Für ein kosmopolitisches Europa

Rezensiert von Jochen R. Klicker |
Der Chefkorrespondent der Wochenzeitung "Die Zeit", Gunter Hofmann, hat ein engagiertes Buch geschrieben. Er beschreibt Europa als Projekt der Moderne. Für seine Durchsetzung setzt er auf die Entwicklung eines kosmopolitischen Europas. Ein derart spannendes Buch war angesichts der europäischen Depressionen nicht zu erwarten.
Das Programm für sein Europabuch hat Gunter Hofmann in den ersten Satz seiner "Familienbande" gefasst:

" Das Problem Europas ist nicht, dass es sich am Ende, sondern an einem neuen Anfang befindet. Bloß haben wir Europäer das spät gemerkt oder lange verdrängt. "

Am Ende sind die vielfältigen Versuche der europäischen Eliten, ihren Völkern die Idee einer verbindenden und verbindlichen europäischen Werte-Gemeinschaft "beizubringen". Am Ende sind die Versuche, auf dem Umweg von Referenden über eine europäische Verfassung diesen Eliten im Nachhinein Legitimation für ihr Vorgehen zu verleihen. Am Ende ist damit offenbar das Demokratiedefizit, mit dem Brüssel auf Grund der dominierenden Profitinteressen der Gemeinschaft sehr gut leben konnte.

Gunter Hofmann: " Politik braucht aber Legitimation. Die Kompromisse, die in Brüssel mühsam ausgehandelt werden, dürfen in den Nationalparlamenten nicht mehr in Frage gestellt werden, da sonst das ganze EU-Gebäude ins Wanken zu kommen droht. Auf diese Weise fehlt aber gerade diese Legitimation zunehmend, während die Europäische Union wuchs und Europa verschmolzen werden sollte. "

In seinen knappen sieben Kapiteln handelt Hofmanns Buch vom langen Marsch zur eigenen unverwechselbaren europäischen Identität: Europa als Projekt der Moderne. Wohlgemerkt als Projekt und nicht länger lediglich als kulturelle Idee, als profitabler Markt, als politische Utopie. Hofmann mahnt die "wahre Verfassung" dafür an: Transparenz der politischen Willensbildung, Kompetenz des europäischen Parlamentes und transnationale Legitimität der Brüsseler "Regierung". Und für die Durchsetzung dieses Projektes setzt er auf die Entwicklung eines "kosmopolitischen Europa", das unseren verstockten Provinzialismus endlich ersetzt.

Und genau das will das Buch – und schafft es auch: Zu zeigen, dass fortan die Vertreter der "unglücklichen Gesellschaften" mit den Vertretern der "glücklichen Gesellschaften" an ein und demselben europäischen Tisch sitzen und sich auf dem gemeinsamen kosmopolitischen Weg "nach Westen" zusammenraufen müssen und werden.

Dazu Gunter Hofmann selbst: " Europa ist ein Projekt durch Fakten. Meine Ansicht ist, dass 1989 praktisch Europa neben der EU neu geschaffen worden. Und jetzt verlangt es nach politischen Ausdrucksformen. Also die Fakten wurden geschaffen. Dann wurde seinerzeit – 2000 in Nizza – die Erweiterung beschlossen. Und jetzt muss politisch daraus etwas gestaltet werden. Jetzt sitzen 25 an einem Tisch und müssen sich zusammenstreiten. Also es ist nicht ein Projekt im Sinne eines großen Entwurfes, aber ein Projekt, was alltäglich geschaffen werden muss und was die Grenzen der EU völlig sprengt. "

Weshalb Hofmann auch ständig von europäischer "Weiterentwicklung" spricht und nur gelegentlich von der "Erweiterung" der Europäischen Union. Die Themen, die zum Beispiel in den Gesprächen mit der Türkei wichtig werden sollten, heißen: Warum ein aufgeklärter Islam selbstverständlich nach Europa gehört – und warum der Fundamentalismus eher nicht. Oder warum die europäischen Staaten und Gesellschaften neu begreifen müssen, dass der sogenannte "Westen", also das Abendland, der Okzident, die Moderne geschaffen, geprägt und programmiert hat; was bedeutet, dass die europäische "Weiterentwicklung" sich in Richtung Westen bewegen wird. Was Hofmann in dem für mich wichtigsten Kapitel beschreibt: "Die Rückkehr Polens" – gemeint ist: nach Kern-Europa, in die Nähe zu Deutschland und damit in den Westen.

" Das setzt allerdings auch auf polnischer Seite einen enormen Schritt voraus: Eine Politisierung seines Verhältnisses zu Europa an Stelle der Fixierung auf nationale Souveränitätsfragen oder ein elementares Vertrauen darauf, dass uns "die jeweils anderen im Konfliktfall nicht über den Tisch ziehen. "

Natürlich ist die Probe aufs europäische Exempel die Aufnahme der Türkei in diesen gemeinsamen Entwicklungsprozess. Nachdrücklich erinnert Gunter Hofmann daran, dass sich die Türkei seit ihrer Gründung durch Kemal Atatürk zum Westen zählt.

" Die Türkei ist vor allem der Testfall für ein multiethnisches, multikulturelles, multireligiöses Europa generell. Getestet wird Europas Pluralität und seine Durchlässigkeit, die Multikulturalität selbst wird zum Politikum. Getestet wird allerdings auch, ob Europa willens ist, seine Regeln konsequent durchzusetzen: Vor allem den "Wert" der Rechtsstaatlichkeit, der von keiner Religion relativiert oder gar eskamotiert werden darf. "

Ein derart spannendes und informatives Buch war angesichts der derzeitigen europäischen Depressionen nicht zu erwarten. Umso schöner ist es jetzt, sich von Gunter Hofmann mitnehmen zu lassen in diesen Prozess der Politisierung Europas, von dem er klug, engagiert und vor allem hoffnungsvoll berichtet. Jeder, der verstehen will, ob und wie er "Europäer" ist, sollte dieses Buch lesen. Denn es wird unser aller Auseinandersetzung mit unseren eigenen europäischen Defiziten in den kommenden Monaten bestimmen.

Gunter Hofmann: Familienbande. Die Politisierung Europas. Verlag Antje Kunstmann München 2005. 268 Seiten, 19.90 €