchiert Michael Beleites, der Einzelkämpfer, im Wismut-Bereich.

Das Wort Uran wird kaum ausgesprochen, ein großes Tabu liegt über allem. Uran wird zu militärischen Zwecken gebraucht, für sowjetische Atomraketen. Es gilt: höchste Geheimhaltung.

Beleites spricht mit Anwohnern und ehemaligen Bergarbeitern. Doch die Informationen sind gering. Überall trifft er auf eisiges Schweigen. Die Kumpel haben Angst. Es ist ihnen verboten worden, etwas über ihren Betrieb zu erzählen. Und die Privilegien ersticken ein Nachdenken über den Raubbau an Gesundheit und Natur: Wismut-Bergleute bekommen mehr Urlaub, mehr Ferienplätze, mehr Alkohol und bessere Lebensmittel.

Michael Beleites macht auf eigene Faust seine Messungen zur Radioaktivität an Gebäuden, in Gärten, auf Feldern, in Gewässern, auf Halden, forscht in internationaler Literatur zu den Zusammenhängen von Uranbergbau, Umweltbelastungen und Krankheiten. Eines Tages trifft er einen Mitarbeiter der radiologischen Gewässerüberwachung in Gera.

Beleites: "Und das war so geheim – der saß hinter einer Tür, die keine Türklinke außen hatte, sondern nur eine Klingel. Und der saß hinter vergitterten Fenstern und war offenbar dort so vereinsamt, dass er zum ersten Mal erlebt hatte, dass sich jemand für seine Arbeiten interessiert. Und dann lehnt der sich zurück und sagt: Die Problematik ist folgendermaßen …. Und hat zwei Stunden ohne Punkt und Komma erzählt! Und am Ende war das so, dass er mir sogar die Akten auf den Tisch gelegt hat, wo die Uranmesswerte der Weißen Elster drin waren. Ich konnte das dann alles bei meiner Studie "Pechblende" nicht verwenden, ohne ihn zu gefährden, und habe auf die Zahlen verzichtet. Aber ich wusste, wo die Schwachpunkte sind und in welchem Umfang die radioaktive Umweltbelastung hier stattfindet."

Für zwei Wochen leiht sich Michael Beleites von einem Freund eine Videokamera aus und macht Aufnahmen. Zeigt, wie am Bahnhof Gera die Wismut Arbeiter die Züge Richtung Uran-Bergwerk besteigen, dokumentiert uranhaltige Halden, Wassereinleitungen, Schlammberge. Freunde schmuggeln das Filmmaterial nach Westberlin. Es entsteht in der ARD eine Dokumentation, die in der Sendung "Kontraste" veröffentlicht wird. Die ersten Bilder von einer unwahrscheinlichen Umweltzerstörung in der Wismut-Region werden gezeigt.

"...Sperrschilder warnen vor dem Fotografieren, aber nicht vor den toxischen und radioaktiven Gefahren der Deponien...."

Die "Pechblende" wurde dann mit Hilfe des Kirchlichen Forschungsheims Wittenberg herausgegeben und zeitgleich in Ost und auch in West verteilt. So erfuhr der Staatssicherheitsdienst aus der "Frankfurter Rundschau" von Beleites Dokumentation. Die Veröffentlichungen in der Westpresse wiederum schützten den jungen Umweltaktivisten, denn die Mächtigen wussten, wenn sie ihn verhaften, würde alles wenige Stunden später in den Medien der Bundesrepublik veröffentlicht.

Beleites: "Und dann war für mich damals auch so eine Motivation, dass ich dachte: Die, die studieren durften, die haben dann irgendwann ihre Diplomarbeiten geschrieben. Und ich dachte: Na ja, irgendwie hat das ja auch seinen Reiz, mal ein Manuskript zu schreiben oder zu zeigen, dass man auch wissenschaftlich arbeiten kann! Dass es dann auch diese politische Wirkung hatte, war eine andere Sache. Aber für mich selber war es auch so eine Art außeruniversitäres Diplom."

Dresden im Frühling. Die Vögel auf dem Grundstück Unterer Kreuzweg 1 zwitschern aufgeregt in den ersten warmen Sonnenstrahlen. Michael Beleites könnte sicher jeden einzelnen Vogel identifizieren. Hier ist seine Arbeitsstelle, jetzt, im Jahre 20 nach der Wende. Seit neun Jahren ist er Leiter der Behörde mit dem Bandwurmnamen: Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Mit seinem Freund Jörn Mothes hatte er 1989/90 in Gera die Stasi aufgelöst. Sprach mit den Stasi-Offizieren, die für den "Operativen Vorgang Entomologe" verantwortlich waren. Und bekam von einigen sogar eine Entschuldigung für das, was sie ihm angetan hatten.

Beleites: "Es ist nie mein Ziel gewesen, dass die Stasi zu meinem Lebensthema wird. Insoweit sind da immer zwei Seelen in meiner Brust, weil ich’s auf der einen Seite sehr wichtig finde und auch engagiert betreibe, auf der anderen Seite denke: Das ist ein Thema, was eigentlich nicht aus mir selber heraus erwachsen ist. Es geht auch darum, ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass eine Geschichtsaufarbeitung nicht in der Sortierung von Menschen besteht. Die guten in das eine Töpfchen, die bösen in das andere Töpfchen."

"Das Leben in der Lüge ist die Grundstütze des Systems - und deshalb ist das Leben in der Wahrheit die Grundbedrohung des Systems und wird von diesem mehr als alles andere bekämpft."

Beleites: "Dieser Satz von Vaclav Havel hat mich damals sehr bewegt. Und deswegen war für mich auch relativ klar, dass ich mich nicht allzuweit verbiegen werde. Aber das Leben in der Lüge war natürlich immer auch verknüpft mit einer permanenten, subtilen Nötigung in die Anpassung hinein. Für mich muss ich sagen, dass ich ja außer einer möglichen Inhaftierung ja eigentlich alles, was man verlieren konnte, schon verloren hatte. Ich durfte nirgendwo mehr hin aus dem Land, ich hatte beruflich keinerlei Chancen – und da hat man alles verloren, womit der Staat sonst drohen konnte. Deswegen muss ich auch sagen, je beschnittener und je geringer die äußere Freiheit war, desto größer wurde die innere Freiheit."

Michael Beleites schrieb eine Arbeit über die Begründer von Deutschlands berühmtesten Vogelwarten, die allesamt aus seiner Heimat um Zeitz stammten. Geht mit seiner Familie, die auf einem Hof mit Hühnern und Gänsen bei Dresden lebt, viel in die Natur. Macht mit den Dorfbewohnern früh um fünf Uhr Vogelwanderungen. Und hat sie immer noch alle zu Hause, die alten Vogelschallplatten, mit denen seine Liebe zur Natur begann.

"...Piepsen...
Der Hausrotschwanz sang sein einfaches Lied.
… Piepsen …"